November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Peine

Die früheste Erwähnung jüdischer Bewohner in Peine datiert auf das Jahr 1350. In den Jahren 1457/58 wurden die Juden jedoch aus dem Hochstift Hildesheim vertrieben, so dass erst ab 1603 wieder Juden in Peine nachweisbar sind. In der Folgezeit entwickelte sich eine kleine Gemeinde, deren Mitglieder in der ungeschützten Vorstadt auf dem Damm siedeln mussten. Dort sind auch seit Anfang des 18. Jahrhunderts eine Mikwe (rituelles Tauchbad) und eine Synagoge erwähnt. Der Friedhof lag in einem Vorort auf Domänenland. Ende des 18. Jahrhunderts bestand die Gemeinde aus 44 Familien.

Entscheidend für die jüdische Gemeinde wurde das 19. Jahrhundert. In Folge der napoleonischen Emanzipation begann ein von vielen Widerständen aus Kaufmannschaft und Handwerk begleiteter Prozess, der dazu führte, dass sich mehr und mehr jüdische Geschäftsleute in der Stadtmitte ansiedeln konnten und auch in die Kaufmannsgilde aufgenommen wurden. Noch 1848 bezeichnete die Kaufmannsgilde die jüdischen Kaufleute als „fressendsten Krebs“ für die Stadt, Ende des 19. Jahrhunderts traten Juden jedoch als Bürgervorsteher und Vereinsvorsitzende in Erscheinung. Sichtbarer Ausdruck der Entwicklung zur Anerkennung als vollwertige Bürger der Stadt war die Einweihung der neuen Synagoge 1907 im Hagenviertel, einem gerade erst erschlossenen Stadtviertel in der Innenstadt. Bei diesem mehrtägigen Fest versammelte sich die gesamte städtische Gesellschaft.

Gleichzeitig verstärkten sich organisierte antisemitische Strömungen. Bedeutend war der Jungdeutsche Orden, dem zahlreiche Mitglieder der städtischen Elite bis hin zum Bürgermeister angehörten. Der Aufstieg der NSDAP in Peine ist vor allem mit dem Namen von Hans Kerrl verbunden, der später Reichskirchenminister wurde. In der zwischen bürgerlichen und Arbeiterparteien gespaltenen politischen Landschaft der Stadt gab es bereits Mitte der 1920er Jahre Bestrebungen des bürgerlichen Lagers zur Einbeziehung der Nationalsozialisten.

Die Machtübernahme durch Adolf Hitler sowie die Märzwahlen 1933 hatten auch in Peine schnell die Durchsetzung des Antisemitismus als Leitlinie der Politik und des gesellschaftlichen Handelns zur Folge. Neben den reichsweiten Aktionen wie dem Aprilboykott 1933 galt der Kampf der örtlichen Nationalsozialisten vor allem der wirtschaftlichen Grundlage der jüdischen Familien. Besonders im Handel mit Textilwaren waren viele jüdische Kaufleute vertreten, denen in einer Mischung aus Straßenterror und behördlichen Schikanen nach und nach die Lebensgrundlage entzogen wurde.

Innenraum der alten Synagoge im Garten des Hauses Damm 12, ca. 1905. Stadtarchiv Peine

Ausgangspunkt der Ereignisse am Vormittag des 10. November 1938 war die Anweisung der Gestapo Hildesheim um 4 Uhr morgens, die jüdischen Männer in der Stadt festzunehmen. Daraufhin wurden ab 6 Uhr mindestens 14 Männer durch die Kriminalpolizei Peine verhaftet, wobei der 17jährige Hans Marburger nach Rücksprache mit der Gestapo Hildesheim wieder nach Hause entlassen wurde. Parallel zu den Verhaftungen wurden Angehörige der SS in der Stadt mobilisiert, die sich sofort an der Polizeiwache am Marktplatz einfinden sollten. Dort trafen sie auf einen kleinen Trupp SS-Männer aus Braunschweig unter Leitung des SS-Hauptsturmführers Paul Szustak, eines engen Vertrauten des SS-Obergruppenführers Friedrich Jeckeln.

Anschließend suchte die Gruppe die Wohnungen der jüdischen Familien auf, verschaffte sich gewaltsam Zugang, zerstörte dort das Mobiliar und sperrte beim Verlassen der Wohnungen die anwesenden Frauen ein. Einige Nachbarn halfen den Frauen später, sich zu befreien. Mindestens zehn Wohnungen und Geschäfte wurden an diesem Donnerstagvormittag bis etwa 9:30 Uhr auf diese Weise heimgesucht. Aus der letzten Wohnung der Familie Marburger wurde der Sohn Hans mit zur Synagoge genommen.

Auf dem Weg zur Synagoge beschaffte sich die Gruppe der SS-Männer Benzin. An der Synagoge angekommen, wurde zunächst die Wohnung des Verwalters Adolf Laube im Erdgeschoss gestürmt, verwüstet und geplündert. Paul Szustak riss derweil im ersten Stock die Vorhänge ab und übergoss sie, den Teppich und weitere Gegenstände mit Benzin und legte Feuer. Anschließend erschoss er in der Erdgeschosswohnung Hans Marburger, den man vermutlich mitgenommen hatte, weil er sich in der Synagoge auskannte. Der Grund für den Mord ist unklar, vermutlich sollte damit ein Zeuge beseitigt werden.

Die Inbrandsetzung der Synagoge am hellichten Tag verursachte einen gewaltigen Menschenauflauf vor dem Gebäude. Im Nu waren die Ereignisse Stadtgespräch; auch dass es einen Toten gegeben hatte, blieb nicht unbekannt.

Die brennende Synagoge, aufgenommen aus der Dachluke eines Gebäudes in der Bodenstedtstraße, 10. November 1938. Foto: Walter Bitter, Stadtarchiv Peine

Die sterblichen Überreste von Hans Marburger wurden von SS-Angehörigen in der Nacht zum 11. November 1938 in einen Waschtopf aus Zink gelegt und dem Leiter der Peiner Feuerwehr Heinrich Habenicht übergeben, der damit von der Synagoge zu einer Brücke fuhr und den Behälter in den Mittellandkanal warf.

Die verhafteten Männer wurden bis zum Ende des Jahres 1938 wieder aus der Konzentrationslagerhaft entlassen. Die anschließenden Bemühungen der Familien um Emigration hatten nur teilweise Erfolg. Anfang 1942 wurden die noch in Peine wohnenden ca. 40 jüdischen Frauen und Männer deportiert und ermordet. Es handelte sich vor allem um Alte, Arme und Kranke, die keine Chance auf Auswanderung gehabt hatten. Die Wohnungen der jüdischen Gemeinden wurden zwischen der Stadtverwaltung und Parteidienststellen aufgeteilt. Ein Biedermeierzimmer der Familie Sostmann ergänzte die Sammlung des Heimatmuseums, nachdem der Kulturfunktionär und Lehrer Hans Michael Finger in einem Gutachten erklärt hatte, dass die Möbel „nichts jüdisches an sich hatten“.

Die Synagoge war durch den Brand stark zerstört, jedoch die massive Mittelkuppel hatte dem Feuer standgehalten. Die Abrissarbeiten gestalteten sich daher schwierig und zogen sich bis in das Frühjahr 1939 hin. Der letzte Vorsteher der Synagogengemeinde Louis Fels wurde von der Stadtverwaltung gezwungen, den Abriss auf Kosten der Gemeindemitglieder durchzuführen.

Abriss der ausgebrannten Synagoge im Winter 1938/39. Stadtarchiv Peine

Kennkarte von Louis Fels, dem letzten Vorsteher der Synagogengemeinde. Louis Fels emigrierte 1939 mit seiner Frau Johanna in die Niederlande. Völlig verarmt, beging er dort 1940 Selbstmord. Stadtarchiv Peine

Der Kaufmann Max Herzfeld hatte 1920 im Alter von 30 Jahren von seinem Vater das Kaufhaus „Brunsviga“ Am Markt 1 übernommen. Bereits sein Vater Hermann war in Auseinandersetzungen mit der Kaufmannsgilde verwickelt, weil er seine Kundschaft vornehmlich durch niedrige Preise anzusprechen versuchte. Max Herzfeld verfolgte diesen Kurs weiter und betrieb das Kaufhaus als Einheitspreisgeschäft mit angeschlossener Imbissecke. Gegen dieses Konzept gab es massive Proteste der Kaufmannsgilde und der Gastwirte.

Nach den Märzwahlen 1933 knüpften die Nationalsozialisten an diese Auseinandersetzungen an. Für sie war die Bekämpfung von Max Herzfeld ein wichtiges Ziel, weil sich das Kaufhaus direkt am Marktplatz befand und bei jedem Aufmarsch daran erinnerte, dass das Ziel der Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben noch nicht erreicht war. In der Folge sollte Herzfeld in einem Zusammenspiel von offenem Terror und bürokratischer Drangsalierung in die Knie gezwungen werden. So wurde wiederholt sein Weihnachtsgeschäft gestört, indem übelriechende Flüssigkeiten in den Verkaufsräumen verteilt wurden und die vorzeitige Schließung des Geschäfts erzwangen. Der stellvertretende Kreisleiter sprach Personen an, die das Geschäft betreten wollten, und nachts wurden die Schaufenster eingeworfen. Parallel wurde Max Herzfeld bis vor das Reichswirtschaftsgericht verklagt, um den Ausschank von Speisen und Getränken zu verhindern; es wurde das Gerücht gestreut, dass er verdorbenen Kuchen anbiete, und schikanöse Kontrollen der Stadtverwaltung legten den Betrieb lahm.

Schließlich verkaufte Max Herzfeld das Geschäft im Jahr 1936 an seinen guten Bekannten Alfred Hertel. Die Familie Herzfeld war damit nicht mehr Ziel des täglichen Terrors und blieb in dem Gebäude wohnen. 1939 schickten Käte und Max Herzfeld ihren einzigen Sohn Hans Hermann mit einem Kindertransport nach England. Ihre eigenen Bemühungen um Emigration scheiterten in der Folgezeit. Im April 1942 wurden Käte und Max Herzfeld verhaftet und in das Ghetto Warschau deportiert. Wo und wann sie ums Leben gekommen sind, ist nicht bekannt.

Käte, Hans Hermann und Max Herzfeld in ihrer Wohnung Am Markt 1, ca. 1935/36. Stadtarchiv Peine

Der Jurist Dr. Wiard Bronleewe war 1933 im Alter von 36 Jahren der NSDAP beigetreten. Vier Jahre später wurde er zum Ersten Beigeordneten der Stadt Peine ernannt. Nachdem der Bürgermeister Erich Krüger bei einer Fahrt zu den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges tödlich verunglückt war, übernahm er dessen Amt. Daneben war er als Kreisamtsleiter für Kommunalpolitik Angehöriger der NSDAP-Kreisleitung Peine.

In der Doppelfunktion als Bürgermeister, der nach dem „Führerprinzip“ alle wichtigen Entscheidungen selbstständig treffen konnte, und Mitglied der NSDAP-Kreisleitung trägt er die Verantwortung für die Umsetzung der zunehmend radikaler werdenden nationalsozialistischen Politik in den Kriegsjahren. Besonders bei der Verfolgung der jüdischen Gemeinde spielte er eine maßgebliche Rolle. Er plante 1941 den jüdischen Friedhof „einzuplanieren und der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen“. Seine Kenntnis über die Endgültigkeit der Deportation der jüdischen Bevölkerung zeigt sich daran, dass er Anfang 1942 den Prozess der „Verteilung der Judenwohnungen“ koordinierte.

Umstritten ist sein Verhalten bei Kriegsende, als es durch Verhandlungen mit den Amerikanern gelang, Peine kampflos zu übergeben und somit vor einer befürchteten Bombardierung zu retten. Einige Berichte beschreiben ihn als eher passiven Beteiligten, der zur Aufgabe der Stadt gedrängt werden musste, während ihn Andere als treibende Kraft der Ereignisse sehen, eine Sichtweise, die er auch selbst gefördert hat.

1945 von den Alliierten abgesetzt, wurde er bereits 1947 wieder in politischen Parteien und verschiedenen Verbänden aktiv, darunter in der Deutschen Partei. Seit 1952 gehörte Bronleewe wieder dem Rat der Stadt Peine an; nach längeren, auch juristischen Auseinandersetzungen wegen seiner NSDAP-Vergangenheit konnte er 1954 Stadtverwaltungsrat und damit stellvertretender Stadtdirektor werden. Als Dezernent leitete er das Rechtsamt und das Sozialwesen. 1957 erfolgte die Beförderung zum Stadtoberverwaltungsrat. 1962 trat er in den Ruhestand und lebte bis zu seinem Tod 1976 in Peine. Der rasche Wiederaufstieg Bronleewes nach 1945 in der Peiner Politik und Verwaltung steht exemplarisch für die rasche Integration ehemaliger NSDAP-Mitglieder, auch wenn sie an führender Stelle Verantwortung getragen hatten.

Bürgermeister Dr. Wiard Bronleewe bei einer Ansprache vor dem Peiner Rathaus, 1940. Stadtarchiv Peine

Gegen Paul Szustak, der während des Pogroms den 17jährigen Hans Marburger in der Synagoge erschossen hatte, und seine Mittäter wurde 1949/50 vor dem Schwurgericht Hildesheim verhandelt. Für den Prozess wurden umfangreiche Zeugenvernehmungen durchgeführt, die es erlauben, die Ereignisse in Peine minutiös zu rekonstruieren. Die ausführliche Berichterstattung in der Presse rief der Bevölkerung kurz nach Kriegsende das Geschehen wieder in Erinnerung.

Letztlich konnte nicht geklärt werden, warum Paul Szustak Hans Marburger in der Wohnung des Synagogenverwalters erschossen hat. Seine Version, dass er in Notwehr gehandelt habe, weil Hans Marburger mit einem Messer auf ihn losgegangen sei, wurde angesichts der schmächtigen Statur des Jungen als unglaubwürdig beurteilt. Vermutlich war er ein unbequemer Zeuge, weil er die Brandstiftung aus nächster Nähe beobachten musste. Paul Szustak wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit Totschlag, schwerer Brandstiftung und Freiheitsberaubung verurteilt. Dies ist das härteste Urteil in den Nachkriegsprozessen wegen der Tötungen während der Pogromnacht. Allerdings wertete das Gericht die Tat nicht als Mord, weil das ausschlaggebende Merkmal der Überlegung gefehlt habe. Bereits 1956 wurde die Strafe in zehn Jahre Zuchthaus umgewandelt.

Außer Szustak wurden zwei weitere SS-Männer zu Freiheitsstrafen von 9 Monaten und 6 Monaten verurteilt. Einer von ihnen war der Peiner Friedrich Werthmann, dessen Vater die Filiale der Reichsbank in Peine geleitet hatte. Er selbst arbeitete für die landwirtschaftliche Brandkasse.

Prozessbericht aus der Hannoverschen Presse, 6. Juli 1950. Stadtarchiv Peine

Bereits 1948 wurde am Ort der zerstörten Synagoge ein Mahnmal errichtet, das in hebräischer, englischer und deutscher Sprache die Inschrift trägt: „Hier stand die Synagoge, die am 11.11.1938 von unberufenen Händen zerstört wurde.“ Diese Inschrift ruft seit jeher Kritik hervor, nicht nur, weil die Zerstörung bereits am 10. November stattfand. Vor allem die Bezeichnung „unberufene Hände“ wird heute als unpassend empfunden. An dem Mahnmal findet jedes Jahr am 9. November eine Gedenkveranstaltung statt. Ein Teilstück der Bodenstedtstraße ist zu Ehren des ermordeten Jugendlichen in Hans-Marburger-Straße umbenannt worden. Seit 2005 befinden sich Informationstafeln an dem Grundstück der ehemaligen Synagoge, die vom Kreisheimatbund Peine gestaltet wurden. In diesem Zusammenhang wurde auch eine Informationstafel am jüdischen Friedhof im Stadtteil Telgte errichtet.

Insgesamt 55 Stolpersteine erinnern inzwischen an Opfer des Nationalsozialismus im Landkreis Peine. Dazu gehören nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern vor allem auch politisch Verfolgte. Die heutigen Besitzer des ehemaligen Wohnhauses der Familie Marburger am Damm 37 haben dort auf eigene Initiative eine Erinnerungstafel an das Schicksal von Hermann, Rosa und Hans Marburger anbringen lassen. Die Stadt Peine würdigt mit einer Tafel am Geburtshaus von Sally Perel, der als Hitlerjunge „Salomon“ bekannt wurde, den Peiner Ehrenringträger.

Erinnerungstafel für die Familie Marburger am Gebäude Damm 37, 2015. Foto: Michael Utecht, Stadtarchiv Peine

Mahnmal am Standort der ehemaligen Synagoge an der Ecke Hans-Marburger-Straße und Goethestraße, 2016. Foto: Michael Utecht, Stadtarchiv Peine

Bernd Mau / Christiane Schikora, Die Geschichte der Peiner Juden unter besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1933 bis 1945, Ms., Peine 1979. Das Manuskript kann im Stadtarchiv Peine eingesehen werden.

Jens Binner (Hg.), Spuren vergessener Nachbar. Marburger, Spiegelberg, Fels… Ein Spaziergang durch das jüdische Peine, hg. v. Peiner Bündnis für Zivilcourage und Toleranz, Peine 2003.

Ders., Die jüdische Gemeinde in Peine vom Mittelalter bis 1942 (Schriftenreihe des Kreisheimatbundes Peine e.V., Bd. VI), Peine 2009.