November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Rehburg-Loccum

Vorgeschichte

Der älteste Nachweis jüdischen Lebens in Rehburg ist ein Schutzbrief für Matthias Salomon, ausgestellt im Jahr 1707. Die Existenz einer jüdischen Gemeinde in der kleinen, sehr ländlich geprägten Stadt, lässt sich ab 1802 nachweisen – anhand eines „Kassabuches“ aus der Gemeinde. Im Jahr 1835 erwarb die Gemeinde im Zentrum des Ortes ein Gebäude, in dem sie eine Synagoge einrichtete. Das älteste Grab auf dem jüdischen Friedhof stammt von 1848.

Dennoch war es immer eine kleine Gemeinde, die aber um 1850 mit 70 Mitgliedern immerhin fünf Prozent der Bevölkerung ausmachte. Mitten im Ort lebten die jüdischen Mitbürger und trieben Handel nicht nur mit den Rehburgern, sondern auch mit dem Kloster Loccum. Sie waren Nachbarn – anerkannt im Leben der Stadt. Als 1934 ein Brand in der Synagoge ausbrach und die Gemeinde einen Bauantrag für den Wiederaufbau stellte, bekam sie diesen zugesprochen.

Zeitung Presse

Über ein Feuer in der Rehburger Synagoge erschien in der Tageszeitung „Die Harke“ am 22. Mai 1934 eine Notiz. Archiv „Die Harke“

Wenige Jahre später hatte sich die Stimmung in der Bevölkerung jedoch so weit gewandelt, dass aus Rehburg und den umliegenden Ortschaften die Menschen zur Synagoge zogen, um die Juden aus Rehburg zu vertreiben.

Grab

35 Gräber sind auf dem jüdischen Friedhof in Rehburg noch zu erkennen, 2014. Foto: Beate Ney-Janßen

Die Ereignisse im November 1938

 „Als am Morgen des 9. November 1938 die Kinder zur Schule kamen, direkt neben der Kirche hier, wo heute das Altenheim ist, da liefen die Lehrer schon in braunen Uniformen und SA-Stiefeln über den Schulhof. Und ein Lehrer hat damals den Kindern gesagt: ‚Kinder‘, hat er gesagt, ‚Ihr habt heute frei!‘. Da haben die Kinder gefragt, warum sie frei haben. Und da hat der Lehrer gesagt: ‚Wir müssen die Juden in Rehburg verjagen.‘“

So hat sich Wolfram Braselmann, Pastor in Münchehagen, von Gemeindemitgliedern die Vorgänge der Pogromnacht erzählen lassen. Und so hat er es in einer Predigt zum 70. Jahrestag jener Nacht erzählt.

Nach dem, was Wolfram Braselmann berichtete, begann die Pogromnacht in unserer Stadt mit einem kleinen Beispiel von Zivilcourage:

„Der Lehrer hat also gesagt: ‚Wir müssen die Juden in Rehburg verjagen!‘, und da haben die Kinder von den Juden erzählt, die sie kannten, die damals manchmal als Hausierer über die Rehburger Berge nach Münchehagen kamen. Und ein Mädchen hat gesagt: ‚Zu uns kommt immer ein Jude, der Leder verkauft.‘ Da hat der Lehrer das Mädchen gefragt: ‚Wie heißt der Jude?‘ Und da hat das Mädchen gesagt: ‚Das sag ich Ihnen nicht.‘“

Der Loccumer Konrad Droste schreibt in seinem Buch „Loccum – Ein Dorf – Das Kloster – der Wald“: „Es gibt Aussagen von ehemaligen SA-Männern, dass auch Mitglieder von NS-Einheiten aus Loccum und Münchehagen im Laufe des 10. November 1938 mit Fahrrädern und in Uniform nach Rehburg fuhren, um die ‚Auswirkungen des echten Volkszorns‘ kennen zu lernen.“

Ein Rehburger, Jahrgang 1929, erinnert sich, dass die SA-Kolonne zunächst bis zum Haus der Familie Löwenberg marschierte und rief: „Wir fordern Vergeltung für Ernst vom Rath!“ An das Haus schrieben sie: „Die Juden stinken von weither, jagt sie ins Tote Meer. Die Juden jagt nach Kanaan hin, weil wir sie hier nicht brauchen können.“ Danach nahmen sie Julius Löwenberg mit.

Ausstellung Plakat

Überlieferte Szene aus der Pogromnacht in Rehburg. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms, 2014

Anschließend sei die Kolonne zum Haus von Jakob Löwenstein marschiert. „Der hatte seine Pistole ins Plumpsklo geworfen. Die musste er wieder herausholen.“ Jakob Löwenstein und sein Schwiegersohn Alfred Birkenruth seien ebenso mitgenommen worden.

Alle männlichen Juden hätten die SA-Männer zum Spritzenhaus am Rehburger Marktplatz mitgenommen und dort eingesperrt.

„Dann haben sie eine schwarze Puppe gemacht wie einen Rabbi und haben der die Rollen [die Tora] unter den Arm gebunden und auf den Haufen auf dem Marktplatz gestellt und angesteckt. Dann wurden die Männer dazu geholt.“

Eine Rehburgerin, Jahrgang 1930, erzählt:
„Meine Freundin und ich kamen aus der Schule und sahen schon an der Meerbachbrücke, dass dort an der Synagoge viele Menschen standen und überall Scherben lagen. Sachen waren nach draußen geschmissen worden. Meine Freundin rief: ‚Oh, unser Haus brennt!‘ Sie wohnte doch in einer der Wohnungen der Synagoge. Rauch war nicht zu sehen, aber die Scherben und die Menschen – da dachte sie, dass es brennt.“

Ein Rehburger, Jahrgang 1929, kam am Tag nach der Pogromnacht gemeinsam mit seinem Vater, der Tischler war, in die Synagoge: „Mit meinen Vater bin ich nach der Reichskristallnacht in die Synagoge gegangen. Der hat geschimpft, weil die SA-Leute die ganze Ostwand aufgerissen haben. Wir haben auf der Empore gestanden. In der Wand war ein großes Buntglasfenster, ein David-Stern oder so.“

In der Rehburger Schulchronik steht:

„10. 9. 1938: Kampf dem Weltjudentum.
(Verbrecherischer Mord in Paris an dem deutschen Gesandtschaftsrat v. Rath).
Hier sind noch 5 jüdische Familien wohnhaft, während eine im Laufe des Sommers auswanderte, alle fleißig und harmlos.
Die SA durchsuchte die Wohnungen am 10. 9.38 vormittags. Man fand nichts Bedeutendes. Die Synagoge hier wurde ausgeräumt (zerschlagen), das Gerümpel auf dem Marktplatz verbrannt.“

In der Chronik ist tatsächlich der 10. September als Tag der Pogromnacht verzeichnet. Der Schreiber muss sich in diesem Fall im Datum getäuscht haben.

Überlieferte Szene aus der Pogromnacht in Rehburg. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms, 2014

Folgen

Kurz nach der Pogromnacht wurden die im Spritzenhaus festgehaltenen Juden – Jakob Löwenstein, Julius Löwenberg, Alfred Birkenruth, Max Goldschmidt und Hermann Levy – in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert.

Jakob Löwenstein starb dort am 26. November 1938. Alle anderen kamen zurück. Julius Löwenberg hat nach seiner Heimkehr gesagt: „Den Jakob, den haben sie tot geschlagen.“

Von dem Klima der Angst, das in den jüdischen Familien Rehburgs und Bad Rehburgs nach der Pogromnacht geherrscht haben muss, haben wurde in den Jahrzehnten nach dem Krieg nichts erzählt. Wie überall in Deutschland, durften die jüdischen Kinder wenige Tage nach dem Pogrom nicht mehr die Schulen in ihren Orten besuchen. Betroffen davon waren die Kinder der Bad Rehburger Familie Freundlich und der Rehburger Junge Walter Birkenruth.

In der Rehburger Schulchronik ist der Schulabgang von Walter Birkenruth ordentlich mit Datum vom 10. November 1938 verzeichnet – in der Begründung steht lapidar „Jude…“.

Nicht zuletzt die Ereignisse der Pogromnacht mögen für Familie Freundlich der Grund gewesen sein, ihre 13-jährige Tochter Paula mit einem Kindertransport nach England zu schicken. Alle anderen Versuche jüdischer Eltern, ebenfalls Plätze für ihre Kinder in den Kindertransporten zu bekommen, schlugen fehl.

Nur wenigen der Juden gelang die Flucht. Der überwiegende Teil wurde wenige Jahre später deportiert und ermordet.

Der jüdische Friedhof in Rehburg wurde im Januar 1939 geschlossen. Der letzte Vorsteher der jüdischen Gemeinde Rehburg verkaufte im April 1939 das Synagogengebäude, weil die Gemeinde finanziell nicht in der Lage war, die in der Pogromnacht angerichteten Verwüstungen zu beseitigen.

Auszug Buch der Schulabgänger Rehburgs: Walter Birkenruth wird 1938 der Schulbesuch mit der Begründung „jüdisch“ verwehrt. Bürger- und Heimatverein Rehburg

Biografie - Jakob Löwenstein

Jakob Löwenstein wurde am 29. August 1859 in Rehburg geboren und lebte dort 79 Jahre lang – bis er gemeinsam mit vier weiteren Männern der jüdischen Gemeinde Rehburg nach der Pogromnacht nach Buchenwald deportiert wurde.

Während die anderen Männer aus dem Konzentrationslager zurückkehrten, war Jakob Löwenstein der erste Rehburger Jude, der dem NS-Regime zum Opfer fiel.

Über die Umstände seines Todes wissen wir nichts, abgesehen von einer Erinnerung des Rehburgers Heinrich Brunschön. Er erzählte, dass Julius Löwenberg, der ebenfalls nach der Pogromnacht nach Buchenwald gebracht wurde, später sagte: „Der Jakob, der wurde totgeschlagen.“

Was von Jakob Löwenstein aus Buchenwald zurückkam, war lediglich eine Uhr samt einem Schreiben des Leiters der Lagerverwaltung an die Ortspolizeibehörde Bad Rehburg mit der Anweisung, die Uhr den Angehörigen auszuhändigen.

Aus dem KZ Buchenwald ist Jakob Löwensteins Uhr mitsamt diesem Schreiben nach Rehburg geschickt worden, 1939. Bürger- und Heimatverein Rehburg

Die Familie Löwenstein war alteingesessen in Rehburg und Jakob hoch angesehen. Wie angesehen er war, zeigt ein überliefertes Gedicht, das der Bürgermeister Rehburgs, Ernst Meßwarb (1912 bis 1938), auf ihn schrieb:

Aus alten Zeiten

Schlomchen Löwenstein
Hoch klingt mein Lied drum stimmt mit ein
Ihr sollt den Held bald raten,
Euch allen ist bekannt der Mann
Sein Weg und seine Taten.
Hoch klingt mein Lied und stimmts mit ein
Der Held ist Schlomchen Löwenstein.

Viele Wege gehen ums Erdenrund,
Doch Schlomchen hat nur einen!
Bald früh – bald spät – zu jeder Stund´
Sucht Schlomchen nur den Seinen.
Von Rehburg hin, von Loccum her
Stets unermüdlich wandert er.

Ein Schiff der Wüste seht ihr hier
Gedrückt von schweren Lasten,
Fast täglich seine Straße ziehn
Doch niemals ruhn und rasten
Hält andere Hitz und Frost zu Haus
Mein Schlomchen wandert doch hinaus.

[…]

Aus Judenstamm, wie jeder schwört,
Unzweifelhaft entsprossen,
Bleibt im Gesetz, obgleich beschwert –
Doch immer unverdrossen.
Um jedem der’s nur ehrlich meint,
Bleibt Schlomchen ein treuer Freund.

In Rehburg soll so lang dies Lied, –
In „Loccum“ auch erschallen.
Wo Eichen grünen, Heide blüht, –
Dies Lied darf nie verhallen.
Drum stimmet alle froh mit ein,
Des Liedes Held bleibt Löwenstein.

Gewidmet dem Jacob Löwenstein

Die Uhr von Jakob Löwenstein, die seiner Familie aus Buchenwald zurückgeschickt wurde, befindet sich heute im Besitz seines Urenkels. Foto: Beate Ney-Janßen, 2014

Biografie - Paula Freundlich

Paula Freundlich wurde am 4. November 1925 in Bad Rehburg als Tochter des jüdischen Ehepaars Else und Siegmund Freundlich geboren. Sie war das zweite Kind der achtköpfigen Familie.

Die Entscheidung von Siegmund und Else Freundlich, einen Rettungsversuch für ihre Kinder zu starten, muss in den Tagen nach der Pogromnacht gefallen sein. Rettung versprachen damals die sogenannten Kindertransporte. Einflussreiche Juden in Großbritannien hatten bei ihrer Regierung darum gebeten, dass Juden aus Deutschland aufgenommen werden dürften.

Die Regierung willigte ein, 10.000 jüdische Kinder einreisen zu lassen. Die Flut der Anträge war wesentlich größer als das Kontingent, so dass es ein Auswahlverfahren gab. Aus der Familie Freundlich bekam lediglich Paula die Zusage.

Paula erinnert sich daran, wie ihre Eltern sie nach Hannover brachten – im Januar 1939. Auf den Bahnsteig durften die Eltern sie nicht begleiten. Abschiedsszenen sollten so vermieden werden. Paula hat ihre Eltern und Geschwister nie wiedergesehen.

Den Abschied der 13-jährigen Paula stellt eine Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“ dar. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms, 2014

Nur wenig durften die Kinder mitnehmen: einen Koffer, etwas Kleidung – keine Spielsachen und lediglich eine einzige Fotografie. Mit diesem wenigen ausgestattet saß Paula in dem Zug und fuhr einer ungewissen Zukunft entgegen. Zunächst fuhr der Zug in Richtung Niederlande. Ihre Erinnerungen hat Paula aufgeschrieben:

„Die Mädchen fuhren in einem Wagen und die Jungen in einem anderen sehr kalten Wagen. Die Juden durften keine Heizung haben. Für uns Mädchen war es nicht ganz so schlimm. Unser Wagen hatte noch ein wenig Wärme. Als wir in Holland angekommen sind, war alles anders. Es gab viele Leute an den Bahnhöfen, wenn der Zug ankam. Sie wollten uns alle begrüßen und haben uns Süßigkeiten geschenkt und auch Postkarten, so dass wir an unsere Eltern schreiben konnten. Das war alles so fremd für uns: Dass auch gute Menschen in der Welt sind, vor denen wir keine Angst haben müssen.
Dann sind wir mit dem Schiff nach Harwich in England gebracht worden, wo ich für eine kurze Zeit mit anderen Flüchtlingen in einem Camp wohnte. Danach wurde ich nach Coventry zu einer Familie gebracht.“

Von einer Nachricht mit 25 Worten erzählt Paula. Ein Telegramm, abgeschickt im März 1942. Paulas Vater schrieb ihr darin, dass die Familie auf dem Weg nach Polen sei.

Paula schreibt dazu: „Nachdem das Telegramm von meinem Vater ankam, wollte ich kein Deutsch lesen oder sprechen und wollte nur alles, was Deutsch war, vergessen.“

Am 28. März 1942 war die Familie Freundlich aus Bad Rehburg abgeholt worden, zum „Arbeitseinsatz in Polen“. Sechs Tage später begann für sie die Reise in das Ghetto Warschau. Rund drei Monate später begann die SS mit der Räumung dieses Ghettos und dem Transport der Menschen, die in ihm lebten, in das Vernichtungslager Treblinka II. Wahrscheinlich wurden Else, Siegmund und die fünf Kinder dort sofort nach dem Eintreffen in einer Gaskammer ermordet.

Paula heiratete in England und bekam vier Kinder. Ihre Kinder und Enkel sind gemeinsam mit Paula zur Verlegung von Stolpersteinen für ihre Familie und sie am 4. Oktober 2014 nach Bad Rehburg gekommen.

Paß

1939 ist der Ausweis für Paula Freundlich ausgestellt worden – damit sie einen Platz in einem Kindertransport annehmen konnte. Privatbesitz Paula Calder, geborene Freundlich

Biografie - Walter Birkenruth

Walter Birkenruth wurde am 21. Oktober 1929 als Kind von Alfred und Erna Birkenruth in Rehburg geboren. Die Familie, zu der noch sein sechs Jahre älterer Bruder Hans Siegfried gehörte, lebte bei den Großeltern Jakob und Jeanette Löwenstein.

Walter wurde mit seiner Familie am 31. März 1942 ins Ghetto von Warschau deportiert, wo er ermordet wurde. Sein Todestag ist unbekannt – wie auch die Todestage seiner Eltern und seines Bruders.

Walters Vater und sein Großvater wurden nach der Pogromnacht nach Buchenwald deportiert und nur sein Vater kam von dort zurück – sein Großvater wurde im KZ Buchenwald erschlagen.

Die Pogromnacht hatte für Walter aber noch andere Folgen: Kurz danach durfte er die Schule in Rehburg nicht mehr besuchen. In der Rehburger Schule existiert noch ein Buch mit dem Verzeichnis der Schulabgänger aus jener Zeit. Hinter Walters Namen steht der Vermerk „Entlassen am 10.11.38 (Jude…)“. Ein Klassenfoto von 1936 zeigt ihn noch im Kreis seiner Mitschüler.

Ein Rehburger (Jahrgang 1929) erinnerte sich an eine Begebenheit. Damals, erzählt er, mussten die Jugendlichen sich auf Anordnung Propaganda-Filme ansehen, „‘Jud Süß‘ und solche Sachen.“ Das Kino befand sich direkt gegenüber dem Haus, in dem die Tante von Walter, Frieda Schmidt, mit Mann und Sohn Heinz lebte. „Als wir aus dem Kino kamen, da standen der Walter und der Heinz auf der anderen Straßenseite“, erzählt der Rehburger, „und dann haben sich einige von den Jungen den Walter gegriffen und ihn verprügelt.“

Straße

Aufgeheizt von einem Propaganda-Film verprügeln Rehburger Jungen Walter Birkenruth – so stellt es eine Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“ dar, 2014. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms

Walters Eltern suchten nach der Pogromnacht nach Wegen, das Land mit den Kindern verlassen zu können. England, die USA und Chile waren Ziele, die sie ins Auge gefasst hatten. Keiner dieser Versuche gelang jedoch. Drei Jahre später wurde die gesamte Familie nach Warschau deportiert und dort ermordet.

Stolpersteine für Walter, seinen Bruder, seine Eltern und Großeltern wurden in der Mühlentorstraße in Rehburg verlegt.

Walter Birkenruth, 1936. Bürger- und Heimatverein Rehburg

Biografie - Julius Hammerschlag

Julius Hammerschlag wurde am 20. März 1908 in Rehburg geboren und starb am 6. April 1995 in der Siedlung Moises Ville in Argentinien, wohin er 1938 mit seiner Frau, seinem Vater und seinen Geschwistern geflohen war. 1937 heiratete er Betty Wertheim und lebte mit ihr, einer Schwester und seinen Eltern in deren Haus in Rehburg.

Die Rehburgerin Anni Pfeil erzählte, dass ihr Vater – Schneider in Rehburg – von der Familie den Auftrag bekam, helle Anzüge zu schneidern. Darüber habe sie sich gewundert. Wer wollte denn in Rehburg einen hellen Anzug tragen? Daraufhin habe ihr Vater ihr erklärt, dass die Familie Hammerschlag nach Argentinien gehe, in ein Land, in dem es sehr warm sei und wo deshalb helle Anzüge notwendig seien.

Im Februar 1938 floh Familie Hammerschlag nach Argentinien – dargestellt auf einer Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“, 2014. Foto: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms

Noch vor der Pogromnacht hatte die Familie Hammerschlag erkannt, wie gefährlich die Situation war – so schwierig, dass sie es vorzog, weit fort zu fliehen. Die „Jewish Colonization Association“ (JCA) bot ihnen die Chance zur Flucht in eine ihrer Kolonien in Argentinien an.

Was aber hat die Familie Hammerschlag bewogen, bereits 1938 zu fliehen? Ein Grund waren die Anfeindungen und Repressalien. Ganz konkret bekam die Familie den Antisemitismus zu spüren, als das Kloster Loccum die Handelsbeziehungen zu ihnen kündigte.

Jose Hammerschlag – Sohn von Julius – hat die Geschichte erzählt, die seine Eltern ihm berichteten. Und zwar sei Anfang 1937, eines Freitagabends ein Bediensteter des Klosters zu seiner Familie nach Rehburg gekommen. Der Tisch sei wegen des beginnenden Shabbat festlich gedeckt gewesen, die Kerzen eben entzündet, die Familie versammelt, schreibt Jose Hammerschlag, als der Mann aus dem Kloster ihnen mitteilte, dass die Geschäftsbeziehungen miteinander aufgekündigt seien, „wegen der Vorschriften von oben“. Es täte ihm leid und er hoffe, dass das alles bald vorbei sei.

Das sei jedoch nicht geschehen und sein Großvater Salomon habe daraus den Schluss gezogen, mit seiner Familie auswandern zu müssen.

Das Kloster Loccum war einer der größten Abnehmer der Fleisch- und Wurstwaren der Familie. Rund 200 Jahre, sagte Jose Hammerschlag, hätten die Geschäftsbeziehungen angedauert.

Weil das Kloster Loccum die Geschäftsbeziehungen kündigte, entschloss sich Familie Hammerschlag zu fliehen – dargestellt auf einer Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“, 2014. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms

Unterlagen im Kloster besagen, dass bereits 1930 – also drei Jahre vor der Machtübernahme durch die Nazis – Vikare im Predigerseminar des Klosters gegen Fleischlieferungen von einem Juden bei ihrem Abt protestierten. Zum einen gehe es nicht an, dass das Loccumer Kloster Lieferungen aus Rehburg erhalte, wo doch im Dorf Loccum ein guter Fleischer ansässig sei. Zum anderen könnten die Geschäftsbeziehungen zwischen dem Kloster und einem Juden propagandistisch gegen das Kloster verwendet werden.
Der Abt entschied sich seinerzeit für einen Kompromiss: die Hälfte der Lieferungen kam künftig vom Loccumer Fleischer, die andere Hälfte durfte die Familie Hammerschlag nach Loccum bringen. 1937 wurde der Vertrag endgültig gekündigt.

Wie es seinen Eltern in Argentinien ergangen ist, hat Jose Hammerschlag in einer Mail an den Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum geschildert:

„Im März 1938 kamen meine Eltern in Buenos Aires an, und ein paar Tage später wurden sie – mit anderen Immigranten – zu der Kolonie Moises Ville geschickt, 650 km von Buenos Aires entfernt.
Dort bekamen sie ein Stück Land, 75 Hektar groß, ein paar Kühe, Pferde, Arbeitsgeräte, und ein sehr primitives kleines Haus.
Aber dies alles konnte nicht das Glücksgefühl trüben – sich von den Schauern Europas gerettet zu haben. Aber dieses Glück war natürlich beschattet von dem schrecklichen Gefühl, die Lieben der Familie nicht retten zu können! Die Eltern meiner Mutter fanden ihr tragisches Ende in Auschwitz.
Das Leben war hart in der argentinischen Landwirtschaft, und überhaupt – ohne die Sprache zu können, welche sie bis zum Ende ihres Lebens kaum sprechen lernten…Sie lebten immer weiter wie Immigranten, obgleich sie mit den Jahren sich heraufarbeiteten und es ihnen wirtschaftlich besser ging.
In vielen Momenten versuchten sie, uns von ihrer Vergangenheit zu erzählen, über ein Deutschland, welches sie betrogen und Schlimmes angetan hat. Aber doch hingen sie an den schönen Erinnerungen von dort.“

Am 27. November 2015 sind vor dem Haus in Rehburg Stolpersteine für Salomon Hammerschlag, seine Tochter Selma, Sohn Julius und dessen Ehefrau Betty verlegt worden. Zur Verlegung ist Julius Jose Hammerschlag aus Israel gemeinsam mit seiner Frau Evelyn und ihren drei Söhnen Ruben, Ariel und Yair zu Besuch gekommen.

Jose Hammerschlag (Israel), seine Frau und ihre Söhne 2015 bei der Verlegung von Stolpersteinen für ihre Familie in Rehburg. Foto: Beate Ney-Janßen

 

Julius Hammerschlag 1937 bei seiner Hochzeit. Jose Hammerschlag, Israel

Biografie - Frieda Schmidt

Frieda Schmidt wurde als Frieda Löwenstein am 24. Mai 1898 in Rehburg geboren. Ihre Eltern waren das jüdische Ehepaar Jeanette und Jakob Löwenstein.

Dass Frieda Schmidt den Holocaust überlebte, hängt in erster Linie damit zusammen, dass sie einen Nichtjuden – den Christen Heinrich Schmidt – heiratete. Ihr Sohn Heinz wurde am 26. Juni 1931 geboren.

Friedas Eltern und ihre Schwester samt Familie wurden zwischen 1938 und 1942 deportiert.

Frieda blieb als einzige Jüdin in Rehburg – relativ geschützt durch ihre „Mischehe“. Kurz vor Ende des Krieges wendete sich das Blatt dann jedoch auch für sie.

Am 20. Februar 1945 wurde sie in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie am 8. Mai 1945 befreit wurde. Mit Tränen in den Augen erinnern sich ältere Rehburger daran: Die vorher leicht korpulente Frau bestand nur noch aus Haut und Knochen, als sie nach Rehburg zurückkam. Über das, was ihr in Theresienstadt widerfahren ist, soll sie Zeit ihres Lebens niemals geredet haben.

Vorbehalte gegen die Beziehung zwischen einer Jüdin und einem Christen gab es durchaus in Rehburg. So soll Heinrich Schmidt gelegentlich gefragt worden sein, was er denn mit „diesem Juden-Mädel“ wolle.

Folgende Szene ist uns von einer Rehburgerin aus den Jahren nach 1942 berichtet worden:
Es wird wohl 1943 oder 1944 gewesen sein – alle anderen waren bereits deportiert – als eine Gruppe SA-Männer zu dem Haus in der Heidtorstraße marschierte, in dem Frieda lebte. Landwirt August Lustfeld, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite seinen Hof hatte, beobachtete diesen Aufmarsch. „Wo wollt ihr denn hin?“, war seine Frage. „Die Frieda holen“, lautete die Antwort. August ging daraufhin mit erhobener Mistforke auf die Truppe zu und rief: „Das tut ihr nicht!“
Die SA-Männer sollen nach diesem für sie unerwarteten Widerstand wieder abgezogen sein. Frieda wurde nicht abgeholt.

Für August Lustfeld hatte die Szene jedoch ein Nachspiel. Der Landwirt, Jahrgang 1903, war eigentlich wegen zweier Leistenbrüche vom Kriegsdienst freigestellt, bekam nun aber wenige Tage später den Gestellungsbefehl und musste nach Russland an die Front.

Ein Akt von Zivilcourage eines Nachbarn bewahrt Frieda Schmidt 1943 noch vor der Deportation – dargestellt auf einer Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“, 2014. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms

Am 13. Januar 1945 gab es dann einen Erlass des Reichssicherheitshauptamtes, dass alle in „Mischehe“ lebenden Juden in das Konzentrationslager Theresienstadt zu überstellen seien. Und so wurde Frieda Schmidt verhaftet und in dieses KZ deportiert, wo 1942 bereits ihre Mutter ermordet worden war.

Welches Grauen sie dort erlebt haben musste, lässt sich an einer Begebenheit ermessen, die eine Freundin von Frieda erzählte. Bei einem gemeinsamen Einkauf in einem Geschäft habe Frieda plötzlich angefangen zu schreien und sich überhaupt nicht beruhigen lassen. Später habe sie ihr erzählt, dass sie in dem Geschäft einen ihrer Aufseher aus Theresienstadt wiedererkannt habe.

Frieda Schmidt ist am 28. Oktober 1984 im Alter von 86 Jahren gestorben. Ihr Grab ist auf dem evangelisch-lutherischen Friedhof in Rehburg.

Ein Stolperstein für Frieda Schmidt liegt seit 2014 vor ihrem Haus in Rehburg.

2014 ist ein Stolperstein für Frieda Schmidt in Rehburg verlegt worden. Foto: Beate Ney-Janßen

 

Porträt Frieda Schmidt, geborene Löwenstein, ca. 1925. Privatbesitz

Justizielle Ahndung

Über eine justizielle Ahndung ist wenig bekannt.

Dokumentiert ist lediglich ein Gerichtsurteil, das den Überlebenden der Familie Goldschmidt auf Antrag das Wohnhaus sowie den Grundbesitz zuspricht.

Spuren und Gedenken

21 Stolpersteine für Opfer des Nationalsozialismus hat der „Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum“ seit 2014 in Rehburg, acht weitere im Nachbarort Bad Rehburg verlegen lassen. Hinzu kommt eine Stolperschwelle, die in Rehburg auf das Haus hinweist, in dem sich bis 1939 die Synagoge der jüdischen Gemeinde befand.

Eine sichtbare Spur ist zudem der jüdische Friedhof, der mit 35 Gräbern noch erhalten ist.

Die Erinnerung an die jüdische Gemeinde hält der 2013 gegründete „Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum“ zudem in seiner Geschichtswerkstatt wach, die sich im Zentrum Rehburgs befindet. Dort ist eine Ausstellung zur Geschichte der jüdischen Gemeinde zu sehen. Dadurch ist ein außerschulischer Lernort entstanden, der von Schulklassen der Umgebung sowie Konfirmanden- und Jugendgruppen genutzt wird. Eine Kooperationsvereinbarung mit der IGS Nienburg ist abgeschlossen. Eine weitere Kooperation ist im Entstehen. Diverse weitere Projekte mit Jugendlichen (Theater, Lesungen, Diskussionsrunden, etc.) bietet der Arbeitskreis an.

Zahlreiche Angebote zum Gedenken und Lernen für die Zukunft macht der „Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum“ Jugendlichen – wie hier bei einer Diskussion von Schülern der Wilhelm-Busch-Schule Rehburg mit Kultusminister Grant Hendrik Tonne und der Vorsitzenden der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, Ingrid Wettberg, März 2018. Foto: Beate Ney-Janßen

Zusätzlich gestaltet er ein kleines Kulturprogramm, unter anderem mit Vorträgen und Liederabenden mit vorwiegend regionalem Charakter. Dazu kommen Gedenkveranstaltungen mit Führungen über den Friedhof und Spaziergänge zu den „Stolpersteinen“. Versöhnungsarbeit wird unter anderem durch zahlreiche Kontakte zu Nachfahren der Juden Rehburgs geleistet.

Seit Mai 2018 bietet der „Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum“ Schulklassen Biografie-Erkundungen an, 2018. Foto: Beate Ney-Janßen

Weiterführende Literatur und Links

Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum, dort ist unter „Erinnerungen und Überliefertes“ auch der Abschnitt der Schulchronik Rehburg zu der Zeit des Nationalsozialismus einsehbar

Konrad Droste, Loccum. Ein Dorf – Das Kloster – Der Wald. Beiträge zu einer bemerkenswerten Geschichte, Loccum 1999.

Nanca Kratochwill-Gertich u. Antje C. Naujoks, Rehburg, in: Herbert Obenaus (Hg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Bd. 2, Göttingen 2005, S. 1298 – 1302.

Gerd-Jürgen Groß, „Sie lebten nebenan“. Erinnerungsbuch für die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933-1945 deportierten und ermordeten jüdischen Frauen, Männer und Kinder aus dem Landkreis Nienburg/Weser, Nienburg 2013.

Autorin: Beate Ney-Janßen, Rehburg-Loccum

1938 in Niedersachsen

Hildesheim

Vorgeschichte

Hildesheim, 1933 mit gut 62.000 und 1939 bereits mit 72.000 Einwohnern, war keine NS-Hochburg. In der katholisch geprägten Dom- und Bischofsstadt war auch während des Erstarkens des Nationalsozialismus in den 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre das Zentrum stets relativ stabil zwischen 17 und 20 Prozent bei Wahlen ins Ziel gekommen. Und auch die Sozialdemokraten konnten sich noch bei der Reichstagswahl im März 1933 trotz bereits starker Repressionen in Hildesheim ein überdurchschnittliches Ergebnis von 25,8 Prozent erkämpfen. Die NSDAP hingegen erreichte zwar 37,3 Prozent der Stimmen und war damit stärkste politische Kraft in Hildesheim, im Vergleich zum reichsweiten Ergebnis der Nationalsozialisten (43,9 Prozent) waren sie hier doch eher weniger stark vertreten.

Eine nachweisbare jüdische Bevölkerung gab es in Hildesheim seit dem Hochmittelalter. Im Jahr 1900 waren 617 jüdische Einwohner in Hildesheim gemeldet. Das entsprach zur Jahrhundertwende einem Bevölkerungsanteil von 2,2 Prozent. Dies änderte sich bis 1933 jedoch durch eine niedrige Geburtenrate und Abwanderungsbewegungen in größere Städte wie Hannover, Hamburg oder Berlin. So wohnten im Jahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten noch 515 Juden in der Stadt, was nur noch einem Anteil von 0,8 Prozent entsprach. Bis 1938 reduzierte sich die jüdische Bevölkerung in Hildesheim, vermutlich durch Aus- und Abwanderung, auf ungefähr 200 Menschen.

Ab dem 30. Januar 1933 kam es auch in Hildesheim zu staatlich sanktionierter offener Feindseligkeit gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Wie im gesamten Reich hatten auch die Hildesheimer Juden in den Jahren nach 1933 unter Ausgrenzung, Schikane und Verdrängung aus Wirtschaft, Gesellschaft und öffentlichem Leben zu leiden. Die „Arisierung“ der hiesigen Wirtschaft führte dazu, dass 1938 nur noch 10 Prozent der Manufaktur- und Modewarengeschäfte in jüdischem Besitz waren. Zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft waren es noch 60 Prozent gewesen. Ein Großteil dieser Geschäfte verschwand selbstverständlich nicht einfach, sondern wurde nun von „arischen“ Besitzern weitergeführt.

Im Jahre 1936 hatte Joseph Schwarz das Amt des Landrabbiners in Hildesheim übernommen und stand damit der Jüdischen Gemeinde vor, die seit 1849 eine repräsentative Synagoge und ein Gemeinde- und Schulhaus ihr Eigen nennen konnte. Am 1. September 1938 verließ er aber bereits Hildesheim wieder, um eine Gemeinde auf den Philippinen zu übernehmen. Er sollte der letzte Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Hildesheim gewesen sein. Sein Nachfolger wurde Hermann Spier, der seit April 1938 als Lehrer an der Jüdischen Schule arbeitete. Er übernahm vermutlich nach Schwarz‘ Abreise so gut es ging dessen Pflichten und begleitete die Gemeinde spirituell, ohne selbst ein ausgebildeter Rabbiner gewesen zu sein.

Am 26. April 1938 trat im Deutschen Reich eine Verordnung zur Anmeldung des Vermögens von Juden in Kraft, die vorsah, alle Juden mit einem Vermögen über 20.000 Reichsmark zu dokumentieren, vermutlich, um für den Fall der ständigen Ausreise einen Überblick über die Vermögensverhältnisse des wohlhabendsten Teils der jüdischen Bevölkerung zu haben. Auch für Hildesheim wurde eine solche Liste angefertigt, auf der sich 59 Namen mit einem Gesamtvermögen von fast 5 Millionen Reichsmark finden. Ein großer Teil dieser vermögenden Juden wurde am Morgen des 10. November 1938 im Nachgang der Pogromnacht verhaftet.

Stadt

Die Hildesheimer Synagoge mit gegenüberliegendem Schulhaus (links mit Zwiebelturm), undatiert (vor dem 9. November 1938). Sammlung Aden

Haus

Hildesheimer Synagoge am Lappenberg, vor 1938. Stadtarchiv Hildesheim, Bestand 952 Nr. 154-10

Die Ereignisse im November 1938

Der 9. November 1938, ein Mittwoch, gestaltete sich in Hildesheim nicht anders als in anderen Städten des Reiches. Im nationalsozialistischen Kalender war der 9. November ein wichtiger Feier- und Gedenktag anlässlich des gescheiterten Hitler-Putsches 1923. Dazu fand in Hildesheim ein Schweigemarsch des Jungvolkes vom Karl-Dincklage-Platz, der heutigen Steingrube, zur Jahnswiese am Galgenberg statt, um die Toten des Putschversuches zu ehren.

Am Abend trafen sich die leitenden Persönlichkeiten der örtlichen NSDAP und die Hildesheimer SA-Standarte 79 zur offiziellen Feierstunde in der Stadthalle, die sich damals in der Neuen Straße befand.  Seit Gründung der Allgemeinen SS an genau diesem Datum im Jahr 1925 wurden auch die neuen Anwärter der SS am 9. November vereidigt. Der Hildesheimer SS-Sturm II/12 traf sich um Mitternacht auf dem Galgenberg an der Bismarcksäule, wo man sich über Lautsprecher die im Rundfunk ausgestrahlte zentrale Vereidigungsfeier vor der Feldherrnhalle in München mitsamt der Rede Adolf Hitlers anhörte und anschließend die eigenen Anwärter vereidigte.

Während dieser Veranstaltung bekam der Wirt des „Altdeutschen Haus“, des Stammlokals der SS, einen Anruf, dass sich der Führer des Sturms, SS-Sturmbannführer Emil Frels telefonisch in Hannover zu melden habe. Daraufhin begab sich der Wirt die ca. zwei Kilometer zur Jahnswiese, um Frels die Nachricht zu überbringen. Da die Feierlichkeiten in vollem Gange waren, konnte der Wirt erst nach deren Ende, also weit nach Mitternacht, von dem Anruf aus Hannover berichten. Sturmbannführer Frels machte sich daraufhin auf den Weg zum „Altdeutschen Haus“. Dort angekommen, rief er in Hannover an und sprach mit SS-Oberführer Kurt Benson, der sich darüber erregte, dass der befohlene Anruf so spät komme, und dass im ganzen Bereich bereits die Synagogen brennen. Benson erkundigte sich bei Frels, ob es in Hildesheim eine Synagoge gebe. Dies kann als Indiz dafür gesehen werden, dass der Pogrom keine lange vorher organisierte Tat, sondern improvisiert war. Als Frels die Frage bejahte, erhielt er von Benson den Befehl, die Synagoge umgehend anzuzünden.

Unterdessen hatte sich der Rest des SS-Sturms im Stammlokal eingefunden, um einen vorher angesetzten geselligen Abend zu verbringen. Der Sturmbannführer berichtete von dem Befehl und beauftragte seinen Adjutanten Zander, ein Brandkommando mit 10 bis 15 SS-Männern zur Synagoge zu schicken. Frels selbst meldete der Feuerwehr im Vorhinein bereits, dass in den nächsten Minuten die Synagoge in Flammen stehen würde, die Feuerwehr sich aber Zeit lassen sollte und man nicht sofort Alarm schlagen müsse, was allerdings trotzdem getan wurde. Die Feuerwehr rückte sofort aus und fand die Synagoge brennend vor, wurde aber von SS-Männern daran gehindert, Löscharbeiten einzuleiten. Erst als das Feuer, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft befindlichen Fachwerkhäuser bedrohte, durfte die Feuerwehr das Feuer eingrenzende Maßnahmen ergreifen, die Synagoge jedoch nicht löschen. Am Morgen war das Gebäude vollständig ausgebrannt. Im Gegensatz dazu wurde das gegenüberliegende Gemeinde- und Schulhaus nicht zerstört.

Noch in der Nacht begannen andere SS-Männer damit, die Schaufenster jüdischer Geschäfte und Banken zu zerstören, worauf am Morgen des 10. November systematische Plünderungen, möglicherweise mit Unterstützung, zumindest aber mit Billigung durch die Polizei, stattfanden. Etwa 60 überwiegend wohlhabende Juden, ausschließlich Männer, deren Vermögen durch die Verordnung im April 1938 festgestellt worden war, wurden verhaftet und in das Polizeigefängnis im Hermann-Göring-Haus (Ecke Straße der SA/Adolf-Hitler-Straße; heute Kaiserstraße/Bahnhofsallee) gebracht. Dort wurden sie gegen Mittag auf dem Gefängnishof aufgereiht und hatten wahrscheinlich auch Misshandlungen und Demütigungen zu erleiden. Der zuständige Polizeimeister Ballauf erhielt dann den Befehl, die Gefangenen zu Fuß zum Gerichtsgefängnis am Godehardsplatz zu überführen. Allerdings habe das nicht auf direktem Wege zu geschehen, sondern über Umwege und an der ausgebrannten Synagoge vorbei. Als zusätzliche Erschwernis wurden den Gefangenen die Hosenträger und Schnürriemen abgenommen, vorgeblich zur Fluchtprävention.

Im Godehardigefängnis angekommen, verblieben einige wenige dort, der Großteil wurde jedoch mit Lastwagen nach Hannover und von dort zusammen mit anderen während des Pogroms verhafteten Juden aus der erweiterten Region Hannover mit einem Sonderzug in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht.

Gebäude

Brennende Synagoge am Lappenberg in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Stadtarchiv Hildesheim, Bestand 951 Nr. 7952-1

Folgen

Aus den Unterlagen im KZ Buchenwald geht hervor, dass alle dort festgehaltenen Hildesheimer Juden zwischen dem 25. November und dem 8. Dezember 1938 freigelassen wurden, nachdem jeder Einzelne eine Verpflichtung zur Ausreise unterschrieben hatte.

Eine ausführliche Presseberichterstattung fand nicht statt. Die Hildesheimer Allgemeine Zeitung (HAZ) berichtete am 10. November beiläufig von „starken antijüdischen Aktionen“ im gesamten Reich, ging aber nicht explizit auf die Geschehnisse in Hildesheim ein. Der Hildesheimer Beobachter, das örtliche NS-Parteiblatt, druckte am 11. November den Aufruf zur Beendigung der „Aktionen gegen das Judentum“ von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ab.

Die ausgebrannte Ruine der Synagoge wurde am Morgen des 10. November unter den Augen der jüdischen Schüler, die gezwungen wurden, von den Fenstern der Schule aus zuzusehen, abgerissen, die Trümmer jedoch an Ort und Stelle liegengelassen. Erst am 14. Juni 1940 vermeldet die HAZ die Räumung des Geländes von den Trümmern der Synagoge. Während man also in anderen Städten bemüht war, die Spuren der Pogromnacht schnell zu beseitigen und die Flächen neu zu nutzen, geschah in Hildesheim lange nichts. Das jüdische Schulhaus am Lappenberg 21 blieb erhalten und diente bis 1942 weiterhin als jüdisches Schul- und Gemeindezentrum sowie vermutlich seit 1940 als jüdisches Kinder- und Jugendheim.

Die nächste dem Pogrom folgende und zugleich letzte Volkszählung während der NS-Herrschaft ergab, dass im Mai 1939 nur noch 217 Juden in Hildesheim lebten, was einem Rückgang von fast 58 Prozent im Vergleich zu 1933 entsprach. Ein Großteil der verbliebenen Hildesheimer Juden, 62 Männer, Frauen und Kinder, wurde am 31. März 1942 über die zentrale Sammelstelle in der ehemaligen Jüdischen Gartenbauschule Ahlem in das Warschauer Ghetto deportiert, unter ihnen auch der Lehrer Hermann Spier. Ein zweiter Transport fuhr am 23. Juli 1942 mit 51 Hildesheimer Juden aus Ahlem nach Theresienstadt. Von diesen beiden Transporten haben vermutlich nur vier Hildesheimer die Shoah überlebt. Alle anderen sind entweder bereits in den Ghettos oder später in den Vernichtungslagern Auschwitz und Treblinka gestorben.

Ein letzter Transport ging aus Hannover am 20. Februar 1945 mit noch fünf Hildesheimer Juden in das Ghetto bzw. KZ Theresienstadt. Alle fünf erlebten die Befreiung Theresienstadts durch die Rote Armee zwei Monate später. Da sich nach letzten Berichten vom Januar 1945 noch 42 Juden im Regierungsbezirk Hildesheim befanden, von denen 27 (einschließlich der fünf Städter) am 20. Februar deportiert wurden, kann man davon ausgehen, dass 15 Juden aus dem Regierungsbezirk nicht deportiert wurden. Ob sie das Kriegsende überlebt haben oder was mit ihnen geschehen ist, lässt sich nicht feststellen.

Eine weitere Erkenntnis bezüglich des Schicksals der Hildesheimer Juden nach dem Novemberpogrom 1938 lässt sich aus den Deportationslisten ableiten, in denen nur noch wenige Wohnadressen in Hildesheim genannt werden. So kann man davon ausgehen, dass ab 1939 auch in Hildesheim „Judenhäuser“ geschaffen wurden, in den die Menschen äußerst beengt hausten. Die Judenhäuser befanden sich an folgenden Adressen: Lappenberg 21 (Jüdisches Schulgebäude), Teichstraße 27, Hornemannstraße 11, Langer Hagen 65, Friesenstraße 3/4 sowie 16, Adolf-Hitler-Straße 14 und Bernwardstraße 3. Ab wann man die jüdischen Einwohner in den „Judenhäusern“ zusammenfasste, lässt sich nicht genau belegen, weil die Aktenbestände durch den Luftangriff am 22. März 1945 zerstört wurden.

Menschen

Auf den Abtransport wartende Jüdinnen und Juden auf dem Hof der Polizeischule in Hildesheim, 27. März 1942. Die Aufnahme entstammt einer Filmsequenz, auf der die Registrierung und der Abtransport zu sehen sind. Stadtarchiv Hildesheim, Bestand 951 Nr. 8318-14

Biografie – Hermann Spier

Hermann Spier wurde am 20. Januar 1899 im hessischen Merzhausen als Sohn des Kaufmanns Salomon und dessen Frau Gitta Spier geboren. Sein Studium begann er am 1. April 1916 am Israelitischen Seminar in Kassel. Dies wurde jedoch durch den Kriegsdienst, den Spier von Juni 1917 bis zu seiner Entlassung im März 1919 leistete, wobei er 1918 an der Aisne einen Oberschenkeldurchschuss erlitt, unterbrochen. Am 12. Februar 1920 bestand er erfolgreich die erste Lehrerprüfung und trat eine Lehrerstelle an einer jüdischen Schule an.

Ab 1924 war er mit Karoline Nußbaum verheiratet und blieb es bis zu ihrem Tod an Multipler Sklerose im Oktober 1938. Die beiden hatten zwei Töchter: Henriette (*1925) und Berna (*1928). Spier gelang es, seine beiden Töchter im Januar 1939 mit einem Kindertransport nach England zu schicken, wo sie in einem Kinderheim untergebracht waren und dadurch den Krieg und die Shoah überlebten. Die schwere Krankheit verhinderte, dass Karoline ihn an seine wechselnde Dienstorte begleitete. Spier war zwischen seiner ersten Lehrerprüfung und der zweiten im Jahr 1928 in vier jüdischen Schulen tätig: Grebenstein, Kassel, Northeim und Abterode im Kreis Eschwege. Nach der zweiten Prüfung wurde er in Eschwege zum Beamten auf Lebenszeit ernannt.

Im August 1933 sollte die jüdische Schule in Abterode geschlossen und Hermann Spier mit nur 34 Jahren in den Ruhestand versetzt werden, was dann auch geschah. Nach eineinhalb Jahren, in denen sich Spier permanent gegen diesen Ruhestand und die damit verbundenen finanziellen Schwierigkeiten wehrte, bekam er im April 1935 eine Stelle in Leer, wo er bis zum 31. März 1938 blieb. Nur vier Tage später trat er die Stelle des Lehrers an der jüdischen Schule und Kantors der Gemeinde in Hildesheim an.

Als es Karoline Spier krankheitsbedingt immer schlechter ging, lernte Hermann Spier Henriette Rosenboom kennen, die ihm im Juli 1938 nach Hildesheim folgte. Die beiden heirateten am 28. November 1941.

Zunächst nur Lehrer und Kantor der Gemeinde, entwickelte sich Hermann Spier in den kommenden Jahren nach dem Weggang des letzten Rabbiners Joseph Schwarz im September 1938  und spätestens mit der Auswanderung des letzten Gemeindevorstehers Alex Rehfeld im Juli 1940 zur geistigen und religiösen Führungspersönlichkeit der Gemeinde. Er organisierte zusätzlich zu seinen beruflichen Pflichten die Feiern zu den wichtigen jüdischen Festen und übernahm auch die Leitung der Gottesdienste. Im Nachgang des Chanukka-Festes 1941 wurde ihm im Jüdischen Nachrichtenblatt explizit gedankt.

Im Zuge der Zusammenfassung der Hildesheimer Juden in Judenhäusern zogen auch Spier und seine zweite Frau Henriette um, wahrscheinlich in das Haus Hornemannstraße 11. Um der Schließung der Schule aufgrund geringer Schülerzahlen vorzubeugen, wurden Kinder aus Ostfriesland aufgenommen, die mit ihren Familien ihrerseits aus der Heimat vertrieben wurden. Dadurch entstand das Kinder- und Jugendheim Lappenberg, dass von einem Ehepaar Bloch geleitet wurde und in dem Hermann Spier als Lehrer und Erzieher fungierte.

Hermann Spier hatte die Möglichkeit, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, doch er zog es vor, bei seiner Gemeinde und seinen Schützlingen zu bleiben. Er wurde mit dem ersten Transport am 31. März 1942 zusammen mit 61 anderen Hildesheimer Juden, einschließlich seiner Frau Henriette, nach Warschau deportiert. Für Hermann Spier ging es danach weiter in das Vernichtungslager Treblinka, von wo seine Tochter im Juni 1943 eine mit Bleistift beschriebene Postkarte ihres Vaters bekam. Etwa um diese Zeit starb Hermann Spier in Treblinka. Ein genaues Datum ist nicht festzustellen. Seine Tochter Henriette, inzwischen wohnhaft in Birmingham, ließ ihn am 25. Januar 1951 vom Amtsgericht Hildesheim für tot erklären.

Als die Regierungshauptkasse in Hildesheim wenige Tage nach Spiers Deportation seinen Gehaltsscheck von der Reichspost mit dem Hinweis „Jude, unbekannt verzogen“ zurückbekam, bat man beim Regierungspräsidenten um weitere Anweisungen. Die knappe Antwort lautete: „Der jüdische Lehrer a. D. Hermann Israel Spier in Hildesheim ist am 31. März 1942 nach dem Osten abgewandert. Er kehrt nach Deutschland nicht zurück. Sein Aufenthaltsort ist unbekannt.“ Aufgrund der damit verbundenen Aberkennung der Staatangehörigkeit seien alle Zahlungen einzustellen.

Sara Nußbaum (?), Henriette, Karoline, Berna und Hermann Spier, um 1935. Vernetztes Erinnern Hildesheim

Mann

Hermann Spier, undatiert (1930er Jahre). Yad Vashem Database

Justizielle Ahndung

Im Dezember 1948 wurde dem Führer des SS-Sturms II/12, SS-Sturmbannführer Emil Frels als Anführer des Pogroms und neun weiteren Angeklagten der Prozess gemacht. Dabei wurde Frels wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Brandstiftung zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Major der Schutzpolizei Ballauf, der für die Behandlung der am 10. November 1938 verhafteten Juden verantwortlich war, wurde zunächst zu 10 Monaten verurteilt, später stellte man das Verfahren jedoch ein, da Ballauf auf Befehl von Frels‘ Adjutanten SS-Oberscharführer Zander gehandelt haben soll. Die übrigen acht Angeklagten erhielten kurze Freiheitsstrafen oder wurden freigesprochen.

Spuren und Gedenken

Ein Ratsbeschluss der Stadt Hildesheim im Jahr 1947 führte dazu, dass nicht einmal zehn Jahre nach der Pogromnacht und drei Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft am 22. Februar 1948 auf dem unbebauten Grundstück der Synagoge am Lappenberg ein Gedenkstein unter Teilnahme von Regierungspräsident Backhaus, Würdenträgern der christlichen sowie neu gegründeter jüdischer Gemeinden und anderen Persönlichkeiten eingeweiht wurde. Er trägt in hebräischer, deutscher und englischer Sprache folgende Inschrift: „An dieser Stelle stand die Synagoge, die am 9. November 1938 von frevelhaften Händen vernichtet wurde.“

Augenscheinlich blieb der Gedenkstein jedoch jahrzehntelang eher unbeachtet. Erst 1977 wurde wieder der Pogrome und ihrer Opfer gedacht, als Oberbürgermeister Heiko Klinge am Volkstrauertag am 13. November einen Kranz niederlegten. Am 9. November 1978 waren alle Ratsmitglieder und Mitarbeiter der Verwaltung sowie etwa 100 Menschen anwesend, als Klinge erneut einen Kranz niederlegte. Es folgten zehn Jahre des unorganisierten Gedenkens – mal am 9. November, mal am Volkstrauertag.

Ein alljährliches zentrales Gedenken findet statt, seit am 9. November 1988, 50 Jahre nach den Ereignissen, das große Synagogenmahnmal am Lappenberg enthüllt wurde. Dabei handelt es sich um einen Quader, der an der Stelle steht, die bis 1938 den Mittelpunkt des achteckigen Hauptraumes der Synagoge darstellte. Auf dem Quader steht eine Miniatur Jerusalems und die Seiten zeigen verschiedene Motive, die sich mit der  jüdischen Kultur und der Verfolgung des jüdischen Volkes auseinandersetzen. Begrenzt wird das Gelände des Mahnmals von einer achteckigen Umfassungsmauer, die den Grundriss der ehemaligen Synagoge nachzeichnet. Ein weiteres Schild auf dieser Mauer trägt die Aufschrift: „Diese Mauer steht auf den Fundamenten der am 8.IX.1849 eingeweihten und in der Nacht vom 9. auf den 10.XI.1938 zerstörten Synagoge. Das Mahnmal wurde am 9.XI.1988 errichtet.“ Am 10. November 2005 wurde das Mahnmal geschändet, indem Unbekannte es mit roter Farbe begossen. Die Täter konnten nicht ermittelt werden.

Darüber hinaus begann man in der Innenstadt im November 2008 mit der Verlegung von Stolpersteinen, um Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu gedenken. Im Jahr 2017 wurden die bislang letzten der mittlerweile 91 Stolpersteine verlegt.

An entsprechenden Orten der Stadt stehen Gedenk- und Informationsstelen, beispielsweise in der Friesenstraße. Dort wird über die „Judenhäuser“ informiert.

Das ehemalige Schul- und Gemeindehaus am Lappenberg 21 hat den Krieg überstanden und dient der katholischen St. Godehard-Gemeinde als Pfarrhaus, allerdings ohne Zwiebeltürmchen.

Seit 1997 gibt es wieder eine jüdische Gemeinde in Hildesheim, die von der katholischen Kirche im Jahr 2009 ein ehemaliges Gemeindehaus der Johanniskirche in der Hildesheimer Nordstadt zur Verfügung gestellt bekam.

 

 

Denkmal

Gedenkstein von 1948 auf dem Grundstück der ehemaligen Synagoge am Lappenberg. Foto: Klaus Schäfer; Vernetztes Erinnern Hildesheim

Weiterführende Literatur und Links

Sabine Brand (Hg.), Hildesheim – Im Marschschritt durch die Dreißiger, Hildesheim 2013.

Dies. (Hg.), Hildesheim – Sturzflug durch die Vierziger, Hildesheim 2010.

Hans-Dieter Schmid (Hg.), Hildesheim in der Zeit des Nationalsozialismus. Eine Stadt zwischen Angst und Anpassung, Hildesheim 2015.

Jörg Schneider, Die jüdische Gemeinde in Hildesheim 1871-1942, Hildesheim 2003.

Vernetztes Erinnern. Nationalsozialistische Gewaltherrschaftin Stadt und Landkreis Hildesheim

Lernwerkstatt Geschichte – Hildesheim im Nationalsozialismus – Aspekte der Stadtgeschichte

Stadtarchiv Hildesheim – Stolpersteine

Autor: Dennis Steinemann, Student der Leibniz Universität Hannover

1938 in Niedersachsen

Duingen

Vorgeschichte

Das jüdische Leben in Duingen begann spätestens 1820. In der Blütezeit der Gemeinde zwischen 1850 und 1914 lebten 15 jüdische Menschen im Ort. Sie machten etwa ein Prozent der Bevölkerung des Fleckens aus, die sich auf knapp 1.200 Personen belief. Die Duinger Juden verteilten sich auf zwei bis drei Familien. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert verließen viele von ihnen den Ort.

1933 lebte nur noch der „Kolonialwaren“-Händler Walter Bienheim (1903-1951) mit seiner Frau und ihrer Tochter sowie der Mutter Hulda in Duingen. Sein Haus war in der dritten Generation im Besitz der Familie. Das angegliederte kleine Bankgeschäft war in der Inflationszeit eingegangen.

Walter Bienheim war Mitglied in zwei örtlichen Vereinen, der freiwilligen Feuerwehr und des Gesangvereins, ein Beleg dafür, in welch hohem Maße die Familie im Ort integriert war. Außerdem besaß er – für einen Juden, der in einem Dorf wohnte durchaus ungewöhnlich – das Parteibuch der SPD. Es gibt Hinweise, dass er 1933 aus den Reihen der Feuerwehr und des Gesangvereins ausgeschlossen wurde.

Weil jüdische Ladengeschäfte in der NS-Zeit boykottiert wurden und auch Menschen, die den Juden wohlgesinnt waren, Angst haben mussten „beim Juden“ zu kaufen, verlegte sich Bienheim zunehmend auf „Haustürgeschäfte“ und fuhr mit seinem PKW in die umliegenden Dörfer. Der Alfelder Landrat reagierte darauf 1936 mit dem Entzug der „Wandergewerbeerlaubnis“. Walter Bienheim wandte sich daraufhin mit einer Beschwerde an das Bezirksverwaltungsgericht Hildesheim. Der Hildesheimer Regierungspräsident begründete den Entzug in einem drei Seiten langen Schriftsatz, in dem es u. a. hieß, Bienheim sei bei seinen Geschäften unzuverlässig, nicht vertrauenswürdig und aufdringlich.

Das Verwaltungsgericht Hildesheim gab am 3. Juli 1936 jedoch der Beschwerde Bienheims Recht. Es hätten sich „weder in politischer, noch in gewerblicher Hinsicht hinreichende Anhaltspunkte für Unzuverlässigkeit des Herrn Bienheim ergeben.“ Der Regierungspräsident ging in Berufung. Bereits im November 1936 kam es zu einer erneuten Gerichtsverhandlung. Ob sich das Gericht ein zweites Mal dem massiven politischen Druck widersetzte, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden.

Auch in den Dörfern wurde der Antisemitismus stärker. Die Reifen von Bienheims Auto wurden mehrfach zerstochen oder zerschossen. Im nahe gelegenen Marienhagen, einem Ort, in dem überhaupt keine Juden lebten, fanden judenfeindliche Kundgebungen statt und es wurden antijüdische Schilder aufgestellt.

Unter dem herrschenden Druck verließ Walter Bienheim Ende 1936 Duingen und ging nach Hannover. Das Geschäft verpachtete er zunächst an den Kaufmann Hinrichsmeyer und verkaufte es ihm 1940 schließlich. In Hannover versuchte er noch einmal ein Geschäft zu eröffnen. 1940 gelang ihm mit seiner Frau Else und Tochter Ruth gerade noch rechtzeitig die Flucht in die USA. Walter Bienheim starb am 6. Februar 1951 in New York.

Die letzte jüdische Einwohnerin Duingens war Walters Mutter Hulda Bienheim. Nach mündlichen Aussagen von Verwandten hatte sie sich früh mit dem Gedanken an eine Auswanderung vertraut gemacht, war zum Beispiel vor 1939 nach Palästina gereist, verfügte auch über ein Affidavit, das notwendige Bedingung für eine Einwanderung war. Sie zog am 4. Januar 1937 von Duingen nach Hannover zu ihrem Sohn Walter. Mehrmals wechselte sie in der Folge ihren Aufenthaltsort. Ende August 1939 ging sie zu Verwandten nach Petershagen bei Minden, später zeitweise nach Bremen, wo ihre Tochter Anna Grünberg lebte.

Im Mai 1940 war Hulda Bienheim zurück in Hannover, nun im jüdischen Altersheim in der Ellernstraße 16. Von dort wurde sie am 15. Dezember 1941 im Alter von 69 Jahren in das Ghetto Riga deportiert. Ein Teil der Menschen wurde gleich nach der Ankunft in den Wald geführt und erschossen.

Eine Duinger Firma mit jüdischem Besitzer war die Steinzeug- und Tonwarenfabrik, die seit 1913 dem Kaufmann Louis Steinberg gehörte. Er musste das Unternehmen am 1. Juni 1937 an den Betriebsleiter Werner abtreten.

Das ehemalige Wohn- und Geschäftshaus des „Kolonialwaren“-Händlers Walter Bienheim in der Eckardtstraße 1, 2008. Foto: Bernhard Gelderblom

Die Ereignisse im November 1938

Der Friedhof der Duinger Juden liegt weit außerhalb des Dorfes in süd-östlicher Richtung inmitten von Feldern auf einer kleinen Kuppe. Das Flurstück ist mit einer Fläche von 125 qm recht klein. Zeitzeugen erzählen von einer Beerdigung, die bald nach 1933 erfolgt sei. Ohne Sarg hätten die Hinterbliebenen den Leichnam in die wegen schweren Regens voll Wasser gelaufene Grube legen müssen, begleitet von Beschimpfungen und Beleidigungen durch Bewohner des Fleckens. Ein Grabstein ist für diese Beerdigung nicht mehr gesetzt worden. Steinmetze und Sargtischler weigerten sich nicht selten, für Juden zu arbeiten.

Der Friedhof soll um das Jahr 1938 am helllichten Tage durch Duinger SA-Männer zerstört worden sein. Sie warfen die Steine um und zerbrachen sie dabei teilweise. Offensichtlich blieben die zerstörten Steine an Ort und Stelle liegen.

Biographie – Erich Bienheim

Erich Bienheim (1898-1962), einem ältereren Bruder von Walter Bienheim, gelang eine bemerkenswerte theologische Laufbahn. Er studierte an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin bei Ismar Elbogen und Leo Baeck Rabbinistik, promovierte in Würzburg über „Die Gebärden im Alten Testament“ und war 1924 bis 1927 Rabbiner in Berlin, anschließend bis 1939 an der liberalen Synagoge in Darmstadt tätig. Weil die Nationalsozialisten jüdischen Kindern den Schulbesuch erschwert hatten, gründete er dort eine jüdische Grundschule.

Am frühen Morgen des 10. November 1938 – Erich Bienheim war auf dem Weg zu der von den Nationalsozialisten angezündeten Darmstädter Synagoge – verhaftete ihn die Gestapo und schaffte ihn in das KZ Buchenwald. Vier Wochen später wurde er unter der Bedingung entlassen, Deutschland so bald wie möglich zu verlassen. 1939 emigrierte Erich Bienheim nach England, war von 1946-1949 Rabbi an der West-End-Synagoge in London und von 1949 bis kurz vor seinem Tode im Jahre 1962 an der Reform-Synagoge in Bradford.

Biographie – Karl Ludwig Bienheim

Karl Ludwig Bienheim (1900-1967), Erichs jüngerer Bruder, besuchte das Gymnasium für Jungen in Hameln und legte dort 1918 das Abitur ab. Nach dem Militärdienst studierte er 1919 bis 1925 Architektur an der Technischen Hochschule Hannover und der Technischen Hochschule Stuttgart. 1927 bis 1932 war er bei der preußischen Regierung in Berlin als Experte für Landwirtschafts- und Gartenbausiedlungen angestellt. Aus dem Jahre 1927 existiert der Entwurf für einen rationalisierten Landwirtschaftsbetrieb.

1932 heiratete er Rosel Pinkus und emigrierte mit ihr 1934 nach Palästina. Dort arbeitete er zunächst als privater Architekt in Hadera bei Haifa. In den Jahren 1938 bis 1949 war er Chefarchitekt der Hever Hakwu 20th, einer Gruppe von 80 landwirtschaftlichen Siedlungen in Israel. 1950 erfolgte seine Ernennung zum Professor für Landwirtschafts- und Siedlungswesen am Technion in Haifa. 1961/62 hatte er eine Gastprofessur an der Technischen Hochschule Stuttgart inne.

Justizielle Ahndung

In der Nachkriegszeit soll es nach Auskunft von Zeitzeugen wegen der Zerstörung des Friedhofes zu einem Prozess gekommen sein, in dem die Täter zu Geldstrafen verurteilt wurden. Näheres war nicht in Erfahrung zu bringen.

Spuren und Gedenken

Der Friedhof wurde zu einem unbestimmten Zeitpunkt wieder hergestellt. Auf Reparaturarbeiten an den Grabsteinen verweisen deutliche Mörtelspuren. Aus der Zeit nach dem Kriege dürfte auch die niedrige Mauer stammen, die den Friedhof umgibt.

Kurze Zeit nach seiner Wiederherstellung wurde der Friedhof erneut zerstört. Die Beschädigung der Schriftfelder durch Beilhiebe soll nach Aussagen von Zeitzeugen bei dieser zweiten Zerstörung erfolgt sein. Bei einem Besuch des Friedhofes im Jahre 1985 bot dieser ein trauriges Bild der Vernachlässigung und Verwüstung.

Im Sommer 2006 war der Friedhof von Bäumen und Büschen fast ganz überwachsen. Die Steine wiesen immer noch die alten Beschädigungen auf. In dieser Situation entschloss sich der örtliche Heimat- und Kulturverein, den Friedhof in enger Zusammenarbeit mit Bernhard Gelderblom zu restaurieren.

Der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen gab bereitwillig sein Einverständnis und sagte eine begrenzte finanzielle Unterstützung zu. Alle Ausbesserungsarbeiten an den Grabsteinen waren Sache des Landesverbandes. Eine finanzielle Unterstützung des Fleckens Duingen wurde erbeten, aber abgeschlagen.

Die Arbeiten begannen mit der Beseitigung des dichten Buschwerks. Bruchstücke von Steinen, die bisher unter dem dichten Bewuchs versteckt gelegen hatten, traten ans Tageslicht. Nun wurden auch die erheblichen Schäden an der Umfassungsmauer deutlich. Über mehr als zwei Jahre erstreckte sich die von zahlreichen Händen ehrenamtlich ausgeführte Arbeit. Ein Vortrag von Bernhard Gelderblom zum jüdischen Leben in Duingen am 21. Februar 2008 gab die nötigen Hintergrundinformationen.

Nach Aufstellung der Steine, die von einer hannoverschen Firma restauriert worden waren, wurde der Boden mit einer Schicht Rindenmulch abgedeckt und mit Bodendeckern bepflanzt. Steinplatten führen den Besucher auf das Gelände. Ein neuer Zaun war nötig, schließlich ein Schild. Im September 2008 fand unter großer Beteiligung der örtlichen Bevölkerung die Einweihung statt.

 

Der Friedhof im Zustand der Zerstörung, 1985. Auf mehreren Grabsteinen sind die Spuren von Beilhieben zu erkennen. Foto: Bernhard Gelderblom

Weiterführende Literatur und Links

Bernhard Gelderblom, Salzhemmendorf, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bände, Göttingen 2005, S. 1336-1344.

Bernhard Gelderblom, Jüdisches Leben in Duingen, Vortrag am 21. Februar 2008, Duinger Heimat- und Kulturverein e.V., Heft 13, 2009.

Bernhard Gelderblom, Die Juden in den Dörfern des Fleckens Salzhemmendorf, Holzminden 2013, 173-209.

Stephanie Link, Von Kollergang und Röhrenplatz. Tonindustrie in Duingen, Duingen 2009.

Die Dokumentation der Opfer der NS-Herrschaft in der Stadt Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont: Deportierte jüdische Bürger aus Duingen

http://www.geschichte-hameln.de/gedenkbuch/gedenkbuch.php

Der jüdische Friedhof Duingen

http://www.gelderblom-hameln.de/judenhameln/friedhoefe/judenfriedduingen.php?name=duingen

 

Autor: Bernhard Gelderblom, Hameln

1938 in Niedersachsen

Coppenbrügge

Vorgeschichte

Jüdisches Leben ist in Coppenbrügge erstmals 1630 und damit vergleichsweise früh belegt. Der Friedhof wird 1787 aktenkundig, eine (neue) Synagoge 1814. 1839 lebten 50 Juden in Coppenbrügge; fünf Häuser hatten über mehrere Generationen jüdische Eigentümer. Mit bis zu vier Prozent war der Anteil der Juden an den Einwohnern im 18. und 19. Jahrhundert sehr hoch. 1913 zählte die Gemeinde jedoch lediglich noch acht „Seelen“. Zur Feier des Sabbats fuhr man nach Hameln.

Bekannt im Ort waren Oskar und Elise Levy mit ihrer Tochter Ruth. Der 1909 geborene Oskar Levy verkaufte 1918 das reiche Erbe des Vaters, eine Textilmanufaktur im Haus Schlossstraße 15/16, um selbst ein kleineres Textilgeschäft zu etablieren. Er war Mitglied im Schützen- und Kriegerverein und hatte zur Errichtung des Kriegerdenkmals mit Spenden beigetragen. Nach 1933 hatte die Familie unter Schikanen zu leiden. So wurde mehrmals an das Haus seines Vermieters geschrieben: „Hier wohnt ein Judenfreund.“ Aus der Mitgliederliste des Schützenvereins wurde er bereits 1932 gestrichen.

Am 22. April 1933 wurde Oskar Levy auf Befehl des Landrats für zehn Tage im Gefängnis Hameln in „Schutzhaft“ genommen. NSDAP-Ortsgruppenleiter Walter Hasselwander soll Oskar Levy auf offener Straße niedergeschlagen haben: „Weil Levy sich bei dem Überfall gewehrt hat, wurde er auf Anweisung Hasselwanders von der Gestapo verhaftet, schwer mißhandelt und eingesperrt.“ Nach seiner Entlassung soll Oskar Levy sich still verhalten haben.

Obwohl Oskar Levy auf der Liste der Empfangsberechtigten stand, händigte ihm Bürgermeister Beckmann das Ehrenkreuz für Frontkämpfer nicht aus.

David Adler und seine Ehefrau Resi machten sich 1924 in Coppenbrügge mit einem Textilgeschäft selbstständig. Das Geschäft lief so gut, dass David Adler ein Auto anschaffen und die Dörfer bereisen konnte. Adlers hatten sich rasch im Ort integriert. Seit 1933 sank der Umsatz des Geschäfts um fast die Hälfte, stabilisierte sich aber auf diesem Niveau. Während das Ladengeschäft massiv unter Boykotten litt, machte Adler als reisender Kaufmann weiterhin relativ gute Umsätze.

Der NSDAP-Ortsgruppe war das beliebte Geschäft ein besonderer Dorn im Auge. Aus dem gegenüberliegenden Haus des Schmieds Wilhelm Spiegelberg wurden Kunden von Adler gemeldet. In Coppenbrügge hing ein sogenannter „Stürmer“-Kasten, in dem Personen, die in jüdischen Geschäften gekauft haben sollten, öffentlich angeprangert wurden. Als Kaufwillige das Geschäft daraufhin über einen rückwärtigen Zugang aufsuchten, beschlossen Bürgermeister Beckmann und der Gemeinderat auf Antrag des Ortsgruppenleiters Hasselwander, den rückwärtigen „Weg als nicht öffentlich zu erklären und das Betreten desselben unter Strafe zu stellen“.

Der einzige Sohn Martin, geb. 1922, musste 1935, obwohl noch schulpflichtig, die Schule in Coppenbrügge verlassen. Ein Zeitzeuge berichtet, „wie Hasselwander und seine Jungens bei jeder passenden Gelegenheit auf der Straße den Sohn vom Juden David Adler überfallen und verprügelt haben, daß das Blut aus Mund und Nase kam.“

Im März 1938 gelang der einvernehmliche Verkauf des Geschäfts an Karl Schlichtmann. Im Juli 1938 reiste die Familie nach Hamburg, um dort das Schiff nach New York zu betreten.

Obwohl noch Juden in Coppenbrügge lebten, setzte Bürgermeister Beckmann beim Regierungspräsidenten 1937 die Schließung des Friedhofs durch, „da derselbe inmitten der geschlossenen Ortschaft belegen ist“. Ein weiterer Grund dürfte gewesen sein, dass Hitler am Friedhof entlang fuhr, wenn er vom Reichserntedankfest am Bückeberg nach Goslar fuhr.

Im Mai 1938 ließ der Bürgermeister den Friedhof mit seinen ca. 60 Grabsteinen eigenmächtig einebnen. Nur vier Grabstellen, deren Ruhefrist noch nicht abgelaufen war, blieben bestehen. Die Steine wurden als Straßenschotter und als Kantsteine bei der Erweiterung des christlichen Friedhofes verwendet, die Eingangspfosten als Torpfosten des christlichen Friedhofes.

 

 

Die Ereignisse im November 1938

Am 9. November 1938 wurde der mittlerweile vollständig verarmte Oskar Levy erneut verhaftet und in das KZ Buchenwald gebracht. In derselben Nacht zerstörte die Coppenbrügger SA die letzten Steine des jüdischen Friedhofes. Unter den Beteiligten waren ein Amtsgerichtssekretär, ein Beamter am Amtsgericht Hameln, ein Beamter am Finanzamt Hameln, ein Eisenbahnbeamter, zwei selbstständige Schmiedemeister, ein selbstständiger Friseur, ein Gemeindebeamter, ein Zimmereiarbeiter und ein Milchkontrolleur, also überwiegend Männer, die zur wohlsituierten, bürgerlich-konservativen Mitte des Ortes gehörten.

Folgen

Nach sechs Wochen wurde Oskar Levy aus dem KZ Buchenwald entlassen und am 27. Dezember 1938 mit seiner Frau Elise nach Hannover. Seit 1940 lebten die Eheleute zusammen mit ihrer Tochter Ruth, die am dortigen israelitischen Krankenhaus arbeitete. Oskar Levy musste Zwangsarbeit leisten. Anstrengungen für eine Auswanderung unternahmen Oskar und seine Frau Lieschen offenkundig nicht.

Seit September 1941 mussten sie im „Judenhaus“ Brabeckstraße 86 wohnen. Am 15. Dezember 1941 wurde Oskar Levy mit seiner Ehefrau Elise, der Tochter Ruth und seinem jüngeren Bruder Erich Levy über Ahlem in das Ghetto Riga deportiert. Der Tag ihres Todes ist nicht bekannt.

Seit 1938 führte Bürgermeister Beckmann zuerst mit Oskar Levy, dann mit der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland Gespräche mit dem Ziel, das Gelände des Friedhofes für die Gemeinde zu erwerben. Völlig überraschend kaufte er 1943 schließlich das Grundstück persönlich und verpachtete das Gelände als Wiese.

 

Die große Fläche des jüdischen Friedhofs Coppenbrügge im heutigen Zustand, 2015. Foto: Bernhard Gelderblom

Biographie - Ruth Levy

Ruth Levy, geb. 1911, war das einzige Kind von Oskar und Elise, genannt Lieschen, Levy.

Seit 1933 arbeitete sie in Hannover als Operations-und Krankenschwester am israelitischen Krankenhaus. Ab 1940 wohnte sie zusammen mit ihren Eltern in einer kleinen Wohnung. Mit einem jungen Mann, der in der Pogromnacht in das KZ Buchenwald verschleppt worden war, war sie eine Verlobung eingegangen. Im Herbst 1941 bestand die Verlobung nicht mehr.

Spätestens seit Frühjahr 1940 betrieb Ruth Levy ihre Auswanderung. Ein Krankenhaus in Caracas, Venezuela, hatte sie angefordert. Sie plante, ohne ihre Eltern zu gehen. Um die Genehmigung zur Auswanderung zu erreichen, waren extrem hohe bürokratischen Hürden zu überwinden. Neben dem Finanzamt waren die Gestapo, die Zollfahndungsstelle, die Reichsbank, die Devisenstelle des Oberfinanzpräsidenten, der Vorstand der israelitischen Gemeinde und das Hauptzollamt eingeschaltet. Fast eineinhalb Jahre lang tat sich in Sachen Auswanderung nichts.

Im September 1941 musste Familie Levy ins „Judenhaus“ Brabeckstraße 86 ziehen. Am 7. Oktober 1941 genehmigte der Oberfinanzpräsident die „Verbringung der aufgeführten Sachen ins Ausland“, nicht ohne den Hinweis, dass die Bescheinigung nach sechs Monaten verfallen würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte die NS-Regierung die Ausreise von Juden bereits gestoppt, ohne dass dies den unteren Behörden und den betroffenen Juden mitgeteilt worden wäre.

Im November 1941 mussten die Levys nach Ahlem übersiedeln. Hier erhielten sie die Benachrichtigung zur „Wohnsitzverlegung“ in den Osten. Ruth Levy gab daraufhin zur Kenntnis: „Ich soll am 18.11.41 ab Barcelona nach Venezuela fahren. Mein Pass liegt schon am Hilfsverein Berlin. Visum u. sonstige Papiere sind in Ordnung. Meine Sachen sind zollamtlich gepackt.“

Diese Mitteilung rettete sie jedoch nicht vor der Deportation. Am 15. November 1941 wurde sie vom Bahnhof Hannover-Linden in einem Zug mit 1100 Juden in das „Reichsjudenghetto Riga“ gebracht. Dort arbeitete Ruth Levy zeitweise in einer Sanitätsstation. In einem Brief aus dem Ghetto muss sie nach Coppenbrügge geschrieben haben, dass es ganz furchtbar sei, was sie dort durchmachten; sie würden bald umgesiedelt.

Das Schicksal von Ruth Levy hat die Menschen in Coppenbrügge sehr beschäftigt. So wurde erzählt, sie hätte ein Verhältnis mit dem deutschen Lagerarzt gehabt; beide seien deswegen erschossen worden. Die Umstände und der Tag ihres Todes sind jedoch nicht bekannt.

Ruth Levy als junges Mädchen im Atelier eines Fotographen, undatiert. Sammlung Jürgen Holzapfel, Coppenbrügge

Biographie - Walter Hasselwander

Walter Hasselwander kann als fanatischer Nationalsozialist bezeichnet werden.

 

Hasselwander kam um 1920 nach Coppenbrügge. Seinen Beruf als Viehkaufmann erlernte er hier bei dem jüdischen Viehhändler Sally Weinberg. 1930 trat er der NSDAP bei. Mitglied der SA war er seit 1932. In der NS-Zeit machte er Karriere. Als kommissarischer Ortsgruppenleiter (1934-1936) war es seine Aufgabe, „die Bevölkerung nationalsozialistisch auszurichten“ und den Bürgermeister zu kontrollieren.

Für seinen obsessiven Judenhass finden sich zahlreiche Belege. An den jüdischen Friseur Seligmann schrieb er: „Sie haben sich abfällig über den Malermeister Garlin geäußert. Unterlassen sie das, es könnte schlecht für Sie ausfallen. Sie haben als Jude kein Recht sich über einen Deutschen abfällig zu äußern, zumal derselbe sein Brot ehrlich verdient.“ An den Parteigenossen König, dessen Tochter wiederholt „beim Juden Adler“ gekauft hatte, ging die Warnung: „Die ganze Welt leidet unter der Schlechtigkeit der Juden und unser Führer mit seiner Regierung hat schwere Kämpfe zu bestehen wegen dieser Lumpen. Auch wir hier unten führen den Kampf gegen diese Ausbeuter, da ist es bestimmt nicht angebracht, wenn die Tochter eines Parteigenossen und die Braut eines Pg. [Parteigenossen] zum Juden geht.“

Auf seine Anweisung hin wurden in Coppenbrügge Schilder mit der Aufschrift: „Juden ist der Zutritt in diesem Ort verboten“ angebracht. 1937 bezog Hasselwander eines der neu errichteten Häuser der Adolf-Hitler-Straße (heute Friedrich Beckmann-Straße). Den Posten als Ortsgruppenleiter gab Hasselwander auf, als er 1936/37 „Viehkommissar“ am Schlachthof Hameln werden konnte. Über sein weiteres Leben ist nichts bekannt.

Walter Hasselwander am 1. Mai 1933 beim Aufmarsch der SA in Coppenbrügge in der ersten Reihe als 3. von links. Sammlung Jürgen Holzapfel, Coppenbrügge

Walter Hasselwander im Alter von ca. 42 Jahren, ca. 1924. Sammlung Jürgen Holzapfel, Coppenbrügge

Justizielle Ahndung

Die Entnazifizierungskammer versuchte in zahlreichen Verfahren gegen Coppenbrügger Bürger, Licht in die Vorgänge um die Zerstörung des Friedhofes 1938 zu bringen. Sie stellte fest, dass sowohl Ortsgruppenleiter Hasselwander als auch Bürgermeister Beckmann den Befehl zur Einebnung erteilt hätten. Die Frage nach dem Ursprung der Befehlskette (der Landrat oder die Hamelner SA-Standarte) blieb jedoch ungeklärt. Am Ende wollte die Kammer offenkundig nichts zur Klärung der Verantwortlichkeiten beitragen und ließ vor allem Bürgermeister Beckmann ungeschoren davonkommen. Im Übrigen schenkte sie den Ausflüchten der Vorgeladenen Glauben.

Die Klage der Jewish Trust Corporation gegen Friedrich Beckmann auf Rückerstattung des Geländes des jüdischen Friedhofs wurde 1953 gerichtlich abgewiesen. Friedrich Beckmann, der nach dem Krieg erneut als Bürgermeister amtierte, konnte dem Gericht glaubhaft machen, es habe sich um ein völlig minderwertiges Grundstück gehandelt, das er selbst mühsam verbessert habe. Grundstücke im Verkaufswert von unter 1000 DM wurden damals nicht zurückerstattet.

Spuren und Gedenken

Nach dem Krieg blieb der Friedhof zunächst in Privatbesitz. In zwei Schritten wurde das Gelände weiter verkleinert, zunächst zugunsten der südlich anschließenden Schule. Um 1962 kam es erstmals – auf Kosten des Landes Niedersachsen und ohne jeden Grabstein – zur Neuanlage der leeren Fläche als Friedhof. Damals setzte der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen einen Gedenkstein.

Versuche des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden, das Gelände zu kaufen, blieben vergeblich. Friedrich Beckmann war immerhin dazu bereit, das weiter in seinem Besitz befindliche Grundstück an den Flecken zu verpachten, der wiederum das Teilstück, auf dem der Gedenkstein stand, an den Landesverband unterverpachtete. Bedingung war, dass der Landesverband den über den Friedhof führenden öffentlichen Weg dulden musste. 1977 kaufte der Flecken Coppenbrügge das Grundstück und trennte gleichzeitig den östlichen Teil des Geländes (ca. ein Viertel der Fläche) zur Errichtung einer Bushaltestelle ab.

Exkursionen, Vorträge und Seminare von Bernhard Gelderblom in den Jahren 1989, 1994 und 1998 stießen auf wachsendes Interesse der Einwohner. Im Anschluss an das Seminar 1998 kam es zu einer Petition Coppenbrügger Bürger, die eine Rückgabe der Fläche an den Landesverband der Jüdischen Gemeinden forderten sowie die Rückführung der alten Torpfosten und die Aufstellung einer Informationstafel. Alle drei Punkte konnten in der Folge umgesetzt werden. Die Informationstafel wurde am 9. November 1998 eingeweiht. Sie enthält auch die Namen der aus Coppenbrügge stammenden Deportierten.

In Vorbereitung auf eine Buchpublikation gab Bernhard Gelderblom am 10. September 2015 einen „Werkstattbericht“ insbesondere zu den Ereignissen in Coppenbrügge in der NS-Zeit. Die Publikation „Die Juden von Coppenbrügge“ wurde am 10. November 2016 im Ort vorgestellt. Sie will nicht nur an die Opfer erinnern, sondern beschreibt auch das Handeln derer, die als Täter oder Mitläufer zum Geschehen beigetragen haben. Der Flecken Coppenbrügge war bereit, die Druckkosten zu tragen.

Gedenkstein des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen von ca. 1962, 2005. Foto: Bernhard Gelderblom

Weiterführende Literatur und Links

Bernhard Gelderblom, Ortsartikel Coppenbrügge, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bände, Göttingen 2005, S. 429-435.

Bernhard Gelderblom, Die Juden von Coppenbrügge, Holzminden 2016.

Orte der Erinnerung für die Opfer des Nationalsozialismus im Kreis Hameln-Pyrmont und angrenzenden Orten: Coppenbrügge

http://www.geschichte-hameln.de/erinnerungsorte/coppenbruegge.php?ort=coppenbruegge

Die Dokumentation der Opfer der NS-Herrschaft in der Stadt Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont: Deportierte jüdische Bürger aus Coppenbrügge

http://www.geschichte-hameln.de/gedenkbuch/gedenkbuch.php

Der jüdische Friedhof Coppenbrügge

http://www.gelderblom-hameln.de/judenhameln/friedhoefe/judenfriedcoppenbruegge.php?name=coppenbruegge

 

Autor: Bernhard Gelderblom, Hameln

1938 in Niedersachsen

Polle

Vorgeschichte

Die ersten Juden in Polle, einer kleinen hannoverschen Exklave inmitten braunschweigischer und lippischer Gebiete, sind für das Jahr 1671 nachweisbar. 1825 lebten fünf jüdische Familien im Ort. Hausbesitz war selten und sollte die Ausnahme bleiben.

Das Steueraufkommen der jüdischen Familien war gering. Von sechs jüdischen Familien, die 1856 in Polle wohnten, zahlten drei keine Steuern, waren also arm. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts blieb die Rechtsstellung der Poller Juden schlecht.

Die volle Gleichberechtigung brachte das Jahr 1867 mit dem Ende des Königreiches Hannover und der von Preußen beeinflussten großzügigen Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes. Mit diesem Datum beginnt der Aufstieg der Poller Juden.

1873 finden sich fünf Hausbesitzer, später vier. Es gab in Polle mindestens zwei offene Ladengeschäfte. Die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren die Blütezeit der jüdischen Gemeinde Polle.

Ein gemieteter Betsaal in einem Hinterhaus ist seit 1843 in Polle nachweisbar. 1872 wurde ein Jude Schützenkönig, ein Hinweis darauf, dass das Zusammenleben von Christen und Juden in Polle harmonisch verlief.

Die Landflucht setzte in Polle, das keinen Bahnanschluss bekam und verkehrstechnisch sehr ungünstig lag, sehr früh ein. Seit 1912 lebte nur noch eine Familie am Ort, die Familie Max Nachmann. Ohne eine formelle Auflösung war die jüdische Gemeinde erloschen.

 

Landzeitung Nr. 58, 1872. Sammlung Bernhard Gelderblom

Die Ereignisse im November 1938

Am 9. oder 10. November 1938 versammelten sich Poller Bürger vor dem Nachmannschen Wohn- und Geschäftshaus in der Burgstraße 27, zertrümmerten mit Steinen die Fensterscheiben der im ersten Stock liegenden Wohnung und verwüsteten diese. Unter den Steinewerfern sollen zahlreiche Kinder gewesen sein; wer am besten warf, bekam einen Bonbon.

Am 10. November 1938 gegen 9 Uhr morgens lieferten Poller SA-Männer die Eheleute Max und Minna Nachmann in das Gefängnis Bodenwerder ein. Als Grund war „Schutzhaft“ angegeben. Bei ihrer Einlieferung hatte man ihnen verschiedene Gegenstände abgenommen (u. a. Bargeld, eine Taschenuhr mit Kette, drei Schlüssel).

Die Anordnung kräftige und gesunde Männer zu verschleppen, hatte die Poller SA in ihrem Übereifer übersehen. Max Nachmann war damals 73 Jahre alt und schwer krank. Frauen sollten gar nicht festgenommen werden.

Am nächsten Tage wurden die beiden wieder frei gelassen und konnten nach Polle zurückkehren. Auch die beschlagnahmten Gegenstände wurden ihnen wieder ausgehändigt.

Protokoll über die Einlieferung von Max und Minna Nachmann in das Gefängnis Bodenwerder. Am Ende des Blattes befindet sich der handschriftliche Zusatz:
„Die aufgeführten Gegenstände sind mir heute wieder ausgehändigt. Bod. (= Bodenwerder), d. 11.11.38, gez. Max Nachmann.“ Sammlung Bernhard Gelderblom

Auf dem jüdischen Friedhof, der in extremer Lage auf dem Birkenberg hoch über dem Ort liegt, sollen 40 – 50 Grabsteine gestanden haben. Die Einfriedung des Grundstücks bestand aus aufrecht stehenden großen Sandsteinplatten. Einige Tage nach dem 10. November 1938 wurde der Friedhof von der örtlichen SA zerstört, die zahlreichen Steine abgefahren und weiterverwendet. Über ihren Verbleib ist nichts bekannt.

Wohn- und Geschäftshaus von Max Nachmann, Burgstraße 27, 2018. Foto: Bernhard Gelderblom

Folgen

Die Eheleute Nachmann sollen es in der Folge sehr schwer gehabt haben, ihre täglichen Einkäufe zu erledigen. Sie haben ärmlich und völlig zurückgezogen gelebt. Aber sie hatten auch zu dieser Zeit noch Freunde, die halfen.

Nach dem Tod von Max Nachmann 1940 zog Julius Rothenberg, der jüngere Bruder von Minna Nachmann, aus Dassel nach Polle zu seiner Schwester. Das Amtsgericht Bad Pyrmont hatte ihn zu ihrem Pfleger eingesetzt.

Minna Nachmann und ihr Bruder Julius Rothenberg wurden einige Tage vor dem 24. Juli 1942 auf Anordnung des Landrats von Hameln-Pyrmont aus Polle nach Hannover-Ahlem verschleppt. Laut Augenzeugen wurden mit einem PKW abgeholt.

Die neunundsiebzigjährige Minna starb wenige Tage nach ihrer Ankunft am 3. August 1942 in Theresienstadt, ihr sechs Jahre jüngerer Bruder wenige Monate später am 25. Dezember 1942.

Möbel, Bilder und Hausrat der letzten jüdischen Familie des Ortes wurden öffentlich versteigert, das Geld an das Finanzamt Hameln abgeführt.

Biografie - Max Nachmann

Die Familie Nachmann ist wahrscheinlich die älteste jüdische Familie Polles. Die „Manufaktur- und Modewarenhandlung Nachmann Meyer Nachmann“ übernahm der 1865 geborene Max Nachmann von seinem Vater. Um 1900 baute er das Haus in der Burgstraße 27 als Wohn- und Geschäftshaus.

Max Nachmann war mit Minna Rothenberg aus Dassel verheiratet. Zwei Töchter waren früh verstorben. Sohn Robert (geb. 1896) verließ Polle und etablierte sich in Oerlinghausen mit einem Produktengeschäft.

Die Familie lebte bescheiden. Minna Nachmann hat nicht koscher gekocht. Für ihren Mann war es selbstverständlich, das Geschäft am Sabbat zu öffnen. Weihnachten feierte die Familie zusammen mit befreundeten christlichen Familien des Ortes. Bis 1933 sollen Nachmanns im Bewusstsein des Ortes gar nicht als Juden präsent gewesen sein.

Das Kleidergeschäft ging gut und war wegen der Qualität seiner Waren bekannt. Max Nachmann pflegte mit seinem Musterkoffer auch über die Dörfer zu ziehen. „Schammel“ genannt, sprach er mit den Leuten auf den Dörfern „platt“ und betätigte sich auch als Heiratsvermittler.

Bereits 1922 nahm Max Nachmann seinen Angestellten Wilhelm Klages als Teilhaber auf. 1935 wurde Klages Alleininhaber. Dieser Wechsel sollte das Geschäft vor den üblichen Boykotten schützen.

Der 1935 bereits schwer kranke, 70 Jahre alte Max Nachmann wollte weiter verkaufen. Um nicht gesehen zu werden und um niemanden zu kompromittieren, kam er nach Einbruch der Dunkelheit in die Häuser. Als er denunziert und in Bodenwerder über Nacht eingesperrt wurde und am nächsten Tag die vierzehn Kilometer nach Polle zu Fuß laufen sollte, fanden sich Leute, die dem alten Manne halfen.

Das Geld aus dem Grundstücksverkauf an Max Klages unterlag der Devisenüberwachung durch das Finanzamt, musste auf ein Sperrkonto gehen, aus dem monatlich 300 RM zum Lebensunterhalt ausgezahlt wurden.

1940 erkrankte Max Nachmann so schwer, dass er für eine Operation in das israelitische Krankenhaus in Hannover gehen musste. Dort starb er am 21. April 1940. Max Nachmann wurde auf dem jüdischen Friedhof in Hannover-Bothfeld begraben. Sein Grab hat keinen Stein erhalten.

Max Nachmann (zweite Reihe in der Mitte), undatiert. Sammlung Bernhard Gelderblom

Justizielle Ahndung

Robert Nachmann, der Sohn der Eheleute Nachmann, ist nach dem Kriege nie nach Polle zurückgekommen. Er strengte jedoch gegen Wilhelm Klages einen Prozess auf Wiedergutmachung an, und Klages musste Geld nachzahlen.

Eine juristische Aufarbeitung hat es darüber hinaus nicht gegeben.

Spuren und Gedenken

An das jüdische Leben in Polle erinnert allein der kleine jüdische Friedhof. Das Gelände ist von einem Jägerzaun umfasst und von Birken sowie einer mächtigen Eiche bestanden. Es ist ohne Grabsteine, und auch Reste von Grabfeldern sind nicht erkennbar. Das Grundstück ist im Besitz der politischen Gemeinde Polle, die auch für die Pflege verantwortlich ist.

Auf dem Grundstück steht ein Gedenkstein, wie ihn der Landesverband der jüdischen Gemeinden in Hannover in den sechziger Jahren auch auf anderen „abgeräumten“ Friedhöfen der Umgebung gesetzt hat. Neben einer hebräischsprachigen Inschrift finden sich zwei deutschsprachige Inschriften.

Das 2003 erschienene Buch von Bernhard Gelderblom, Jüdisches Leben im mittleren Weserraum zwischen Hehlen und Polle, widmet Polle auf den Seiten 251-273 eine Darstellung.

Eine Wirkung auf die Erinnerungskultur des Ortes zeigte Bernhard Gelderbloms Vortrag zum Jüdischen Leben in Polle am 25. September 2018. Verabredet wurde u.a. Informationstafel am jüdischen Friedhof aufzustellen und fremdverwendete Grabplatten auf den Friedhof zurückzustellen.

Weiterführende Literatur und Links

Bernhard Gelderblom, Jüdisches Leben im mittleren Weserraum zwischen Hehlen und Polle. Von den Anfängen im 14. Jahrhundert bis zu seiner Vernichtung in der nationalsozialistischen Zeit. Ein Gedenkbuch, Holzminden 2003, S. 251-273

Bernhard Gelderblom, Ortsartikel Polle, in Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bände, Göttingen 2005, S. 1288-1291

Die Dokumentation der Opfer der NS-Herrschaft in der Stadt Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont: Deportierte jüdische Bürger aus Polle

Orte der Erinnerung für die Opfer des Nationalsozialismus im Kreis Hameln-Pyrmont und angrenzenden Orten: Polle

Der jüdische Friedhof Polle

Autor: Bernhard Gelderblom, Hameln

1938 in Niedersachsen

Bad Münder

Die Vorgeschichte

Mitte des 16. Jahrhunderts sind in Münder drei Juden namentlich bekannt. Ab 1700 ist eine jüdische Gemeinde nachweisbar, deren Mitglieder Schutzbriefe vom Amt Springe erhielten. Ein Friedhof ist seit 1782 bezeugt.

1806 und 1814 erwarben Juden Bürgerhäuser, erhielten aber nicht die Bürgerrechte. 1821 gab es 55 Juden im Ort – bei gut 2.200 Einwohnern. Sie handelten mit Vieh, Lederwaren und Getreide, waren im Fleischereigewerbe, als Klempner und als Lotteriekollekteure tätig.

Gottesdienste sind in einem Privathaus seit 1785 belegt. 1835 genehmigte der Rat den Juden, das Bürgerhaus Deisterallee 3 für die Einrichtung einer Synagoge und Mikwe zu erwerben. Die Absicht, dort auch eine Schule einzurichten, konnte zunächst nicht realisiert werden.

Die meisten Juden der Stadt waren „dürftig bis arm“. Allein vier Familien, darunter zwei mit Hausbesitz, waren in der Lage, sich an den Gemeindeabgaben zu beteiligen und wurden als einigermaßen wohlhabend bezeichnet.

1906 lebten noch 28 jüdischer Einwohner in Münder. Bis 1930 sank die Zahl auf 19 Personen (Familien Windmüller, Friedheim, Herzberg und Hammerschlag).

Die Reichstagswahlen vom 5. März 1933 brachten der NSDAP mit 50,2 Prozent der Stimmen ein in der Region überdurchschnittliches Ergebnis.

1935 waren noch neun Juden in Münder sowie ein weiterer im benachbarten Hachmühlen ansässig. Hinzu kamen zwei so genannte Jüdische Mischlinge Ersten Grades in Eimbeckhausen. Obwohl im Zeitraum 1935-1939 drei Personen starben, stieg die Zahl der jüdischen Einwohner in Münder durch Zuzüge in diesem Zeitraum leicht an. 1939 gelang zwei Personen die Flucht ins Ausland.

 

Die Ereignisse im November 1938

Die Synagoge war ein hoher Raum mit Rundbogenfenstern und einem blauen Sternenhimmel unter der Decke. An der östlichen Wand befand sich der Schrein zur Aufbewahrung der Thorarolle, im Westen die Empore für die Frauen. Im Nachbargebäude war zeitweise die Schule der Gemeinde untergebracht.

Am 9. November 1938 zerstörten ortsansässige SA-Männer gemeinsam mit einem SA-Führer aus Springe die Fenster und demolierten das Innere der Synagoge. Wegen der Gefährdung der benachbarten Häuser konnten sie das Gebäude nicht in Brand setzen, und da im angrenzenden, ebenfalls der jüdischen Gemeinde gehörenden Wohnhaus eine nichtjüdische Familie lebte, blieb auch dieses verschont. Eine Zeitzeugin, damals Schülerin, berichtete, von der Schule aus seien die Kinder zum zerstörten „Judentempel“ geführt worden.

Die Polizei stellte die Personenstandsregister sicher und übergab sie der Staatspolizeileitstelle Hannover. Der Verbleib der Kultgegenstände, vor allem der Thorarolle lässt sich nicht mehr nachvollziehen.

Ehemaliges Wohnhaus (links) und ehemalige Synagoge (rechts) der jüdischen Gemeinde Bad Münder, 2010. Foto: Bernhard Gelderblom

In diesem Gebäude befand sich seit 1835 die Synagoge der jüdischen Gemeinde von Münder. Rekonstruktion der Straßenseite (Südansicht). Das hochgestellte Fenster bezeichnet den Ort der Frauenempore. Zeichnung: Beth Tfila, TU Braunschweig, Fachgebiet Baugeschichte

Folgen

Gemäß Weisung wurden drei jüdische Männer nach Buchenwald verschleppt, aus Bad Münder Louis Windmüller und Hermann Friedheim, aus Hachmühlen Walter Kosterlitz. Nach seiner Rückkehr aus Buchenwald musste Louis Windmüller den jüdischen Besitz an Immobilien verkaufen. Das betraf das eigene Haus und den Besitz der Gemeinde an der Synagoge und dem Friedhof.

Für den Verkauf von Synagoge und Friedhof hatte Louis Windmüller Friedrich Wingerter als Käufer gewinnen können, der in dem der Synagoge benachbarten Wohnhaus im Erdgeschoss zur Miete wohnte. Das im Kaufvertrag vorgesehene lebenslange Wohnrecht für die beiden jüdischen Schwestern Frieda und Henny Hammerschlag wurde vom Regierungspräsidenten abgelehnt. Die Synagoge diente in der Folge als Lagerraum einer Spedition.

Die Bad Mündener Juden wurden 1942 in drei Transporten deportiert. Am örtlichen Feuerlöschteich mussten sie unter den Augen der Bevölkerung auf einen LKW steigen, der sie zunächst nach Hannover-Ahlem transportierte. Von dort wurden sie in den Osten deportiert und ohne Ausnahme ermordet.

Der Friedhof war ein ursprünglich sehr großes, weit vor der Stadt liegendes Grundstück (fast 2.500 qm). Nach der Pogromnacht ging die unbelegte Hälfte des Geländes in den Besitz von Friedrich Wingerter über. Mit der Begründung, dass er jedem Kurgast und Spaziergänger störend ins Auge falle, beantragte der Mündener Bürgermeister Kleineck 1939 die Einebnung des Friedhofs und die Errichtung eines Kleinkaliberschießstandes. „Judenleichen“ aus Bad Münder sollten künftig auf dem abgelegenen Friedhof in Lauenau bestattet werden.

Der Regierungspräsident ordnete daraufhin die Schließung des Friedhofs an. Eine „Umnutzung“ des Geländes für einen Schießstand lehnte er aber ab, weil die „vorgeschriebene Verwesungszeit“ noch nicht abgelaufen sei. 1941 kaufte Wingerter auch den restlichen Teil des Friedhofes. Entgegen der im Kaufvertrag eingegangenen Verpflichtung, „während der Liegezeit die angemessene Instandhaltung von Friedhof und Gräbern vorzunehmen“, wurde das Gelände eingeebnet und als Gemüsegarten genutzt.

Biographie – Familie Friedheim

Die Familie Friedheim war eine der ältesten jüdischen Familien der Stadt, die seit 1850 fast ununterbrochen die Gemeindevorsteher stellte. Arnold Friedheim besaß um 1909 das größte Konfektionsgeschäft der Stadt.

1933 lebten in Münder die Eheleute David und Emma Friedheim mit ihrem 25 Jahre alten Sohn Hermann in der Obertorstraße 10. Nachdem David 1935 verstorben war, wechselten seine Witwe und ihr Sohn mehrfach in Münder den Wohnort.

Im Anschluss an die Pogromnacht wurde Hermann Friedheim in das KZ Buchenwald verschleppt. Nach seiner Rückkehr musste er den Viehhandel aufgeben.

Im August 1939 heiratete er Sophie Culp aus Hameln. Diese war 1909 als Tochter von Benjamin und Rosa Culp geboren worden. Ihr Vater hatte sich evangelisch taufen lassen, während ihre Mutter Rosa am Judentum festhielt. Auch Sophie war evangelisch getauft. Die Volkszählung des Jahres 1939 hatte sie wegen der jüdischen Großeltern allerdings als Jüdin erfasst.

Sophie Culp blieb lange unverheiratet und lebte in der sehr ärmlichen Wohnung ihrer Mutter Rosa in Hameln. 1936 hatte sie die Tochter Ingrid zur Welt gebracht. Der Vater war ein Hamelner „Arier“. Dessen Familie soll auf der Trennung von der jüdischen Frau bestanden haben. Die Nürnberger Gesetze verboten Heiraten zwischen Juden und Ariern.

Sophie und Ingrid Friedheim mit Oma Rosa Culp, Weihnachten 1939. Sammlung Bernhard Gelderblom

Nach der Heirat zog Sophie mit ihrer Tochter zum Ehemann nach Bad Münder. Am 1. Juli 1942 wurde die Familie in das „Judenhaus“ in Hannover-Ahlem eingeliefert. Dort mussten die Eltern Zwangsarbeit leisten. Acht Monate blieben Friedheims im völlig überfüllten Ahlem.

Am 2. März 1943 wurde die Familie nach Auschwitz deportiert. Hermanns Todesdatum wird im Gedenkbuch des Bundesarchivs mit dem 5. Juli 1943 angegeben. Auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau war er für „arbeitsfähig“ befunden und von seiner Frau und ihrer Tochter getrennt worden. Mütter mit kleinen Kindern wurden sofort in die Gaskammer geschickt.

Hermann Friedheim, undatiert, Sammlung Bernhard Gelderblom

Justizielle Ahndung

Eine juristische Aufarbeitung hat es nicht gegeben.

Spuren und Gedenken

1953 erhielt der Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen einen 937 qm großen Teil des Friedhofsgrundstücks zurück. Ohne Kenntnis der ursprünglichen Standorte der Grabsteine ließ dieser 1961 den Friedhof wiederherstellen. Von den 1939 vorhandenen 39 Steinen konnten 28 gesichert und wieder aufgestellt werden.

An das vernichtete jüdische Leben in Münder erinnerte allein eine Tafel, die 1988 versteckt im Hauseingang am Standort der ehemaligen Synagoge angebracht worden war. Eine reflektierte Erinnerungskultur begann am 9. November 2010 mit einem Vortrag von Bernhard Gelderblom über das jüdische Leben in Bad Münder. Eine Führung über den jüdischen Friedhof schloss sich 2011 an.

In der Folge konstituierte sich eine Arbeitsgruppe, der neben weiteren Personen der Bürgermeister, die örtliche Landtagsabgeordnete, der evangelische Pastor und Bernhard Gelderblom angehörten. Sie beschloss, am Ort der ehemaligen Synagoge, am Löschteich als dem Ort der Deportationen und am jüdischen Friedhof Informationstafeln aufzustellen. Diese wurden am 15. September 2014 unter großer Beteiligung der Bevölkerung eingeweiht.

Am 23. September 2015 legte Gunter Demnig in Bad Münder acht Stolpersteine und im benachbarten Hachmühlen einen Stolperstein.

Stolpersteine für Eugen und Hedwig Chana Herze sowie für Hermann und Sophie Friedheim und für Ingrid Friedheim, 2015. Foto: Bernhard Gelderblom

 

Weiterführende Literatur und Links

Anke Quast, Ortsartikel Münder, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bde., Göttingen 2005, S. 1082-1086.

Heiko Arndt, „Kampfzustände“. Alltag, Streit und Radikalisierung im nationalsozialistischen Bad Münder, Bielefeld 2014.

Dokumentation der Opfer der NS-Herrschaft in der Stadt Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont: Deportierte jüdische Bürger aus Bad Münder

http://www.geschichte-hameln.de/gedenkbuch

Orte der Erinnerung für die Opfer des Nationalsozialismus im Kreis Hameln-Pyrmont und angrenzenden Orten: Bad Münder

http://www.geschichte-hameln.de/erinnerungsorte/badmuender

Der jüdische Friedhof Bad Münder

http://www.gelderblom-hameln.de/judenhameln/friedhoefe/judenfriedmuender

Autor: Bernhard Gelderblom, Hameln

1938 in Niedersachsen

Salzhemmendorf

Vorgeschichte

Erste Nachrichten über Juden in Salzhemmendorf gehen auf das 17. Jahrhundert zurück. Im 19. Jahrhundert lebten durchschnittlich fünf bis sechs Familien am Ort, davon waren drei bis vier im Besitz eines Hauses. Die Gemeinde verfügte über ein Synagogengebäude, das zugleich als Schule und Lehrerwohnung diente.

Als wegen der starken Landflucht die Schule 1903 geschlossen wurde und die Lehrerwohnung leer stand, mietete die Familie des Schlachters Davidsohn – die letzte in Salzhemmendorf verbliebene jüdische Familie – das Synagogengebäude. Gottesdienst wurde weiter gehalten; aber nebenan wurde unter der Woche Fleisch verkauft.

Robert Davidsohn übernahm nach seiner Entlassung aus dem Heer 1919 die Schlachterei und den Viehhandel des Vaters. Zeitzeugen beschreiben ihn als typischen „Landjuden“: Er schlachtete vor allem Ziegen und Schweine, zog über Land in die benachbarten Dörfer, das Zugseil der Ziegen um den Bauch gebunden, kaufte und verkaufte. Alles sei recht bescheiden zugegangen. Robert wird als klein, gesetzt und von breiter Figur beschrieben. Er sei beliebt, ein „feiner Kerl“ und im Dorf integriert gewesen. 1930 baute er auf dem Hof des Grundstücks ein modernes Schlachthaus.

Erich, das einzige Kind der Eheleute, wurde 1922 in Hannover geboren. Außerdem lebte seit 1927 die Tochter von Elfriede Davidsohns Schwester, Juliane Guttmann, im Haushalt, die zwei Jahre jünger als Erich war.

Seit 1935 bemühten sich Davidsohns um die Auswanderung. Robert plante eine Ansiedlung als Landwirt in Argentinien. Um dafür eine Zulassung zu bekommen, musste die Familie spezielle Kenntnisse nachweisen. Ihren Sohn schickten die Eltern deswegen für drei Monate auf ein Hachschara-Lager in Schlesien.

1913 zog die Familie Heilbronn aus dem nahen Wallensen zu. Die Familie war wohlhabend und gesellschaftlich integriert („Sie hatten guten Verkehr, alles nur mit der Obrigkeit“). Sohn Moritz war Mitglied im Salzhemmendorfer Männergesangsverein „Harmonia“.

1922 kauften Vater Carl und Sohn Moritz Heilbronn ein fast 2000 qm großes Grundstück und errichteten darauf ein stattliches Wohn- und Geschäftshaus. Wegen der beginnenden Industrialisierung in Salzhemmendorf konnte sich das Manufakturwarengeschäft gut entwickeln.

Moritz fuhr auch mit dem Auto über Land, um Kunden in ihren Häusern aufzusuchen. Umsatzeinbußen durch die Boykotte versuchte er durch vermehrte Direktverkäufe zu kompensieren.

1935 starb Moritz im Stadtkrankenhaus in Hannover an akutem Herztod. Laut Aussage seiner Witwe Gertrud „… überstand (er) nicht die Verfolgung der damaligen Regierung mit den damit verbundenen Nöten und Sorgen“. Auch Zeitzeugen betonen, er sei aus Gram wegen der Vernichtung seines Geschäftes gestorben.

Gertrud Heilbronn versuchte nach dem Tod ihres Mannes vergeblich, das Geschäft weiter zu führen. 1937 ordnete das Amtsgericht Lauenstein die Zwangsversteigerung an. Die Kreissparkasse ersteigerte das Grundstück für 24.000 RM. Gertrud Heilbronn zog anschließend zu ihrer Mutter nach Clausthal-Zellerfeld.

 

Das Synagogengebäude in der Kampstraße 9. Zeichnung von Alfred Kalz, undatiert. Der Raum im Erdgeschoss rechts hinter den beiden Fenstern diente zum Gottesdienst. Sammlung Bernhard Gelderblom

Die Ereignisse im November 1938

Am 12. Oktober 1938 schlossen die Behörden das Geschäft von Robert Davidsohn. Am 10. November 1938 um 5 oder 6 Uhr morgens zerschlug SA die Fensterscheiben des Synagogenraumes und zertrümmerte die Inneneinrichtung. Nach Aussagen von Zeitzeugen waren örtliche SA-Männer die Täter; andere nennen die SS aus Lauenstein.

Robert Davidsohn wurde am folgenden Tage zusammen mit dem 16-jährigen Erich zuerst in das Zuchthaus Hameln und dann in das KZ Buchenwald verschleppt. Robert erhielt im KZ zahlreiche Schläge auf den Kopf und Tritte in die Leisten und beklagte später einen doppelten Leistenbruch und Hörschäden.

Weil sie sich im Ort „stark angefeindet“ fühlte, ging Elfriede Davidsohn mit der 14-jährigen Adoptivtochter Juliane nach Hannover zu ihrer Schwester. Eine befreundete Familie brachte die beiden zum Bahnhof nach Voldagsen.

Der Friedhof, ein langgezogener, von einer Hecke umgebener Geländestreifen am südöstlichen Ortsrande, wurde ebenfalls am 9. November 1938 zerstört.

Folgen

Wegen eines Zahlungsbefehls des Landwirts Heinrich Schäfer, dem Robert 1.000 RM schuldete, verschaffte sich Bürgermeister Heinrich Eickhoff in der Zeit der Abwesenheit der Familie Davidsohn Zugang zum Haus. Teile der Fleischerei ließ er pfänden und anschließend versteigern. Nach Aussagen von Elfriede Davidson wurden aber auch Teile ihrer Aussteuer gepfändet. Ob es darüber hinaus – wie Davidsohns glaubten – einen Einbruch und eine Plünderung der Einrichtung gegeben hat, wird sich nicht mehr klären lassen.

Das Haus verkaufte Elfriede Davidsohn als Bevollmächtigte der israelitischen Gemeinde an den Landwirt Konrad Mäkeler. Der Synagogenraum soll ihm als Schweinestall gedient haben. Aus dem Holz der zerschlagenen Synagogenbänke hätten Mäkelers eine neue Bank gebaut, die sie „Judenbank“ nannten.

Robert Davidsohn wurde am 12. oder 13. Dezember 1938 – eine Woche nach seinem Sohn – aus dem KZ Buchenwald entlassen. Die Familie zog nach Hannover zur Schwester von Elfriede Davidsohn. Einige Möbel und Kleidung hatte sie aus Salzhemmendorf mitnehmen können.

Beide Männer mussten Zwangsarbeit leisten. Robert intensivierte nun seine Bemühungen um Auswanderung. Am 16. Juni 1939 – wenige Wochen vor Hitlers Überfall auf Polen – schifften sich Robert und Elfriede Davidsohn sowie Juliane Guttmann in Hamburg zur Fahrt nach Buenos Aires ein. Im Gepäck führten sie die wertvolle Thorarolle der Salzhemmendorfer Synagoge mit. In Argentinien erhielten Davidsohns ein Stück unbestelltes Land mit einem Wohnhaus sowie ein Pferd und eine Kuh. Die Anfänge waren hart.

Gertrud Heilbronn gelang sehr spät die Ausreise. Anfang Mai 1941 fuhr sie per Bahn von Berlin nach Lissabon. Dort musste sie zwei Wochen warten. Da das Schiff wegen des Krieges eine andere Route einschlagen musste, dauerte die Fahrt mit der portugiesischen „Guinèe“ von Lissabon nach New York drei Wochen. Am 21. April 1941 erreichte sie schließlich New York.

Robert Davidsohn, zwei Tage nach seiner Entlassung aus dem KZ Buchenwald, 1938. Mel Davidsohn, Großbritannien

Biografie - Erich Davidsohn

Dass Erich Davidsohn als Jude in Deutschland unerwünscht war, bekam er zu spüren, als er Ostern 1935 eine Lehrstelle suchte. Er schreibt:

„Ich war auf einige Wochen bei einem Baumeister in Salzhemmendorf, aber es wurde Druck auf ihn ausgeübt, mich zu entlassen.Da ich keine Auswahl hatte, ging ich in die Lehre bei meinem Vater […] . Diese Ausbildung dauerte aber nicht lange, denn im Jahr 1938 wurde das Geschäft geschlossen.“

Die Kreisberufsschule schloss Erich 1936 vom Besuch aus. Dafür war eigens die Satzung der Schule geändert worden. Der § 1 Ziffer 1 der Kreisberufsschulsatzung erhielt 1936 den Wortlaut:

„Zum Besuche der für den Bezirk des Kreises Hameln-Pyrmont errichteten Berufsschulen sind verpflichtet: Alle […] reichsangehörigen Jugendlichen deutschen oder artverwandten Blutes […] unter 18 Jahren. Hameln, den 11. September 1936, Lambert. Landrat.“

In Erichs Erinnerungen liest sich der Ablauf der Ereignisse des 9. November folgendermaßen:

„On the morning […] at approx. 6 am about 4 men in brown SA-uniforms and the local policeman came into the synagogue and the 4 men smashed the benches and threw the books about – but didn’t touch the Ark or the curtain in front of it [= den Thoraschrein]. The policeman stood by, but did not touch anything. The big fellows didn’t have much trouble breaking the benches which were old and fragile.

[…] Nothing else in the house was touched and my parents thought that this was because of the policeman’s influence, who told us to stay indoors.“

Über den Aufenthalt im KZ Buchenwald schreibt er:

„We were separated in our own compound which consisted of 5 huge huts each accommodating 2000 men. In the huts was a shelving system for use as beds, into which we crawled – about 8 shelves [= Regal] each about 27 inches high and we could not sit up in them. […]

The first food was brought the next morning. It consisted of one army loaf [= Laib Brot] between 6 to 8 of us and one cup of liquid which was called coffee. Lunchtime we got some sort of broth [= Brühe] which was made from either fish or meat. Those who were very frum were told by the Rabbi’s to eat whatever was given – some did and some only ate the breads. […]

During the day we had to leave the huts and either stand in line and not move or sit all day cross-legged and not move – a very subtle living torture. There were daily beatings whenever guards felt like it. Bloody heads were common. Lots of men, in particular the older ones, died under those conditions. There were quite a few doctors and they did what they could. In fact, they did an appendix operation and the man survived! There were too many incidents to recall. Of course, we saw lots of men dying. There were gruesome incidents which I don’t want to recall here.“

Möglicherweise wegen seines jugendlichen Alters konnte Erich das KZ Buchenwald verhältnismäßig früh verlassen. Seine Entlassung schildert Erich folgendermaßen:

„After the first week names were called and releases started. On the morning of 6 December my name was called. You had to rush to the gate or miss being released. A quick farewell with my father and I was away. We had to stand in line near the offices all day and not move. No food was given and, worst of all, we couldn’t go to the toilet. We were then given money for the rail fare and were bussed to the station. Several of us got on the train direct to Hanover and we arrived in the middle of the night. The other people on the train kept well away from us, possibly because they knew who we were and where we had been. And, of course, we were very dirty and literally stank. […]

My mother had gone to the local Gestapo every day asking for my father’s and my release. After the welcoming was over I had a little food and drink. The dirty clothes came off and into a bath and some sleep. Next day we had to report to the Gestapo and my mother and I had to sign that I was hale [= gesund] and hearty.“

Überraschend gelang Erich am 6. Februar 1939 die Auswanderung nach England. Seine Mutter hatte ihn, während er im KZ Buchenwald einsaß, dafür angemeldet.

Nach der Landung in Harwich kam Erich in das Kitchener Camp. Das Arbeitsamt vermittelte ihn als Landarbeiter und er musste gegen Kost und Logis arbeiten. Nur unregelmäßig erreichten ihn Briefe seiner Eltern aus Argentinien. Er hat sie nie wieder gesehen.

 

Erich Davidsohn, wenige Tage nach seiner Entlassung aus dem KZ Buchenwald, 1938. Mel Davidsohn, Großbritannien

Justizielle Ahndung

Vor dem Wiedergutmachungsgericht beim Landgericht Hannover kam es 1950 bis 1953 zu einem gerichtlichen Verfahren „Heilbronn gegen Kreissparkasse Hameln“. Die Jewish Trust Corporation hatte einen Rückerstattungsanspruch angemeldet. Der Ausgang des Verfahrens war nicht in Erfahrung zu bringen. Die Kreissparkasse durfte das Haus behalten.

Auch Davidsohns versuchten, Entschädigungsleistungen zu bekommen. In den mehrere Jahre dauernden Auseinandersetzungen betonte die Gemeinde Salzhemmendorf, die als Zeugin gehört wurde, beharrlich, Roberts Laden sei klein und „primitiv“ gewesen. Bis 1930 habe er nur mit Schrott, Ziegen und Ziegenlämmern gehandelt. Danach habe er höchstens ein Schwein pro Woche und ein Großtier alle sechs Wochen geschlachtet. Die Schäden des 9. November 1938 hätten sich auf den Synagogenraum beschränkt, und bei der Zwangsvollstreckung seien nur Fleischereigegenstände, nicht aber Privateigentum versteigert worden.

Es will aus heutiger Sicht nicht einleuchten, warum es Davidsohns von der Gemeinde Salzhemmendorf so schwer gemacht wurde, wenigstens die materiellen Schäden, die sie erlitten hatten, erstattet zu bekommen.

Die Wiedergutmachungskammer erkannte schließlich auf eine einmalige Zahlung an Robert in Höhe von 4.222,80 DM für „Schäden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen“. Seit 1956 erhielt Robert außerdem eine Rente in Höhe von monatlich 270 DM.

 

Spuren und Gedenken

Nach 1945 wurden 17 Steine des Friedhofs, die sich erhalten hatten, wieder aufgestellt. 1955 wurden sie erneut umgekippt. Seitdem sind sie in Beton eingegossen, was in mehreren Fällen dazu geführt hat, dass Teile der Inschriften nicht mehr lesbar sind. Leere Grabfelder, aber auch sonstige Lücken weisen darauf hin, dass nicht wenige Steine vom ursprünglichen Bestand fehlen.

Heute ist der Friedhof im Besitz des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen. Mit seinem vergleichsweise reichen Bestand an Steinen ist er einer der wertvollsten Zeugnisse der jüdischen Friedhofskultur im Landkreis Hameln-Pyrmont.

Im Jahre 2009 verabredete die Gemeinde Salzhemmendorf mit Bernhard Gelderblom Recherchen zum jüdischen Leben in den Gemeinden des Fleckens Salzhemmendorf. In jedem Ort des Fleckens, in dem es jüdisches Leben gegeben hatte, also in Duingen, Wallensen, Lauenstein und in Salzhemmendorf, sollte Gelderblom einen Vortrag halten. Die Gemeinde wollte ihrerseits die Einwohnermeldelisten und die Standesamtsunterlagen durchsehen und eine Publikation bezuschussen.

Über seine Ergebnisse für Salzhemmendorf berichtete Bernhard Gelderblom am 9. April 2010 in einem Vortrag. Das war der Start für eine reflektierte Erinnerungskultur im Ort.

Als erstes wurde eine Tafel am Rathaus angebracht, die daran erinnert, dass die jüdische Familie Heilbronn das Haus erbaut und als Kaufhaus genutzt hat. Im Wege eines Grundstückstausches war das Haus 1966 von Kreissparkasse an den Landkreis Hameln-Pyrmont gekommen und anschließend an den Flecken verkauft worden. Seitdem wurde es als Rathaus genutzt.

Das ehemalige Heilbronnsche Kaufhaus als Rathaus des Fleckens, 2008. Foto: Bernhard Gelderblom

Eine Informationstafel am jüdischen Friedhof wurde am 15. Juni 2012 unter reger Beteiligung der örtlichen Schule eingeweiht. Die Gemeinde Salzhemmendorf erklärte sich zur Pflege des Friedhofs bereit.

Im Jahre 2013 wurde die Publikation von Bernhard Gelderblom „Die Juden in den Dörfern des Fleckens Salzhemmendorf“ in Salzhemmendorf vorgestellt.

Die Gedenktafel für die ehemalige Synagoge wurde am 23. Januar 2015 vor dem Haus in der Kampstraße eingeweiht.

Am 19. April 2016 legte Gunter Demnig in Erinnerung an die Familien Heilbronn und Davidsohn Stolpersteine. Zer Verlegung waren Angehörige der Familie Davidsohn aus Großbritannien nach Salzhemmendorf gekommen.

 

 

Bodo Riethmüller vom Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, Karl-Heinz Grießner, Mitglied im Rat des Fleckens Salzhemmendorf, und Bernhard Gelderblom am 22. Juni 2010 bei der Anbringung der Tafel, 2010. Sammlung Bernhard Gelderblom

Weiterführende Literatur und Links

Gelderblom, Bernhard, Salzhemmendorf, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bde., Göttingen 2005, S. 1336-1344.

Ders., Die Juden in den Dörfern des Fleckens Salzhemmendorf, Holzminden 2013, 78-115.

Orte der Erinnerung für die Opfer des Nationalsozialismus im Kreis Hameln-Pyrmont und angrenzenden Orten: Salzhemmendorf

Die Dokumentation der Opfer der NS-Herrschaft in der Stadt Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont: Deportierte jüdische Bürger aus Salzhemmendorf

Der jüdische Friedhof Salzhemmendorf

Autor: Bernhard Gelderblom, Hameln

1938 in Niedersachsen

Hemmendorf

Vorgeschichte

In dem verkehrsgünstig liegenden Ort war die Zahl der jüdischen Einwohner mit etwa vier Prozent stets recht hoch. Hausbesitz war selten und wurde von der Regierung für Juden erschwert. Ihre eigene Synagoge musste die Gemeinde aufgeben, als die Regierung 1844 Salzhemmendorf als Ort einer zentralen Synagoge und Schule bestimmte. Ein Friedhof befindet sich außerhalb des Ortes in Richtung Salzhemmendorf.

Um 1900 lebten drei jüdische Familien in Hemmendorf, alle in eigenen Häusern an der Hauptstraße, alle Kaufleute.

Max Catzenstein betrieb einen Handel mit Textilien. Nach seinem Tod 1931 verpachtete seine Frau Emilie den Laden. Die Familie war recht wohlhabend. Der gesellschaftliche Kontakt zu den Bewohnern war wenig ausgeprägt. Die inzwischen erwachsenen Kinder hatten den Ort verlassen.

Die Familie Zeckendorf lebte seit vier Generation im Ort. Karl (geb. 1884) übernahm als ältester von fünf Geschwistern das Haus und den Laden mit „Kolonialwaren“ und Textilien. Er war ein kleiner, stämmiger Mann, der mit Fahrrad samt Anhänger über Land fuhr. Mit seiner Frau Frieda (geb. 1889) hatte er eine Tochter, die 1925 geborene Hannelore, auffallend dunkelhaarig wie die Mutter.

Dazu lebten in Hemmendorf zwei unverheiratete Schwestern von Karl, Margarete (geb. 1886) und Thekla (geb. 1890). Thekla war bis 1938 Kontoristin bei der Wesermühle gewesen. Eine weitere Schwester wohnte in Köln. Das fünfte der Geschwister Zeckendorf, Julius Zeckendorf, war im Ersten Weltkrieg gefallen.

Die Familie Adolf Plaut kam 1889 nach Hemmendorf und kaufte damals das Haus 38. Nach dem Tod von Adolf Plaut führte seine Witwe Karoline (geb. 1859) mit der unverheirateten Tochter Klara (geb. 1890) das Textilgeschäft weiter. Die jüngere Tochter Frieda heiratete nach Hannover.

Bereits in der Weimarer Zeit war in Hemmendorf der rechtsstehende antisemitische Tannenbergbund stark vertreten. Mit dem Bauern Karl Voges, geb. 1880 in Sarstedt, wurde im Februar 1934 ein überzeugter Nationalsozialist Gemeindevorsteher.

In den Jahren 1933 bis 1938 machten die Hemmendorfer Juden keine erkennbaren Anstrengungen, auszuwandern. Eine Auswanderung war mit erheblichen Problemen verbunden, die nur in Hannover mit Hilfe von Reisebüros und Rechtsanwälten zu lösen waren.

 

 

Das ehemalige Haus Catzenstein, 2009. Bernhard Gelderblom

Die Ereignisse im November 1938

Laut Zeitzeugen wurden in der Nacht des 9. November 1938 sowohl bei der Familie Plaut wie bei der Familie Zeckendorf die Fensterscheiben eingeworfen; bei Zeckendorf lagen die Stoffproben auf der Straße. Zwei Mitglieder der Familie Voges sollen maßgeblich beteiligt gewesen sein. Eine Zeitzeugin:

„Andere Beteiligte, die man später fragte, ob sie das nötig hätten, so etwas mitzumachen, sollen gesagt haben, sie wären in der Nacht plötzlich rausgeholt, ohne zu wissen, was los war und überhaupt hinterher erst hätten sie begriffen, was da geschehen ist.“

Der 54-jährige Karl Zeckendorf wurde festgenommen und in das KZ Buchenwald deportiert. Karl starb wenige Tage nach seiner Einlieferung am 21. November 1938, laut Totenschein an „Herzschwäche bei allgemeiner Sepsis“, eine Folge der entsetzlichen Zustände, die dort herrschten. Die Ehefrau soll die Urne aus Buchenwald abgeholt haben.

Bürgermeister Voges nutzte die Nacht dazu, sich persönlich zu bereichern. Er nahm den Hemmendorfer Juden ihre Wertsachen ab, einschließlich der Eheringe. Irgendwie war das den Behörden bekannt geworden. Die Zollfahndungsstelle Hannover wies Voges an, die „sichergestellten“ Gold- und Silbersachen ihren Besitzern wieder auszuhändigen.

Auch der Friedhof wurde am 9. November 1938 zerstört. Wesentlich beteiligt waren die beiden führenden Nationalsozialisten des Dorfes, darunter Heinz Voges, Sohn des Bürgermeisters Karl Voges. Die Steine sollen anschließend bei der Kirche gelegen haben.

Der jüdische Friedhof Hemmendorf auf einer Zeichnung von Wilhelm Hauschteck, 1926. Zeitschrift Der Klüt, Jg. 1926

 

„Vom Bürgermeister Voges habe ich heute meinen eigenen Trauring zurück erhalten. Frau ‚Sara‘ Frieda Zeckendorf“, ausgestellt am 13. Juni 1939. Archiv des Fleckens Salzhemmendorf

Folgen

Nun lebten nur noch jüdische Frauen im Ort. Am 29. Dezember 1938 wurde Caroline Plaut unter Begleitung ihrer Tochter Klara in das jüdische Krankenhaus in Hannover eingeliefert. Bürgermeister Voges nutzte den Umstand, dass das Haus leer stand, zu einem neuerlichen Raub. Schuldverschreibungen des Deutschen Reiches, Zertifikate der Berliner Hypothekenbank sowie Gold- und Silbersachen wanderten in seinen Besitz. Auch diese Gegenstände musste Voges ein halbes Jahr später auf Weisung der Zollfahndung Hannover zurück erstatten.

Binnen kurzem wurde der jüdische Haus- und Grundbesitz „arisiert“. Das Haus Katzenstein wurde noch 1938 von Bürgermeister Voges gekauft. Er soll damals gleich eingezogen sein. Das Plautsche Haus fand ebenso wie das Zeckendorfsche Haus 1939 einen neuen Besitzer. Der ursprünglich vereinbarte Preis war vom Regierungspräsidenten „als hoch zu beanstandet“ und auf 10.000 RM gesenkt worden. Ein notariell zugesichertes Wohnrecht wurde nicht genehmigt.

Der Kaufpreis ging grundsätzlich auf ein Sperrkonto. Ausgezahlt wurden nur kleine monatliche Beträge, die kaum ermöglichten, das Leben zu fristen. Es ist auch nicht klar, wo die jüdischen Menschen gewohnt haben, nachdem sie ihre Häuser hatten verlassen müssen. Im Frühjahr 1939 – noch lebten Juden in Hemmendorf – gab Bürgermeister Voges den jüdischen Friedhof zur Nutzung als Garten frei.

Am 2. August 1939 – wenige Wochen vor Ausbruch des 2. Weltkrieges – gelang der 78 Jahre alten Emilie Catzenstein die Flucht zu ihrer Tochter Aenny nach Brüssel.

Ende März 1942 wurden die Hemmendorfer Juden deportiert: Klara Plaut, 52 Jahre alt (ihre 83-jährige Mutter war im Januar 1942 im israelitischen Krankenhaus in Hannover gestorben), Margarete Zeckendorf, 65 Jahre alt, und ihre Schwester Thekla Zeckendorf, 61 Jahre alt.

In einem Bollerwagen brachten die Drei ihr Gepäck zum befohlenen Sammelplatz am Rathaus. Dort mussten sie einen LKW besteigen, der auf seiner Runde durch die Dörfer weitere Juden einlud und sie nach Hameln brachte. Der Weg führte sie über Hannover-Ahlem in das völlig überfüllte Ghetto Warschau. Dort verlieren sich ihre Spuren. Das Vermögen der Deportierten galt als „beim Grenzübertritt dem Deutschen Reich verfallen“.

Voges trug unter dem 28. März 1942 drei Namen in das Einwohnermeldebuch ein mit dem Zusatz „zum Osten abgemeldet“. Anschließend wurde der Hausrat der Deportierten öffentlich versteigert. Es gibt Anlass zu vermuten, dass der überwiegende Teil vorher verschwunden war.

Biografie - Hannelore Zeckendorf

Eine Schulfreundin von Hannelore Zeckendorf (geb. 1925) beschreibt sie als „ein hübsches, liebes Mädchen mit einer freundlichen Persönlichkeit, immer fröhlich. Niemals habe sie Dinge für sich allein haben wollen, und immer haben wir uns vertragen und verstanden.“

Das Schicksal des Mädchens hat die Menschen in Hemmendorf noch lange nach dem Krieg beschäftigt. Die Schulfreundin glaubte, dass Hannelore nach England auswandern konnte und dort leben würde. Sie habe immer gehofft, etwas von ihr zu hören und die Hoffnung auch noch nicht aufgegeben. Auch andere in Hemmendorf glaubten dies.

Eine andere Zeitzeugin meint, dass Hannelore zu ihrer Tante nach Köln gegangen sei, weil sie dort zur Schule gehen konnte, ohne belästigt zu werden. Ein Ereignis erschüttert sie bis heute: Ein Puppenspieler führte den Kindern im Dorf ein Märchen vor. Punkt 20 Uhr habe der Dorfpolizist Hannelore nach Hause geschickt. Für Juden galt eine Ausgangssperre. Hannelore soll sehr geweint haben.

Tatsächlich war Hannelore 1937 zu ihrer Tante nach Köln gegangen, hauptsächlich wohl, um den Peinigungen zu entgehen, denen sie in der Schule ausgesetzt war.

Nachdem sie das Haus verkauft hatte, versuchte Hannelores Mutter, Hemmendorf zu verlassen. Auf den Dörfern traf der Judenhass die Menschen viel direkter als in den Städten. 1940 war sie für einen Monat in Hannover gemeldet, kam aber unverrichteter Dinge zurück. Vier Monate hielt sie sich in Peine auf, kam aber wieder zurück. Im April 1941 gelang der Umzug nach Göttingen. Dort wurde sie in der Theaterstraße 26 mit dem Beruf „Hausgehilfin“ gemeldet.

Wenig später gibt es wieder eine Spur von Hannelore. Das inzwischen 16 Jahre alte Mädchen war – von Köln – nach Göttingen gezogen. Seit Mai 1941 wohnte Hannelore als „Hausangestellte“ in der Weender Landstraße 26, einem jüdischen Altersheim, das die Göttinger Stadtverwaltung nun als „Judenhaus“ eingerichtet hatte. Dorthin musste auch ihre Mutter ziehen.

Köln hatte Hannelore verlassen müssen, weil ihre Tante, Selma Grüneberg, bereits im Oktober 1941 ins Ghetto Łódź deportiert worden war. Dort ist ihr Tod für den 4. Mai 1942 bezeugt.

Am 26. März 1942 wurden Mutter und Tochter aus Göttingen deportiert, mit demselben Transport, wie die übrigen Hemmendorfer Juden auch. Sie müssen sich in Ahlem oder spätestens im Ghetto Warschau wieder gesehen haben.

Hannelore (Bildmitte mit dunklem Schopf) um 1933 als Schülerin mit Hemmendorfer Kindern, undatiert. Sammlung Heise, Hemmendorf

Hannelore (vorne, Bildmitte mit dunklem Schopf) um 1930 mit Hemmendorfer Kindern im Badehaus in Salzhemmendorf, undatiert. Sammlung Bernhard Gelderblom

Justizielle Ahndung

Die Hausverkäufe wurden gerichtlich überprüft. In zwei Fällen kam es zu Nachzahlungen. Arthur Catzenstein kam persönlich nach Hemmendorf und setzte die Rückgabe des Hauses durch. Der ehemaligen Bürgermeister Voges soll ein lebenslanges Wohnrecht erhalten haben, das er auch genutzt hat.

Die Wiedergutmachungsverfahren zogen sich jahrelang hin. Wie sollten Deportation und Mord „entschädigt“ werden? Ein Beispiel: Für den Tod von Hannelore zahlte die Bundesrepublik Deutschland den Hinterbliebenen 1543 DM. Maßgeblich waren ihr Alter und ihre letzte berufliche Tätigkeit. Als jugendliche ungelernte Hausangestellte hatte sie nur ein Taschengeld verdient.

Spuren und Gedenken

Der Friedhof wurde etliche Jahre nach Kriegsende an den Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen zurückerstattet. Grabsteine fanden sich nicht mehr an, aber die Einfassung durch aufrecht stehende Sandsteinplatten konnte wieder aufgerichtet werden.

In den 1960er Jahren hat der Landesverband einen Gedenkstein mit Davidstern und Inschrift aufstellen lassen. Der Friedhof ist nun das letzte Zeugnis des 250 Jahre langen jüdischen Lebens im Ort Hemmendorf.

Ein Vortrag von Bernhard Gelderblom am 10. November 2009 gab den ersten Anstoß zu einer Beschäftigung mit dem Thema „Jüdisches Leben in Hemmendorf“. Es folgte 2011 die Aufstellung einer Erinnerungstafel auf dem Friedhof. Am 19. April 2016 legte Gunter Demnig Stolpersteine.

 

Der Friedhof mit dem vom Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen in den 1960er Jahren aufgestellten Gedenkstein, 2008. Foto: Bernhard Gelderblom

Weiterführende Literatur und Links

Gelderblom, Bernhard, Salzhemmendorf, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bde., Göttingen 2005, S. 1336-1344.

Ders., Die Juden in den Dörfern des Fleckens Salzhemmendorf, Holzminden 2013, S. 117-161.

Orte der Erinnerung für die Opfer des Nationalsozialismus im Kreis Hameln-Pyrmont und angrenzenden Orten: Hemmendorf

Die Dokumentation der Opfer der NS-Herrschaft in der Stadt Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont: Deportierte jüdische Bürger aus Hemmendorf

Der jüdische Friedhof Hemmendorf

 

Autor: Bernhard Gelderblom, Hameln

1938 in Niedersachsen

Hehlen

Vorgeschichte

Der Anteil der jüdischen Bevölkerung war in Hehlen relativ hoch. Im Jahre 1774 gab es in Hehlen bei einer Einwohnerzahl von 536 Personen drei jüdische Familien, 1829 zählte man bei 899 Einwohnern 44 Juden.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Hehlener Juden in einem raschen wirtschaftlichen Aufstieg begriffen. Fast alle besaßen Häuser und unterhielten darin ein Ladengeschäft. Um 1875 hatte die Gemeinde einen Lehrer angestellt und verfügte über ein angemietetes Bethaus und ein Schullokal.

Wie in vielen ländlichen Gemeinden sank die Zahl der Gemeindemitglieder nach der Jahrhundertwende stark ab. Die Synagoge wurde geschlossen.

Ab 1900 lebten nur noch Mitglieder der Familie Bach in Hehlen. Mit den Brüdern David (geb. 1857) und Alex (geb. 1868) Bach nahm das jüdische Leben in Hehlen jedoch noch einmal einen ungeahnten Aufschwung.

Die Brüder David Bach und Alex Bach beschäftigten in ihren Textilgeschäften neben ihren Söhnen zahlreiche (bis zu elf) in der Regel jüdische Angestellte. Beide Geschäfte verfolgten ein ähnliches Konzept. Neben dem Ladenverkauf stand als zweite Säule der Verkauf durch Reisende in den umliegenden Dörfern. Die Brüder hatten die Dörfer unter sich aufgeteilt.

Sie hatten auch die Fahne des SPD-Ortsvereins gestiftet. Offenkundig stammte die Käuferschaft der Bachs eher aus dem in Hehlen starken Arbeitermilieu.

Seit den dreißiger Jahren war nicht mehr die SPD, sondern die NSDAP stärkste Partei im Ort und stellte mit dem Sattlermeister Kreibaum den Ortsgruppenleiter und Gemeindevorsteher. In einem „Stürmer“-Kasten veröffentlichte die NSDAP Denunziationen. Im Dezember 1938 war dort beispielsweise zu lesen:

„Frau Bertelsmeier, Nr. 154 und Frau Ebeling, Haus Nr. 98, beide in Hehlen a. Weser, hielten gute Freundschaften mit Juden.“

Nach 1933 liefen die Geschäfte trotz aller Behinderungen weiter. Hehlener gingen zu Bach, wenn es dunkel war, Auswärtige kamen auch tagsüber. Anders als das Ladengeschäft war der Direktverkauf in den Dörfern nur schwer zu unterbinden.

Im Oktober 1938 verkaufte David Bach sein Geschäft an den aus Fallingbostel kommenden Kaufmann Hans Seemann. Wenige Tage später verließ er mit seiner Familie den Ort. Die Prüfung des Kaufvertrags zog sich über ein Jahr hin. Am Ende wurde der verabredete Kaufpreis von 25.000 RM um 5.200 RM gedrückt. Das Geld war auf ein Sicherungskonto einzuzahlen und der Devisenüberwachung anzuzeigen.

David Bach in seinem Geschäft mit Angestellten, undatiert. Sammlung Bernhard Gelderblom

Die Ereignisse im November 1938

Um 3 Uhr am Morgen des 10. November 1938 rief der NS-Kreispropagandaleiter und spätere Landrat August Laue aus Holzminden Bürgermeister Theodor Kreibaum an, er solle die Juden des Ortes festnehmen und binnen einer Stunde Vollzug melden.

Friedrich Helmer, dem stellvertretenden Bürgermeister und Stellmachermeister Karl Reese, dem Hauptlehrer H. Stapel, dem Forstaufseher sowie dem Eisenbahnassistenten, verschaffte er sich bei Alex Bach gewaltsam Einlass.

Vater, Mutter, die beiden Söhne Kurt und Arthur, das Hausmädchen Lieselotte Eichengrün und der Angestellte Kurt Buchheim wurden aus den Betten gerissen und in das Feuerwehrspritzenhaus getrieben. Das Spritzenhaus war ein kleines Kabuff mit etwas Stroh, aber ohne Toilette. Dort mussten sie – nur notdürftig bekleidet – ein oder zwei Nächte verbringen. Nachbarn halfen heimlich mit Decken und Essen.

Das Geschäft wurde von der Einwohnerschaft geplündert, die drei großen Schaufenster gingen zu Bruch. SS-Leute schafften Kurt und Arthur Bach sowie Kurt Buchheim auf einem offenen Lastwagen nach Holzminden; von dort wurden sie in das KZ Buchenwald transportiert.

Das Geschäft wurde geschlossen, das Warenlager, soweit nicht geplündert, beschlagnahmt und bei der NSV in Holzminden sichergestellt.

Übrigens ist auch das Geschäft von David Bach, der sich mit seiner Familie in diesen Tagen nicht in Hehlen aufhielt, in dieser Nacht geplündert worden, nachdem mit Zuckerrüben die Schaufenster eingeworfen worden waren.

Wohn- und Geschäftshaus von Alex Bach, Hauptstraße 50, 1998. Das stattliche Haus von Alex Bach wurde um das Jahr 2000 abgerissen. David Bachs Geschäftshaus verschwand im Zuge des Ausbaues der Ortsdurchfahrt im Jahre 1972. Foto: Bernhard Gelderblom

 

Pfarrscheune mit angebautem Spritzenhaus, Zeichnung Wilhelm Höntze aus Hehlen, undatiert. Verein für Heimatpflege und Regionalgeschichte Hehlen

Folgen

Die beiden Söhne von Alex Bach kehrten erst im März 1939 aus Buchenwald zurück und wanderten einen Monat später über Holland nach Bolivien aus. Dabei gelang es ihnen, die kostbare Thorarolle aus der ehemaligen Hehlener Synagoge, die Alex Bach am 10. November 1938 hatte verstecken können, bei ihrer Auswanderung mitzunehmen.

Die Eltern blieben allein zurück. Um die Auswanderung finanzieren zu können, musste Alex Bach Haus und Grundstück verkaufen. Als er Ende April 1939 mit dem Hehlener Fabrikanten Asmus einen Käufer gefunden hatte, verhinderte das Braunschweigische Innenministerium auf Intervention von Bürgermeister Kreibaum den Verkauf. Wegen seiner „Judenfreundlichkeit“ war Asmus angeblich kein „politisch und aktiv zuverlässiger Volksgenosse“. Bach musste letztlich einem niedrigeren Kaufangebot des Sattlermeisters Theodor Kreibaum bzw. der Gemeinde Hehlen zustimmen.

Trotz weiterer Schikanen gelang dem 72-Jährigen und seiner Frau im März 1940 die Ausreise nach Bolivien. Mit ihm, so meldete der Bürgermeister, „ist der letzte Jude ausgewandert“. Die jüdische Gemeinde Hehlen wurde aus dem Vereinsregister gestrichen.

David Bach war bereits im Februar oder März 1939 zusammen mit seiner Ehefrau Ida, Sohn Alfred mit Ehefrau Betty und dessen Kind Günther über Bremerhaven die Auswanderung nach New York gelungen. David war damals 82 Jahre alt.

Der jüdische Friedhof, der im November 1938 von Zerstörung verschont blieb, wurde wenig später vermutlich von Mitgliedern der Hehlener SA verwüstet.

Justizielle Ahndung

Nach dem Kriege kämpften die Söhne von Alex Bach in einem 13 Jahre dauernden Rechtsstreit um Wiedergutmachung für die erlittenen Schäden während der Pogromnacht. Schon im Juni 1946 stellte Kurt Bach eine Anklageschrift zusammen; zwei Jahre später erhob die Staatsanwaltschaft gegen zehn Hehlener Einwohner Anklage. Das erste Urteil des Hildesheimer Schwurgerichts vom 30. November 1948 wurde vom Obersten Gerichtshof für die britische Zone wegen zu milder Strafen aufgehoben. 1950 stellte das Landgericht Hildesheim das Verfahren jedoch ein.

1955 klagten die Opfer selbst. Im Prozess schoben alle beteiligten früheren SA-Leute die Plünderungen auf die SS. Solange sie zuständig gewesen seien, sei alles ordnungsgemäß verlaufen. Die vor dem Laden aufgestellten Wachen hätten nichts bemerkt. Kreibaum hätte ja durch das Wacheaufstellen Plünderungen gerade verhindern wollen. Die Klage wurde abgewiesen, da die Kläger nach Meinung des Gerichts die Plünderungen nicht nachzuweisen vermochten.

Erst Ende 1959 stellte das Oberlandesgericht Celle eindeutig die Schuld des ehemaligen Bürgermeisters Kreibaum fest.

Spuren und Gedenken

Das 198 qm große Gelände des Friedhofs wurde nach 1945 wieder hergerichtet; von den noch vorhandenen 21 Steinen sind mehrere stark beschädigt, teilweise beim Umstürzen zerbrochen und fehlerhaft wieder aufgestellt worden. Der Friedhof gehörte ab 1953 der Jewish Trust Corporation, seit 1960 dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen.

Die Erinnerung an das Geschehen spaltete das Dorf in zwei Parteien und verhinderte lange eine Befassung mit dem Thema. Am 16. März 1999 fand eine von den Landfrauen Hehlen organisierte Vortragsveranstaltung mit Bernhard Gelderblom statt. Seitdem bemühte sich auch der Verein für Heimatpflege und Regionalgeschichte Hehlen darum, die Erinnerung an die ehemaligen Hehlener Juden wach zu halten.

1986 übergaben Kurt und Arthur Bach die Hehlener Thorarolle der Synagoge der Militärakademie West Point (New York), wo sie zusammen mit einer Plakette „Saved from the Holocaust by their father, Alex Bach“ ausgestellt ist.

Eine zweite Thorarolle, die Alex Bach vor seiner Flucht aus Deutschland einem Hehlener Lederfabrikanten zur Aufbewahrung anvertraut hatte, wurde am 25. Juni 2011 vom Verfasser dem Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen übergeben.

Die während des Zweiten Weltkrieges in Hehlen versteckte Thorarolle, 2011. Foto: Bernhard Gelderblom

Der jüdische Friedhof in Hehlen, 2016. Foto: Bernhard Gelderblom

Weiterführende Literatur und Links

Gelderblom, Bernhard, Jüdisches Leben im mittleren Weserraum zwischen Hehlen und Polle. Von den Anfängen im 14. Jahrhundert bis zu seiner Vernichtung in der nationalsozialistischen Zeit. Ein Gedenkbuch, Holzminden 2003, S. 105-177.

Ders., Hehlen, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bde., Göttingen 2005, S. 816-820.

Kuessner, Dietrich, Die Pogromnacht im Land Braunschweig, in: „Kristallnacht“ und Antisemitismus im Braunschweiger Land. Drei Vorträge im November 1988. Büddenstedt-Offleben 1988 (Arbeiten zur Geschichte der Braunschweigischen ev.-luth. Landeskirche im 19. und 20. Jahrhundert 6), S. 7-35.

Die Dokumentation der Opfer der NS-Herrschaft in der Stadt Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont: Deportierte jüdische Bürger aus Hehlen

Orte der Erinnerung für die Opfer des Nationalsozialismus im Kreis Hameln-Pyrmont und angrenzenden Orten: Hehlen

Zur Geschichte der Juden in Hameln und in der Umgebung: Der jüdische Friedhof in Hehlen

Autor: Bernhard Gelderblom, Hameln

1938 in Niedersachsen

Aurich

Vorgeschichte

Die Anwesenheit von Juden in Aurich, der Residenzstadt des Fürstentums Ostfrieslands, ist seit 1635 nachweisbar: Die Familie des Hoffaktoren Calman Abraham bildete die Keimzelle für die jüdische Gemeinde in Aurich. 1736 lebten hier 14 Familien.

Spätestens um 1764 lässt sich die Nutzung des jüdischen Friedhofes in Aurich nachweisen. Im September 1811, während der französisch-holländischen Besatzungszeit, konnte die jüdische Gemeinde die Synagoge einweihen, deren Bau mithilfe von Spenden aus der gesamten Stadt finanziert wurde. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts war Aurich Sitz des Landesrabbiners. Die Gemeinde galt als strenggläubig und konservativ. 1910 konnte die jüdische Elementar- und Religionsschule baulich erneuert werden. Jüdische Schüler besuchten auch die weiterführenden Schulen wie Berufsschule und das Gymnasium Ulricianum.

Die Gemeinde umfasste gegen Ende des 19. Jahrhunderts und bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts um die 400 Personen. Jüdische Bürger bildeten ein festes Element im Wirtschaftsleben und waren vornehmlich als Schlachter, Viehhändler, Manufakturwarenhändler und Krämer tätig. Nur wenige jüdische Familien brachten es zu mäßigem wirtschaftlichem Wohlstand, die meisten gehörten zu den „kleinen Leuten“. Die Juden sprachen Hochdeutsch so gut oder so schlecht wie alle anderen Ostfriesen. Sie sprachen das ostfriesische Niederdeutsch, durchsetzt mit Vokabeln des Auricher Judendeutsch und von daher klanglich gefärbt. Untereinander benutzten sie die Auricher „Mauschelsprache“.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein vielfältiges jüdisches Vereinsleben, vor allem im Bereich der Wohltätigkeit. Juden waren aber auch Mitglieder in anderen bürgerlichen Vereinen. 1848 und 1913 erhielt jeweils ein Jude ein Mandat im Stadtrat.

Von den jüdischen Kriegsteilnehmern aus Aurich fielen mindestens 13 Männer im Ersten Weltkrieg.

Die jüdischen Familien wohnten zwar nicht in ghettoähnlicher Abgeschlossenheit, bewohnten aber bevorzugt einige Straßenzüge. Das Zusammenleben der Auricher Juden mit den Bürgern anderer Konfessionen verlief bis in die Zeit der Weimarer Republik, trotz einzelner antisemitischer Vorfälle, weitgehend störungsfrei. 1933 lebten 398 Juden in Aurich, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug 6,5%.

Die reichsweiten Boykottmaßnahmen vom 1. April 1933 trafen auch die Geschäfte der Auricher Juden. Bereits am 29. März 1933 hatten SA-Männer die Synagoge umstellt und die Herausgabe der Schächtmesser erzwungen, um sie auf dem Marktplatz zu verbrennen. Am 30. Mai 1933 schloss man die Juden aus der Schlachterinnung aus. Seit Gründung der Innung 1911 waren sie immer im Vorstand vertreten und stellten auch die meisten Mitglieder (13 von 21).

Diskriminierung, Ausgrenzung und Arisierungsmaßnahmen ließen ab 1934 die Bereitschaft zur Auswanderung ins Ausland ansteigen. Etliche Familien waren deshalb bereits vor dem Novemberpogrom 1938 geflohen, vor allem in die Niederlande (ca. 55 Personen) und in die USA (ca. 26), nach Südamerika (21), Palästina (9), nach Belgien und Frankreich (je 4) sowie nach Australien und Schweden (je 2). Befanden sich 1933 noch 77 Wohnhäuser in jüdischem Besitz, so waren es im Juni 1939 nur noch 28 Wohnhäuser.

In der Wallstraße wohnten viele jüdische Familien, 1930er Jahre. Bildarchiv Bibliothek der Ostfriesischen Landschaft in Aurich

Innenraum der Auricher Synagoge, um 1915. Bildarchiv Bibliothek der Ostfriesischen Landschaft in Aurich, Nachlass Byl

Die Ereignisse im November 1938

Die Ausschreitungen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden von dem in Emden wohnenden Führer des Auricher SA-Sturmbannes Eltze ausgelöst. Dieser war von der SA-Gruppe Nordsee vermutlich zwischen 23:00 und 24:00 Uhr informiert worden. Wahrscheinlich erhielt er auch über den zweiten Befehlsstrang, nämlich über die Oldenburger Kreisleiter die weiteren Anordnungen.

Eltze setzte daraufhin den NSDAP-Kreisleiter Heinrich Bohnens in Aurich telefonisch davon in Kenntnis, dass er mit weiteren SA-Männern nach Aurich kommen würde, um Aktionen gegen die Juden vorzunehmen. Ebenfalls von Emden aus organisierte Eltze die Beschaffung von Benzin in Aurich. Bohnens informierte daraufhin in Aurich die Feuerwehr, dass eine Übung stattfinden würde deshalb die Feuermeldeanlage still gelegt werden sollte. Auf dem Marktplatz trafen Bohnens und Eltze sowie die Auricher und Emder SA-Trupps zu weiteren Absprachen zusammen. Eltze organisierte die Brandlegung der Synagoge.

Die SA hatte inzwischen das Synagogengelände abgeriegelt. Das Feuer wurde von Eltze und SA-Männern in den frühen Morgenstunden gelegt. Die Feuerwehr durfte nur anrücken, um ein benachbartes Privathaus und auch die jüdische Schule vor dem Übergreifen der Flammen zu schützen. Die Synagoge brannte vollständig nieder.

Gleichzeitig begann die „Aufholung“ der Juden. SA-Posten sperrten sowohl die Ausfahrtstraßen als auch die Straßen ab, in denen viele jüdischen Bürger wohnten. Männer sowie einige Frauen wurden in der Landwirtschaftlichen Halle, auch „Bullenhalle“ genannt, unter Beschimpfungen und Misshandlungen zusammengetrieben. In etliche jüdische Häuser wurde gewaltsam eingebrochen. Scheiben, Türen und Mobiliar wurden zertrümmert, es fielen Schüsse. Geschäftsräume wurden geplündert, ein ärztliches Behandlungszimmer wurde demoliert. Beteiligt waren auch SS-Männer und Mitglieder des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) wie auch SA-Trupps aus den Nachbardörfern Holtrop und Westerende. Ältere, Gebrechliche, Frauen und Kinder wurden aus der Landwirtschaftlichen Halle bald wieder entlassen und nach Hause geschickt.

Die zurückgebliebenen Männer mussten im Vorführraum der Halle bis zum Mittag ausharren, ohne Essen oder Trinken zu bekommen. Die Aufsicht führte u.a. der Österreicher Haas, der ehemalige Leiter der Auricher SA-Schule. Die jüdischen Männer wurden mit Sport- und anderen Exerzierübungen gedemütigt, drangsaliert und gequält: Bockspringen, im Laufschritt Runden drehen, über Anbindevorrichtungen springen. Hierbei tat sich auch der Sportwart der Auricher SA, Wilhelm Bock, hervor.

Gegen Mittag wurden wieder einige von ihnen entlassen, ca. 40-50 Männer wurden aber durch die Straßen auf das Ellernfeld getrieben, einen Sportplatz, der damals gerade von der Stadt drainiert wurde. Vor den Augen neugieriger Zuschauer waren sie dort weiteren Schikanen ausgesetzt: Sie mussten wie schon in der Viehhalle „Sport“ treiben, Gräben ausheben, Drainagerohre hin und her tragen, Sand in Schubkarren fahren. Werner Hoffmann wurde gezwungen zu rufen: „Ich bin ein Rasseschänder“. Einige Auricher wollten helfen und versuchten, den Gedemütigten Wasser zu geben. Gegen 16.00 Uhr wurden die jüdischen Männer in die Viehhalle zurückgeführt. Die Polizei hatte mittlerweile von der Gestapoleitstelle Wilhelmshaven die Anweisung bekommen, die Juden in „Schutzhaft“ zu nehmen und in das Gerichtsgefängnis zu bringen. Einige ältere Männer wurden nach Hause entlassen, so dass gegen 18.00 Uhr noch 42 Männer in das Gefängnis gebracht wurden. Am nächsten Morgen, den 11. November, wurden die jüdischen Männer mit Bussen nach Oldenburg und von dort mit anderen ostfriesischen Juden mit dem Zug in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Im Januar 1939 kehrte der letzte von ihnen wieder nach Aurich zurück.

Joseph von der Wall, ein Norder, der in Aurich geheiratet hatte, wurde in das KZ Buchenwald gebracht und starb dort am 16. Dezember 1938. Der Auricher Heimann Wolff Wolffs (geb. 1884), der sich in Papenburg Arbeit hatte suchen müssen, weil ihm der Gewerbeschein als Viehhändler entzogen worden war, wurde von dort nach Buchenwald gebracht. Der ehemalige Kriegsteilnehmer starb fünf Tage nach seiner Rückkehr am 22. Dezember 1938 an den Folgen der Misshandlungen.

Die Ruine der Auricher Synagoge im November 1938. Bildarchiv Drogerie Maaß

Folgen

Die Gottesdienste fand nach der Zerstörung der Synagoge in der Wohnung der Lehrerwitwe Amalie Wolff, geb. Fromm statt. Da die jüdische Schule von der SA beschlagnahmt worden war, fand der Unterricht nun in den Privaträumen des letzten Synagogenvorstehers Abraham Wolffs statt.

Nach dem Novemberpogrom versuchten die Familien, die es finanziell noch bewältigen konnten, ins Ausland zu fliehen.

Genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln, oft führten die Fluchtbewegungen über mehrere Stationen und verschiedene Länder. Aufgrund der biographischen Recherchen der Stolperstein-Gruppe Aurich (Stand September 2018) lassen sich aber folgende Tendenzen ausmachen: Ab 1939 versuchten noch ca. 30 Juden in den benachbarten Niederlanden zu überleben, die Flucht in die USA schafften ebenso viele wie vor dem Pogrom (ca. 25), 17 Menschen konnten sich noch nach Palästina retten, neun nach England, vier nach Australien, je eine Person rettete sich nach Italien, in die Schweiz und nach Schweden.

In einer Liste der Stadt Aurich vom 10. Oktober 1939 erfasste die Stadt Aurich noch 156 polizeilich gemeldete Juden in Aurich und 17 in der näheren Umgebung. Aus dieser Liste geht hervor, dass kaum einer der jüdischen Männer noch seinen ehemaligen Beruf ausübte: 25 waren nun als Arbeiter im Straßenbau oder in der Landwirtschaft eingesetzt, 33 wurden als berufslos bezeichnet, zu 15 gab es keine Angaben. 52 Frauen wurden als Hausfrauen oder Hausangestellte bezeichnet. Außerdem lebten noch ein Maler, zwei Kultusbeamte, ein Lehrer, zwei Rentiers, 19 Schulkinder und fünf Kleinkinder in der Stadt.

Anfang 1940 wurden auch die letzten Familien aus Aurich vertrieben. Am 26. Januar 1940 wurde Wolff Benjamin Wolffs von der SS und der Gestapo Wilhelmshaven gezwungen, alle Juden aus Aurich zu evakuieren. Ostfriesland wurde damit früher als andere Regionen „judenfrei“. Hintergrund war der bevorstehende Einmarsch der Wehrmacht in die Niederlande und die vermeintliche Gefahr der Spionage durch die einheimischen Juden in den grenznahen Gebieten.

Am 18. April 1940 meldete der Auricher Landrat an den Regierungspräsidenten, dass „im ländlichen Bezirke des Kreises sowie in der Stadt Aurich […] keine Juden mehr wohnhaft“ seien. Sie waren vor allem nach Berlin (ca. 59) geflohen oder nach Essen, Düsseldorf und Köln (insgesamt 37), nach Hamburg (3) oder Bremen (16). Einige Familien versuchten noch, ihre Kinder in Kinderheimen in Köln und Hildesheim unterzubringen. Die letzten, die Aurich verließen, waren die Alten und Gebrechlichen (19), sie wurden in das jüdische Altersheim in Emden gebracht und im Oktober 1941 nach Litzmannstadt und Theresienstadt deportiert, in den sicheren Tod. Nur acht Menschen gelang 1940 noch die sichere Flucht nach Argentinien.

Insgesamt sind von 403 jüdischen Auricher Bürgern, die zwischen 1933 bis 1940 in Aurich lebten 255 in den Vernichtungslagern ermordet worden, an den Folgen der Haft und auf der Flucht gestorben oder hatten den Freitod gewählt. Überlebt haben die Familien, die rechtzeitig in die USA, nach Südamerika, Palästina, England oder Australien flüchten konnten. Die Flucht in die Niederlande, nach Belgien oder Frankreich bedeutete in den meisten Fällen den sicheren Tod.

Biografie - Wolff und Benno Wolffs

Wolff Wolffs (1910-1995) wurde mit seinem Bruder Benno Wolffs (1904-1986) und ihrem Vater, dem Malermeister Abraham Wolffs (1872-1942) mitten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 geweckt. Die Tür ihres Hauses in der Wallstraße wurde eingeschlagen, nur notdürftig bekleidet wurden sie durch die Straßen getrieben und zur Viehhalle gebracht. Dort wurde der Vater geschlagen und beschimpft, bis ein SA-Mann mit den Worten: „Wir wollen jetzt noch keine Leichen haben“ Schlimmeres verhinderte (Bericht Wolff Wolffs, 1966).

Mit ca. 40-50 weiteren jüdischen Männern wurden die Brüder am Vormittag des 10. November auf das Ellernfeld, den städtischen Sportplatz gebracht, wo die Schikanen weitergingen. Benno Wolffs erinnerte sich 1987 in einem Interview: „Wir haben überhaupt geglaubt, dass wir dort erschossen werden sollten. Bei den Kanalisations- und Drainagearbeiten waren ja große Berge Sand aufgeschüttet worden. Die stellten uns dahin, einen nach dem anderen, zum Erschießen! Das war aber Gott sei Dank ja nicht so.“ Stattdessen wurden sie zunächst in die Bullenhalle zurückgebracht und am Abend in das Gerichtsgefängnis überführt. Benno Wolffs: „Es war gerade der Abend des 10. November; Luthers Geburtstag, Kipp-Kapp-Kögel-Abend. [Kipp-Kapp-Kögel: Laterne mit Kerze]. Wir haben die Kinder durch das Gefängnisfenster gehört. Als wir Kinder waren, sind wir ja auch immer mitgegangen. Umgezogen haben wir uns gehabt und das Gesicht ein bisschen schwarz gemacht. Es gab ja immer gute Sachen an diesem Abend! … Wir sind als Jungen später auch mit Scherbellenskoppen [Masken] gegangen. Und nun saßen wir hier im Gefängnis. Ich war 28 Jahre alt. Unsere Kipp-Kapp-Kögel-Abende lagen weit zurück.“

Die beiden Brüder wurden mit den anderen Auricher Juden über Oldenburg in das KZ Sachsenhausen gebracht und um die Jahreswende 1938/39 entlassen. Benno ging im Februar 1939 nach Hamburg, während Wolff in Aurich blieb, um im Malergeschäft seines Vaters zu helfen. Im Januar 1940 wurde er von der Gestapo-Führung in Wilhelmshaven gezwungen, stellvertretend für seinen kranken Vater, den letzten Synagogenvorsteher in Aurich, bis April 1940 für den Wegzug der noch ca. 150 in der Stadt und im Kreis verbliebenen Juden zu sorgen.

Wolff gelang es mit seinem Bruder Benno und dessen Frau mit dem Schiff „Patria“ illegal nach Haifa zu entkommen. Bis 1945 wurden sie im britischen Internierungslager Atlit festgehalten. Benno wanderte 1952 mit seiner Frau in die USA aus, während sich Wolff, seit 1950 verheiratet, in Beit-Jitzchak niederließ.

Ihre Eltern Abraham und Betti, geb. Wallheimer, wurden am 22. Oktober 1941 aus dem jüdischen Altersheim in Emden über Berlin nach Litzmannstadt (Lodz) abtransportiert und im September 1942 in Kulmhof (Chełmno) ermordet. Ihre Schwester Erna (geb. 1905) war schon im Mai 1938 mit ihrem Mann und der kleinen Tochter nach Groningen in die Niederlande geflohen. 1942 wurden die Familie aus dem Lager Westerbork nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

1951 reiste Wolff Wolffs nach Aurich, um mehr über das Schicksal seiner Familie und der jüdischen Mitbürger aus Aurich und Ostfriesland zu erfahren und um Rückerstattungsansprüche für die ehemalige jüdische Gemeinde geltend zu machen. Danach schwor er, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen. Dennoch erklärte er sich ab den 1960er Jahren als erster zögernd dazu bereit, den Lehrer Johannes Diekhoff mit Auricher Schülern in Israel zu treffen, um sie über die Vergangenheit aufzuklären. Er und sein Bruder Benno begannen, ihre Erlebnisse schriftlich festzuhalten. Benno Wolffs gehörte mit seiner Frau Irma im Mai 1992 zu den 50 Gästen – Auricher jüdische Bürger und ihre Familien –, die an der Begegnungswoche auf Einladung der Stadt Aurich, der Kirchengemeinde Wallinghausen, der Dorfgemeinschaft Egels-Popens und der Deutsch Israelischen Gesellschaft teilnahmen.

Kennkarte Wolff Wolffs (1904 Aurich – 1987 Beit-Jitzchak, Israel). Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Aurich

Biografie - Brüder Samson

Die Brüder Bendit (geb. 1860), Herz (geb. 1863) und Ruben (geb. 1868) Samson wohnten im November 1938 gemeinsam in der Zingelstraße. Ihren Haushalt führte ein Hausmädchen. Bendit hatte nie geheiratet, die beiden anderen waren Witwer.

In der Nacht der Nacht vom 9. auf den 10. November brachen SA-Männer in ihre Wohnung ein, Bendit, noch im Schlafanzug, öffnete ihnen. Das Hausmädchen hielt sich im Obergeschoss versteckt. Zu den Eindringlingen gehörte auch der SS-Mann Georg Lang. Zunächst wurden alle drei alten Männer gezwungen, sich zur Landwirtschaftlichen Halle zu begeben. Nur der älteste, Bendit, durfte laut der Haushälterin bald wieder umkehren. Herz und Ruben Samson aber wurden in die Halle gebracht und dort bis zum Abend festgehalten. Das Aufholkommando durchsuchte das gesamte Haus, nahm Wäsche und Möbel mit.

Bendit, Herz und Ruben Samson waren wie schon ihr Vater Joseph Hartog Samson und auch der jüngste Bruder Abraham (geb. 1870) erfolgreiche Schlachter und Viehhändler. Ihr Schlachtbetrieb gehörte zu den größten der Region. 1938 endete die Geschichte der Firma mit der Zwangsauflösung.

Eine Flucht ins Ausland war für die Brüder keine Option mehr. Als Ostfriesland im Frühjahr 1940 „aus militärischen und staatspolizeilichen Gründen“ „judenfrei“ werden sollte, entschieden sie sich gegen das jüdische Altersheim in Emden und zogen Anfang März nach Dortmund. Dort hielt sich ihr Bruder Abraham (geb. 1870) schon seit Ende 1939 auf, er war mit seiner Ehefrau bei seiner Tochter untergekommen.

Im Juli 1942 wurden Bendit, Ruben, Herz nach Theresienstadt deportiert und von dort zwei Monate später nach Treblinka. Hier verlieren sich ihre Spuren. Abraham wurde mit seiner Ehefrau Hedwig im Oktober 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert.

Auch die Söhne von Ruben und deren Ehefrauen werden im Holocaust ermordet. Nur die drei Enkelkinder von Ruben überlebten in den Niederlanden und in den USA.

 

Bendit Samson, Schlachter und Viehhändler (1860 Aurich-1942 Treblinka). Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Aurich

Biografie - Dr. Manfred Louis Hoffmann

Der Arzt Dr. Manfred Louis Hoffmann (geb. 1907) wohnte mit seiner Ehefrau Rosi Ronsheim (geb. 1911) in der Wallstraße 20, wo er auch seine Praxis führte. 1926 hatte er als Jahrgangsbester sein Abitur am Auricher Gymnasium abgelegt. Im September 1938 erkannte man ihm, wie allen jüdischen Ärzten, die Approbation ab. Schon vorher hatte er viele nichtjüdische Patienten verloren, die ihn aus Angst vor Denunziation nicht mehr aufsuchten. Er musste weite Fahrten in Ostfriesland und bis ins Emsland unternehmen, um seine jüdischen Patienten aufzusuchen.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 stürmten SA-Leute in seine Wohnung, zerstörten Türen, Fenster und die Praxiseinrichtung. Eine Pistolenkugel soll über dem Bett in der Wand eingeschlagen sein. Man beschlagnahmte sein Auto, ein Fahrrad und einen Fotoapparat im Wert von insgesamt 1.800 RM sowie Bargeld.

Bei seiner Ankunft in der Landwirtschaftlichen Viehhalle erhielt er von einem Wachposten, dem später angeklagten SS Mitglied Georg Lang, einen Tritt. Manfred Hoffmann musste bis zur Erschöpfung an den entwürdigenden „Sport“- Übungen unter Führung des SA-Sportwartes Wilhelm Bock in der Halle mitmachen, und auch auf dem Ellernfeld war er weiteren Torturen ausgesetzt.

Manfred Hoffmann wurde mit den anderen jüdischen Männern aus Aurich am 11. November 1938 über Oldenburg in das KZ Sachsenhausen gebracht. Von den schweren körperlichen und seelischen Misshandlungen in Sachsenhausen, so schilderte es später sein Cousin Werner Hoffmann, hat er sich nicht mehr erholt.

Mit seiner Ehefrau, seinen Eltern und der Familie seines Bruders floh Dr. Manfred Hoffmann am 9. März 1939 über Hamburg in die USA. Er lebte und praktizierte in Chicago unter schwierigen Bedingungen und starb früh im Alter von 55 Jahren am 16. November 1962.

Dr. Manfred Louis Hoffmann, praktischer Arzt, (1907 Aurich – 1962 Chicago). Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Aurich

Biografie - Moritz Lachmann

Der Lehrer Moritz Lachmann wurde am 18. Mai 1874 in Schwersenz im Kreis Posen geboren. Seine erste Stelle trat er in Bunde in Ostfriesland an, wo er von 1895 bis 1897 als Religionslehrer, Vorbeter und Schächter tätig war. Dann wechselte er nach Wittmund und unterrichtete dort fast 30 Jahre in der jüdischen Schule. Nebenher übte er dort auch Funktionen als Kultusbeamter und Schächter aus. Wegen Schülermangels wurde er in den vorzeitigen Ruhestand versetzt und zog 1926 mit seiner Familie nach Aurich. Dort fand er an der jüdischen Schule eine neue Anstellung und übernahm auch wieder die Aufgaben eines Kultusbeamten. Um 1930 wurde er Mitglied im Auricher Männergesangverein „Frisia“.

Er wohnte mit seiner Frau Friederike Hess in der oberen Etage der jüdischen Schule in der Kirchstraße, direkt neben der Synagoge. In der Pogromnacht wurde er unter Drohungen und Beschimpfungen aus seiner Wohnung geholt und in die Landwirtschaftliche Halle gebracht. Dem Bericht von Wolff Wolffs zufolge, hinterlegt in Yad Vashem, „gab man [ihm] in der Halle ein Gebetbuch in die Hand, schlug die erste Seite auf und befahl ihm dieses Gebet auf deutsch vorzulesen. Er tat dieses und begann wortgetreu mit den Worten: Gross ist der lebendige Gott. Daraufhin bekam der alte Mann Ohrfeigen, so dass er sofort umfiel. Die Nazis höhnten dann noch und sagten: ‚Das Schwein lügt, die Übersetzung lautet, du sollst alle christlichen Mädchen schänden.‘ In dieser Art ging es die ganze Nacht weiter.“

Da die SA das Gebäude der jüdischen Volksschule beschlagnahmt hatte, musste das Ehepaar vorübergehend bei Joseph Hess, einem Bruder von Friederike, wohnen. Am 23. Februar 1939 verließ das Ehepaar Aurich, sie zogen in das jüdische Altersheim in Emden. Ihre Söhne Henry, Jakob und Siegbert hatten Aurich schon Anfang der 1930er Jahre verlassen und konnten rechtzeitig in die USA emigrieren.

Am 23. Oktober 1941 wurden Moritz und Friederike Lachmann mit 120 weiteren Juden aus dem Altersheim über Berlin in das Ghetto Litzmannstadt deportiert. Den Tod seiner Ehefrau Friederike im Januar 1942 konnte Moritz Lachmann noch seinen Kindern in den USA mitteilen, er selbst starb am 12. August 1942.

Die Deportation der letzten Juden aus dem jüdischen Altersheim in Emden am 21.10.1941, im Vordergrund rechts Abraham Wolffs, der letzte Synagogenvorsteher in Aurich (1872 Aurich 1942 Kulmhof / Chelmno), rechts dahinter Rieke Lachmann, die Ehefrau des Lehrers Moritz Lachmann aus Aurich. Ostfriesische Tageszeitung vom 11.02.1942; Stadtarchiv Emden

Biografie – Kreisleiter Heinrich Bohnens

Als NSDAP Kreisleiter in Aurich war Heinrich Bohnens mit verantwortlich für den Synagogenbrand und die Verfolgung der Auricher Juden in der Pogromnacht.

Er war an der Organisation und Durchführung des Synagogenbrandes zwar nicht aktiv beteiligt, unterstützte die Taten aber – so ließ er die Feueralarmanlage für eine angebliche Feuerwehrübung ausschalten. Im Synagogenbrandprozess 1948 wurde er als „nationalsozialistischer Aktivist“ bezeichnet, der sich unterstützend an der Aufholung der Juden beteiligt habe. Bezeichnenderweise belastete Bohnens – wie auch die anderen Angeklagten – den im Krieg gefallenen SA Sturmbannführer Eltze als Haupttäter und Anführer. Bohnens war in der Nacht vom 9. / 10. November von dem damals in Emden wohnenden Eltze angerufen und über die anstehenden Aktionen gegen die Juden informiert worden. Eine Mitschuld wies er stets zurück und zeigte weder Bedauern noch Einsicht.

Heinrich Bohnens wurde am 14. Januar 1891 in Hopels, Kreis Wittmund, als siebtes Kind eines Gast- und Landwirtes geboren. Im Ersten Weltkrieg diente er als Soldat hinter der Front. Nach dem Krieg ließ er sich in Friedeburg als Schuhmachermeister nieder.

1923 schloss er sich der deutschvölkischen Bewegung an, wurde 1928 Mitglied der NSDAP und SA und gleichzeitig Ortsgruppen- sowie Bezirksleiter. 1929 wurde er in Friedeburg zum Gemeindevorsteher gewählt. Im Juli 1932 kandidierte er äußerst erfolgreich für den Reichstag, dem er mit einer kurzen Unterbrechung bis zum Ende der NS-Zeit angehörte. Im Februar 1933 wurde er als Kreisleiter in Wittmund eingesetzt und ab 1934 in Aurich, wo er auch zum Präsidenten der Handwerkskammer in Aurich gewählt wurde. Vermutlich stellte man ihn aufgrund seiner vielfältigen Funktionen 1939 vom Militärdienst frei.

Am 11. Mai 1945 verhafteten ihn die Alliierten. Wegen seiner Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation wurde er am 20. August 1948 zu vier Jahren Gefängnis und 500 DM Geldstrafe verurteilt. Vier Monate später verurteilte ihn die Staatsanwaltschaft Aurich im Synagogenbrandprozess zu weiteren drei Jahren Zuchthaus wegen Brandstiftung, Landfriedensbruch, schwerer Freiheitsberaubung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Beide Strafen wurden zu einer Gesamtstrafe von viereinhalb Jahren Zuchthaus zusammengezogen. Die bürgerlichen Ehrenrechte wurden ihm auf vier Jahre aberkannt. Im Oktober 1950 entließ man ihn vorzeitig aus der Haft. Er blieb arbeitslos. Im Februar 1951 wurde er im Entnazifizierungsverfahren in die Kategorie III eingestuft. Im März 1951 zog er mit seiner Frau nach Brake bei Bielefeld, wo er am 5. November 1952 an den Folgen eines Verkehrsunfalls starb.

 

Heinrich Bohnens (1891 Hopels – 1952 Brake), Schuhmachermeister, NSDAP Kreisleiter in Aurich, aus: Kreistag des Kreises Aurich der NSDAP am 11. und 12. Juni 1938 in Aurich, hg. von der Kreisleitung der NSDAP in Aurich, verantw. für den Inhalt: Wilh. Kranz, Aurich 1938. Bibliothek der Ostfriesischen Landschaft in Aurich

Biografie – SA-Sportwart Wilhelm Bock

Wilhelm Bock war am 10. November 1938 an Hausdurchsuchungen bei den Familien Wallheimer und Valk beteiligt. Im Bekleidungsgeschäft der Firma H. C. Knurr beschlagnahmte er Geld aus der Ladenkasse (2.000-3.000 RM). Eine besondere Rolle nahm er in seiner Funktion als SA-Sportwart wahr, als er in der Landwirtschaftlichen Halle die männlichen Auricher Juden in entwürdigender Weise „Sport“ treiben ließ. Später gab er vor Gericht an, er hätte auf Befehl des Sturmbannführers Eltze gehandelt und die „Lockerungsübungen, Dauerlauf, Drittenabschlagen und Bockspringen“ durchführen lassen, weil die Juden doch „gefroren“ hätten.

Wilhelm Bock wurde 27. Dezember 1897 in Hamburg geboren. Die Familie, sein Vater war Gärtner, zog bald nach Aurich um, wo Bock eine Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten absolvierte. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich bei der Marine und wurde 1919 entlassen – dekoriert mit dem Ehrenkreuz für Frontkämpfer. In Aurich arbeitete er zunächst kurze Zeit beim Infanterieregiment 29. Von 1920 bis 1930 war er als Büroangestellter bei der Ostfriesischen Landschaftlichen Brandkasse tätig und wurde dann als Kassierer bei der Kreissparkasse Aurich angestellt.

1939 wurde er erneut zur Marineflak eingezogen und geriet 1945 als Oberfeldfeldwebel in britische Gefangenschaft. Ab 1947 arbeitete er bei seinem Vater in einer Gärtnerei in Aurich.

Er war verheiratet und hatte drei Kinder, ein Sohn fiel im Krieg.

1933 war er der SA-Reserve beigetreten und wurde am 01. Mai 1937 in die NSDAP aufgenommen, wo er allerdings keine Funktionen ausübte. In der SA war er als Sportwart tätig, 1938 im Dienstrang eines Scharführers. In der Folge brachte er es noch zum Truppführer.

Er wurde bei der Entnazifizierung in Kategorie III, d.h. als „Minderbelasteter“ (Bewährungsgruppe) eingestuft.

Das Schwurgericht Aurich verurteilte ihn im Februar 1950 zu zehn Monaten Gefängnis wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schwerem Landfriedensbruch, gemeinschaftlicher schwerer Freiheitsberaubung und gefährlicher Körperverletzung. In der Urteilsbegründung hieß es, er habe aus einem „falsch verstandenen soldatischen Gehorsam heraus die Durchführung der ihm erteilten Befehle zu seiner eigenen Sache gemacht“. Das Gericht erkannte an, dass „er sich als alter Soldat verpflichtet fühlte, Befehle seiner Vorgesetzten auch auszuführen“. Man rechnete ihm an, dass er ein „offenes Geständnis abgelegt“ habe, was auf „innere Einkehr“ schließen lasse. Aufgrund des Straffreiheitsgesetztes von 1949 wurde die Strafvollstreckung im Dezember 1950 aufgehoben.

Biografie – SA-Obersturmführer Tjarko Gerdes

Tjarko Gerdes gehörte zu der Führergruppe auf dem Auricher Marktplatz, die die „Aufholung“ der Juden koordinierte und vorantrieb. Er hatte zu der Zeit den Rang eines SA Obersturmführer z.b.V. der Standarte Emden inne. Auf seine Anordnung hin wurden Juden aus ihren Wohnungen geholt und in die Landwirtschaftliche Halle gebracht. Ihm konnte 1950 nachgewiesen werden, dass er selber aktiv an der Festnahme der Brüder Jakob und Willi Wolff in Ostgroßefehn beteiligt gewesen war. Zusätzlich wurde er der „räuberischen Erpressung“ angeklagt: Er hatte in den Tagen nach der Pogromnacht bei Benjamin Wolff einen Schreibtisch beschlagnahmt, den er in das neu eingerichtete SA-Büro in der jüdischen Volksschule bringen ließ.

Gerdes, geboren 1906 in Bangstede, war Sohn eines Landwirts. Er galt als „Alter Kämpfer“, da er bereits 1928 in die NSDAP und 1931 in die SA eingetreten war. Ab 1934/35 arbeitete er als Angestellter bei der Kreisbauernschaft Aurich und anschließend bis 1943 bei der Viehverwertungsgenossenschaft Aurich. 1938 war er Ratsherr der Stadt Aurich. Als Obergefreiter wurde er im Krieg in den Niederlanden und Italien eingesetzt. Bis 1948 befand er sich in französischer Kriegsgefangenschaft. 1942 soll er auf eigenen Wunsch aus der SA ausgetreten sein.

Er wurde 1950 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit Landfriedensbruch, gemeinschaftlicher schwerer Freiheitsberaubung und räuberischer Erpressung. Die Strafvollstreckung wurde zwar nicht ausgesetzt, sein Anwalt erreichte allerdings einen Strafaufschub bis Ende 1951, so dass er erst im Januar 1952 die Strafe antreten musste. Im April 1952 wurde er bereits wieder entlassen und die restlichen neun Monate Haft wurden in eine Geldstrafe von 1.200 DM umgewandelt. Sein Entnazifizierungsverfahren endete mit der Einstufung in Kategorie III (Bewährungsgruppe). Tjarko Gerdes bewirtschaftete in der Folge einen Bauernhof in Simonswolde, wo er 1967 starb.

Biografie – SS-Scharführer Georg Lang

Der SS-Mann Georg Lang war an der „Aufholung“ der alten und gebrechlichen Brüder Bendit (81 Jahre), Herz (79 Jahre) und Ruben Samson (74 Jahre) beteiligt. Im Strafprozess 1950 gab er an, auf Befehl des Kreisleiters Heinrich Bohnen gehandelt zu haben. Da sich die Alten noch im Schlafanzug befanden, ließ er nachfragen, ob diese zur Halle gebracht werden sollten. Er erfuhr, dass diese von der „Aktion“ nicht betroffen wären, brachte aber nur Bendit Samson wieder zurück. Das Haus der Samsons wurde durchsucht, Wäsche und Möbel wurden abtransportiert. Georg Lang war im weiteren Verlauf auch an der Bewachung der Juden in der Landwirtschaftlichen Halle beteiligt, obwohl die SS bei dem Novemberpogrom offiziell nicht eingesetzt wurde. Als der Arzt Dr. Manfred Hoffmann in die Halle geführt wurde, soll er diesen mit einem Tritt misshandelt haben.

Georg Lang, Sohn eines Brauers, wurde 1910 in Aurich geboren. Er besuchte die Volksschule, machte eine Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten und arbeitete in einem Schuhgeschäft. 1933 trat er der Allgemeinen SS bei und übernahm die Funktion des Sportwarts, 1938 war er Scharführer. 1937/38 trat er auch in die NSDAP ein. 1939 wurde er zur Waffen-SS eingezogen und war in Italien, Ungarn und Polen im Einsatz. Bis 1947 befand er sich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. In der Nachkriegszeit arbeitete er wieder als Schuhverkäufer.

Er wurde zu einer Gefängnisstrafe von acht Monaten verurteilt, wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit, schwerem Landfriedensbruch, Freiheitsberaubung und gefährlicher Körperverletzung. Aufgrund des Straffreiheitsgesetzes von 1949 wurde seine Strafe 1950 zur Bewährung ausgesetzt. Bei Strafhöhen zwischen sechs Monaten und einem Jahr Freiheitsentzug konnte die Vollstreckung der Freiheitsstrafe ausgesetzt und in eine Bewährungsstrafe umgewandelt werden. Voraussetzung war, dass der Täter nicht „aus Grausamkeit, aus ehrloser Gesinnung oder aus Gewinnsucht“ gehandelt hatte. Das wurde Georg Lang zugestanden.

Biografie – Anna Nannen, geb. Dieken

Anna Nannen war die einzige Frau, die 1949 in Aurich vor Gericht gestellt wurde. Ihr Verhalten in der Pogromnacht spiegelt den alltäglichen Antisemitismus wieder.

 

Anna Nannen wurde 1901 in Walle als Tochter eines Landwirts geboren. Sie besuchte die Volksschule und arbeitete bis zu ihrer Heirat mit 21 Jahren als Köchin. Ihr Mann war Filmvorführer und später beim Wehrbezirkskommando tätig. Er war Mitglied in der NSDAP und im NSKK und starb 1942, sie selber wurde kein Mitglied in der NSDP. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor.

Anna Nannen wohnte in der Wallstraße, in der viele jüdische Familien lebten. In den Morgenstunden des 10. November schloss sie sich den „Aktionsteilnehmern“, den Aufholtrupps an, die nach den Brüdern Fritz (1907-1945) und Josef (1911- 1945?) Seckels suchten, die mit ihrer Familie in der Marktstraße, in ihrer direkten Nachbarschaft, lebten.

Sie soll die Männer noch angefeuert haben, indem sie rief: „Na sucht man, die sind noch drin!“ Fritz und Josef Seckels wurden bald darauf auf dem Dachboden ihres Hauses gefunden und zur Viehauktionshalle gebracht.

Wie fast alle Angeklagten leugnete sie 1950 vor Gericht, an der Aufholung der Juden beteiligt gewesen zu sein. Sie konnte aufgrund von Zeugenaussagen überführt werden. Diese Zeugen gaben auch an, dass sie früher schon vor Juden ausgespuckt und dazu gesagt haben soll: „So wollen wir es haben.“

Das Gericht erkannte an, dass sie der Menschenmenge vor dem Haus der Seckels „in dem Bewusstsein und mit dem Willen angehörte, dass es aus ihr heraus zu einer gewaltsamen Festnahme der beiden Seckels“ kommen würde. Sie habe die Festnahme „wissentlich“ gefördert und die Menge „dadurch in ihrem Täterwillen bestärkt.“

Die Anklage lautete auf „Beihilfe zu schwerer Freiheitsberaubung“. Da ihre Strafe bei sechs Monaten Gefängnis lag – wie auch bei weiteren neun Angeklagten – und sie damit unter das Amnestiegesetz fiel, wurde das Verfahren 1950 eingestellt.

Justizielle Ahndung

Im Prozess um den Synagogenbrand in Aurich wurden im Dezember 1948 vier Männer vor dem Schwurgericht des Landgerichts Aurich wegen Brandstiftung, Landfriedensbruchs, schwerer Freiheitsberaubung und Verbrechens gegen die Menschlichkeit angeklagt: der NSDAP-Kreisleiter Heinrich Bohnens, der Maler Hermann Theesfeld, der Kaufmann Karl Rector und der Regierungsobersekretär Harm Flügge. Letzterer wurde wie Bohnens wegen seiner „Zugehörigkeit zum Korps der politischen Leiter“ in Internierungshaft genommen. Er blieb dort bis zum 19. Juni 1948, eine aktive Beteiligung an der Brandstiftung wurde ihm nicht nachgewiesen.

Bohnens, dem man nicht die aktive Teilnahme an der Brandstiftung nachweisen konnte, wurde zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren verurteilt, zudem wurden ihm die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von vier Jahren aberkannt. Theesfeld erhielt eine Gefängnisstrafe von einem Jahr und Rector von zehn Monaten. Bohnens wurde 1950 vorzeitig entlassen. Als Initiator und Organisator wurde ein Verstorbener genannt: Sowohl für die Brandlegung wie auch die Aufholung und Misshandlung der Juden wurde der SA-Sturmbannführer Georg Eltze verantwortlich gemacht. Er war wie der SA-Mann Haas, dem besonders brutales Vorgehen zugeschrieben wurde, im Krieg gefallen.

In einem zweiten Prozess 1949/1950 wurde wegen der Ausschreitungen in der Pogromnacht Anklage gegen 28 weitere Personen, darunter eine Frau, erhoben, die des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, Landfriedensbruchs und der Freiheitsberaubung angeklagt wurden. Obwohl viele Auricher die Nacht und den kommenden Tag miterlebt hatten, fanden sich kaum Zeugen, die bereit waren, auszusagen. Einige Zeugen zogen, als es ernst wurde, ihre früheren Aussagen wieder zurück. Die große Mehrheit der angeklagten SA Männer behauptete, sich nicht an die Ereignisse erinnern zu können, dass sie geschlafen hätten, gar nicht in Aurich anwesend gewesen seien oder dass sie nur mit der Absperrung der Straßen beauftragt worden seien.

Am 16. Februar 1950 erfolgte die Urteilsverkündung: Elf der Angeklagten erhielten Freiheitsstrafen zwischen sieben Monaten und einem Jahr Gefängnis, zehn Verfahren wurden aufgrund des Straffreiheitsgesetztes von 1949 eingestellt, sieben wegen mangels an Beweisen eingestellt. Keiner der elf Verurteilten musste die Haft vollständig verbüßen.

Bericht in den Ostfriesische Nachrichten vom 17.02.1950 über die verhängten Strafen im Synagogenbrandprozess: „Gefängnisstrafen im Kristallnachtprozeß – Auch ein Befehl keine Entschuldigung – Wenig Bereitschaft zur Wahrheit“. Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Aurich

Spuren und Gedenken

Nach 1945 erinnerte nur noch wenig an das jüdische Leben in Aurich und an die vertriebenen und ermordeten Mitbürger. Nur der 1764 angelegte jüdische Friedhof an der Von-Jhering-Straße blieb bis heute erhalten.

Mitte der 1960er Jahre versuchte Johannes Diekhoff, damals Lehrer an der IGS Aurich-West, erstmals mit seinen SchülerInnen, Kontakt zu den vertriebenen jüdischen Aurichern in Israel, besonders zu Wolff Wolffs, aufzunehmen. Gut zehn Jahre später initiierte er eine öffentliche Spurensuche mit SchülerInnen nach den ehemaligen jüdischen Bewohnern in Aurich. Es entstanden eine erste Dokumentation und eine Ausstellung zur Geschichte der Auricher Judengemeinde.

Ab 1981 hat Wolfgang Freitag, Nachfolger von Diekhoff als Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) Ostfriesland, regelmäßig Besuche in Israel vorbereitet und durchgeführt. 1984 besuchten erstmals ehemalige Auricher Bürger aus Israel ihre Geburtsstadt, und im Frühjahr 1992 fand ein auch von großem öffentlichem Interesse begleiteter, offizieller mehrtägiger Besuch ehemaliger Auricher Juden und ihrer Angehörigen aus verschiedenen Ländern statt. Von 1983 bis 2007 organisierte die DIG regelmäßig Jugendaustausche für Auricher Schulen.

Seit Oktober 1987 unterhält der Landkreis Aurich eine offizielle Partnerschaft mit der Stadt Bat-Yam bei Tel-Aviv.

1980 gründete sich ein Arbeitskreis zur „Geschichte der Jüdischen Gemeinden in Ostfriesland“ bei der Ostfriesischen Landschaft in Aurich. Anlässlich des 50. Jahrestages des Novemberpogroms erarbeitete der Arbeitskreis 1988 eine Ausstellung mit einem Begleitband über „Das Ende der Juden in Ostfriesland“. Seit 1998 hat die Ausstellung „gedemütigt – verfolgt – getötet. Das Leben der Auricher Juden“ im Historischen Museum Aurich einen festen Platz im Schaubereich.

 

Die Gedenkstelen am Hohen Wall mit den Namen der ermordeten Auricher Juden sowie die Säule mit einer Nachbildung der Synagoge wurden 2002 aufgestellt. An die einstige jüdische Schule erinnert eine Gedenktafel am Hause der Ärztekammer in der Kirchstraße.

2012 wurde zusätzlich eine Gedenkplatte (Granitplatte) vor dem Sozialgericht in das Pflaster eingebettet. Ein Pfeil zeigt in Richtung der ehemaligen Synagoge. Die Abraham-Wolffs-Straße erinnert an den letzten Vorsteher der jüdischen Gemeinde.

Im Jahr 2010 begannen die Vorbereitungen zur Verlegung von Stolpersteinen, unterstützt von der Stadt Aurich. Der stellvertretende Vorsitzende der DIG-Ostfriesland, Günther Lübbers, ermöglichte Kontakte zu Überlebenden und deren Nachkommen in Israel, den USA, den Niederlanden und Großbritannien, so dass bei den Verlegungen auch immer wieder ehemalige Auricher MitbürgerInnen und ihre Nachkommen aus aller Welt teilnehmen. Von Anfang an wurden SchülerInnen und KonfirmandInnen bei den Recherche- und Verlegearbeiten einbezogen. Am 8. November 2011 konnte der erste dieser Gedenksteine in Aurich verlegt werden. Ende 2021, so ist es geplant, werden knapp über 400 Stolpersteine an die jüdische Bevölkerung Aurichs erinnern.

Der jüdische Friedhof in Aurich an der Emder Straße. Foto: Günther Lübbers

Weiterführende Literatur und Links

Peter Bahlmann, Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Wiederaufbau der Justiz und frühe NS-Prozesse im Nordwesten Deutschlands, Dissertation an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Oldenburg 2008, in: Emder Jahrbuch für historische Landeskunde Ostfrieslands, Verlag der Ostfriesischen Landschaft, Aurich: Teil 1 Bd. 91 (2011), S. 105-163; Teil 2: Bd. 92 (2012), S. 185-199; Teil 3: Bd. 93 (2013), S. 35-117; online unter: http://oops.uni-oldenburg.de/1015/1/bahver08.pdf

Bernd Volker Brahms, Stolperstein Geschichten – Spurensuche gegen das Vergessen. Aurich, hrsg. vom Ulrich Völkel Eckhaus Verlag Weimar 2018.

Johannes Diekhoff, Die Auricher Judengemeinde von 1930 bis 1940, in: Herbert Reyer (Hg.), Aurich im Nationalsozialismus (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands 69), Aurich 21993, S. 247-299.

Inge Lüpke-Müller, Artikel Heinrich Bohnens, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland; online unter: https://www.ostfriesischelandschaft.de/fileadmin/user_upload/BIBLIOTHEK/BLO/Bohnens.pdf.

Herbert Reyer, Aurichs Weg ins „Dritte Reich“, in: Ders. (Hg.), Aurich im Nationalsozialismus (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands 69), Aurich 1993 (2. Aufl.), S. 19-90.

Herbert Reyer, Artikel Aurich, in: Herbert Obenaus (Hg.) in Zusammenarb. mit David Bankier und Daniel Fraenkel, Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bände, Göttingen 2005, S. 1-28; online unter: http://www.unics.uni-hannover.de/hdb-synagogen-nds/Aurich.pdf

Rolf Uphoff, Reise ohne Wiederkehr, Wege in das Grauen – die Deportation der letzten jüdischen Bürger Emdens, Nordens und Aurichs, Emden 2011.

Sandra Weferling, u.a. (Bearb.), Judenverfolgung im Nationalsozialismus am Beispiel Aurichs / Materialkoffer und Unterrichtskiste Stolpersteine, hg. vom Regionalen Pädagogischen Zentrum Aurich, Ostfriesische Landschaft, 2015.

https://stolpersteineaurich.wordpress.com; Homepage des Projekts „Stolpersteine – Im Gedenken an Aurichs Opfer des Nationalsozialismus“

http://www.alemannia-judaica.de/aurich_synagoge.htm; Alemania Judaica: Artikel Aurich

Autorin: Astrid Parisius, Aurich