November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Celle

Erste urkundliche Hinweise auf eine jüdische Bevölkerung gibt es in der Stadt Celle seit dem 16. Jahrhundert. Vom Beginn einer jüdischen Gemeinde in Celle kann im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts gesprochen werden, nachdem fünf „Schutzjuden“ mit ihren Familien die herzogliche Erlaubnis erhielten, sich in der Vorstadt, der Blumlage, niederzulassen. Diese Gemeinschaft trat 1737 auch erstmals als „Judenschaft Celle“ auf. Aufgrund merkantilistischer Bestrebungen des Landesherrn war es für die jüdische Bevölkerung schnell möglich, im Bereich der Industrie und des Handels Fuß zu fassen. Dieses führte dazu, dass in der Stadt Celle im Jahre 1745 bereits 45 Familien mit 141 Personen jüdischen Glaubens lebten, was für niedersächsische Verhältnisse einer recht großen Gemeinde entsprach. So kam es auch, dass die jüdische Gemeinde 1738, nachdem die Juden des Fürstentums Lüneburg am 8. Juli 1737 das Recht zum Bau eigener Schulen und Synagogen erhalten hatten, zwei Grundstücke in der Straße „Im Kreise“ (Nr. 23 und 24) erwarb, um eine Synagoge und eine Schule zu errichten. Die Synagoge wurde um 1740 eingeweiht.

Zuvor stand der Gemeinde in der Blumlage nur ein erster Betraum zur Verfügung. Bereits 1691 wurde der jüdischen Bevölkerung der Stadt schon eine Begräbnisstätte nördlich der Aller zugewiesen. Die ersten Grabsteine des Jüdischen Friedhofes stammen aus den Jahren 1705, 1716 und 1734. Im Zuge der Emanzipationsgesetzgebung im 19. Jahrhundert siedelten Teile der jüdischen Bevölkerung von der Blumlage in das Stadtzentrum über und eröffneten auch ihre Geschäfte dort. Die jüdischen Geschäftsleute wurden außerdem Teil des kulturellen Stadtlebens, indem sie Mitglieder in den bedeutendsten Vereinen der Stadt wurden.

Bereits nach dem Ersten Weltkrieg war in der Stadt Celle teilweise offen gelebter Antisemitismus zu spüren. Vereinzelt kam es zu Schmierereien und Flugblätter wurden ausgegeben, die zu Angriffen auf Juden aufriefen. Nach dem Machtantritt der NSDAP lebten noch etwa 60-70 Menschen jüdischen Glaubens in der Stadt Celle. Nicht alle nahmen noch aktiv am Gemeindeleben teil; einige zeigten ihren Glauben nicht öffentlich. Die meisten der noch verbliebenen Familien verdienten ihren Lebensunterhalt im Einzelwarenhandel. Die Einzelhandelsgeschäfte und auch zwei große Kaufhäuser waren neben zweier Rechtsanwaltspraxen von den reichsweiten Boykottaktionen im April 1933 betroffen. Wenige Tage nach dem „Aprilboykott“ beschloss das Bürgervorsteherkollegium keine städtischen Aufträge mehr an die jüdischen Geschäftsleute zu vergeben. Im September 1935 wurden in einem Beiblatt „Achtung Juden“ der Celleschen Zeitung, welche parteinah war und die Meinungsführerschaft innehatte, die Geschäfte der jüdischen Händler aufgeführt und vor diesen gewarnt. Durch diese Aktionen und die reichsweite Gesetzgebung gegen die jüdische Bevölkerung kam es dazu, dass viele der jüdischen Familien die Stadt und das Land verließen. Einige der Familien hofften jedoch auf bessere Zeiten und blieben in der Stadt. In Celle dominierte zunächst auch eher ein passiver Antisemitismus, da es kaum öffentliche Ausschreitungen gab.

Vor den Pogromen im November 1938 lebten noch etwa 30 bis 36 Juden in der Stadt Celle, und es gab noch vier jüdische Ladengeschäfte: das Textilgeschäft Hellmann, das Konfektionsgeschäft Wolff und die beiden Geschäfte der Familie Salomon, das Schuhhaus Salomon und das Modehaus Hasall. Zusätzlich hatte der Anwalt Dr. Julius von der Wall noch seine Wohn- und Geschäftsräume in der Stadt Celle.

Innenansicht der Synagoge um 1968. Stadtarchiv Celle

Flugblatt der NSDAP als Beiblatt der Celleschen Zeitung im September 1935. Stadtarchiv Celle

Am Abend des 9. November 1938 veranstaltete die NSDAP auf der Celler Stechbahn eine Feierstunde zum Gedenken an den Hitler-Ludendorff-Putsch vom 9. November 1923. An dieser Veranstaltung nahmen etwa 1.750 Menschen teil. Das Publikum bestand hauptsächlich aus Parteimitgliedern, Angehörigen der Wehrmacht und Celler Bürgern. Abschluss und Höhepunkt der Veranstaltung war vor dem Schloss gegen 0:00 Uhr die Vereidigung von SS-Bewerbern des Sturmbanns III/17. Während dieser Veranstaltung war das Attentat von Herschel Grynszpan kein Thema. Genauso wenig wird von einer aggressiven Stimmung in Bezug auf die Juden gesprochen.

Am 10. November 1938 traf ca. um zwei Uhr morgens der Befehl des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Heydrich, zum Angriff auf die jüdische Bevölkerung in der Geschäftsstelle der Celler SA-Standarte 77 ein. Der Führer der SA-Standarte, SA-Obersturmbannführer Martensen, alarmierte daraufhin alle verfügbaren Angehörigen der SA in Celle. Die SA wurde aufgefordert, sich um 03:00 Uhr in Zivil am Sammelplatz am Kleinen Plan/Feuerwehrhaus in der Nähe der Synagoge zu versammeln. Gleichzeitig beauftragte Obersturmbannführer Martensen telefonisch den Rechtsanwalt Kurt Blanke, mit seinem PKW zur Geschäftsstelle der SA zu kommen, um Fackeln und Benzin zum Sammelplatz zu bringen. Bereits gegen 02:30 Uhr wurde der Gerätewart der Feuerwehr durch Klopfen von einigen SA-Angehörigen, welche gleichzeitig Mitglieder der Feuerwehr waren, geweckt. Die Personen forderten die Herausgabe von Äxten und Beilen. Der Gerätewart wollte diese jedoch nicht ohne weiteres herausgeben und rief den Stadtwehrführer Gustav Krohne an, welcher gleichzeitig NSDAP-Ortsgruppenleiter der Celler Altstadt war. Dieser wies den Gerätewart an, die Tore zu öffnen, damit sich die Leute doch selbst bedienen könnten.

Aus diesen Fakten werden die Ziele der Aktion bereits deutlich, man wollte die Synagoge in Brand setzen und die jüdischen Geschäftshäuser verwüsten. Am Sammelplatz warteten bereits etwa 100 SA-Angehörige, um die Taten zu begehen. Es ist nicht klar, in wie weit auch noch andere NS-Organisationen an den Ausschreitungen beteiligt gewesen sind. Die SA war in Celle aber die treibende Kraft hinter den Pogromen. Ein Großteil der Personen machte sich daraufhin auf den Weg zur nahen Synagoge, um diese zu zerstören und in Brand zu setzen. Dabei wurden zwölf Thorarollen und weitere Kultgegenstände auf die Straße geworfen, welche am Morgen in das Gerichtsgefängnis gebracht wurden. Der Verbleib dieser Gegenstände ist, außer einer Thorarolle, die ins Museum gebracht wurde, unklar. Dann wurde in der Synagoge ein Brand gelegt. Dieser drohte außer Kontrolle zu geraten und wurde daraufhin von den Beteiligten wieder gelöscht. Laut dem Befehl Heydrichs sollten Synagogenbrände nur gelegt werden, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung, Nichtjuden oder deren Eigentum bestand. Dieses war in Celle aufgrund der engen Bebauung in diesem Bereich und einer nahe gelegenen Lederwarenfabrik nicht gegeben.

In Celle hielt sich lange die Legende, dass der Wehrführer Gustav Krohne durch sein energisches Auftreten das Niederbrennen der Synagoge verhindert habe. Dieses wurde auch schriftlich in der Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der Feuerwehr Celle 1964 festgehalten und auch so in die Festschrift zur Wiederherstellung der Synagoge 1974 übernommen. Aufgrund der Parteinähe Gustav Krohnes, der Weisung zur Herausgabe von Äxten und des unmissverständlichen Befehls Heydrichs, die Synagoge in diesem Fall nicht in Brand zu setzen, ist dieser Fall als eine Legende abzuhandeln.

Die Verwüstung der Lehrerwohnung in der jüdischen Schule verhinderte der nichtjüdische Hausmeister Walter Kaatz. Während sich ein Großteil der beteiligten Personen bei der Synagoge aufhielt, zogen verschiedene kleinere Trupps durch die Celler Innenstadt und zerstörten Schaufensterscheiben und Inventar der vier verbliebenen jüdischen Geschäfte. Dabei verteilten sie auch die Waren der Geschäfte auf der Straße und zündeten, wie im Fall des Konfektionshauses Wolff, diese auch an, was eine Löschung des Brandes durch die Feuerwehr nach sich zog. Bei den anderen Geschäften bot sich ein ähnliches Bild. So lagen beim Geschäft Hasall die angezogenen Schaufensterpuppen wie Leichen auf der Straße. Während der Nacht wurden auch die Wohn- und Geschäftsräume des Anwaltes Dr. Julius von der Wall demoliert. Erst gegen 4:30 Uhr endeten die Ausschreitungen mit der Beschädigung der Einrichtung der Friedhofskapelle des jüdischen Friedhofs. Berichten zufolge tauchten dort etwa 15 Mann in Zivil mit zwei Kraftwagen und einigen Motorrädern auf und zerstörten die komplette Einrichtung inklusive Glastüren und Kronleuchter. An den Gräbern wurde nichts demoliert, da der nichtjüdische Wächter des Friedhofs, August Schmidt, dieses verhinderte.

Am Morgen des 10. Novembers 1938 wurden fast alle männlichen Juden festgenommen und ins Polizeigefängnis gebracht, von wo aus sie über Hamburg ins KZ Sachsenhausen gebracht wurden. Verschont wurde der sehr alte pensionierte Oberpostsekretär Iwan Dawosky. Der Celler Bevölkerung bot sich am Morgen nach den Pogromen ein Bild der Zerstörung. Berichte dazu sind in den Tagebuchaufzeichnungen von Karl Dürkefälden zu finden. So waren bereits nachmittags alle Schaufenster mit Brettern von Stadtbediensteten vernagelt und das demolierte Inventar zurück in die Geschäfte gebracht worden. Am Morgen wurden die Geschäfte teilweise noch von Schutzmännern bewacht, um Plünderungen und Fotoaufnahmen zu verhindern. Von größeren Plünderungen ist nichts weiter bekannt, trotzdem geht aus den Berichten Karl Dürkefäldens hervor, dass der eine oder andere etwas von den auf der Straße befindlichen Waren mitgenommen hat. Die Cellesche Zeitung berichtete am nächsten Morgen kurz von „Judenfeindlichen Demonstrationen“, welche Ausdruck der spontanen Wut der Bevölkerung gegen die jüdische Bevölkerung gewesen seien. Genauso lobte sie die Disziplin der Celler Bevölkerung, welche keine Plünderungen vorgenommen hätte. In der Celler Bevölkerung zeigte sich jedoch auch kein größerer Protest oder Widerstand. Ebenso gab es keine große Welle der Identifikation der Bevölkerung mit den nächtlichen Ereignissen.

Artikel auf Seite 5 der Celleschen Zeitung vom 10. November 1938. Stadtarchiv Celle

Bauarbeiter aus der nahegelegenen Lederwarenfabrik im Herbst 1939 vor den im November 1938 zerstörten Fenstern der Synagoge. Stadtarchiv Celle

Die verhafteten jüdischen Männer wurden im Dezember des Jahres 1938 aus dem KZ Sachsenhausen mit der Auflage entlassen, ihre Geschäfte abzuwickeln und die Ausreise aus Deutschland voranzutreiben. Dabei musste der 60-jährige Oskar Salomon von Misshandlungen gezeichnet auf einer Trage zurück in sein Haus gebracht worden. Die meisten der noch Verbliebenen emigrierten im Anschluss ins Ausland. 1939 sollen sich noch 17 Personen jüdischen Glaubens in Celle aufgehalten haben. Sie mussten 1940 in das alte jüdische Schulhaus ziehen, das nun als „Judenhaus“ diente. Ab Ende des Jahres 1941 begannen von dort aus die Deportationen, welche meist das Ziel Riga hatten. Im Dezember 1942 befanden sich noch drei ältere Ehepaare in der Stadt Celle.

Oskar Salomon, geboren 1878 in Uelzen, lebte mit seiner Frau Nanny, geboren 1881 in Gleicherwiesen, Thüringen, und den gemeinsamen Kindern, Gerhard, geboren 1907 in Celle, und den Zwillingen Hans und Grete, geboren 1909 in Celle, in der Westcellertorstraße 1 in Celle.

Er übernahm 1907 das Geschäft seines verstorbenen Vaters am Großen Plan in Celle. Dieses Geschäft führte Oberbekleidung und Schuhe. Oskar Salomon spezialisierte sein Geschäft in den Folgejahren auf Schuhe und zog mit seinem Geschäft, dem „Schuhhaus Salomon“, erst 1914 in die Zöllnerstraße 35 und im April 1929 in die Poststraße 7 um.

Während des Ersten Weltkrieges diente Oskar Salomon vier Jahre lang an der Ostfront. Er erhielt das Eiserne Kreuz 1. Klasse und ein Verwundetenabzeichen als Ehrung. Seine Frau führte in seiner Abwesenheit das Geschäft. Im Juni 1933 wurde Oskar Salomon wegen regimekritischer Äußerungen für drei Tage inhaftiert.

Seine Sohn Gerhard, welcher im Geschäft seines Vaters tätig war, und seine Tochter Grete, die als Kindergärtnerin in Berlin lebte, wanderten in den Jahren 1936 (Grete) und 1937 (Gerhard) nach Südafrika aus.

Sein Sohn Hans eröffnete 1932 in der Poststraße 4 das Herrenartikelgeschäft Hasall. Beide Geschäfte waren von den Ausschreitungen am 10. November 1938 betroffen. Bei beiden Geschäften wurden die Schaufenster zerstört und die Waren auf der Straße verteilt. Die Privatwohnungen, welche nicht in unmittelbarer Nähe der Geschäfte lagen, waren nicht betroffen. Am Morgen des 10. November 1938 wurden sowohl Oskar als auch Hans, wie fast alle männlichen Juden Celles, verhaftet, ins Polizeigefängnis gebracht und schließlich in das KZ Sachsenhausen eingewiesen. Im Dezember desselben Jahres kehrten sie nach Celle zurück. Auch sie erhielten die Auflage, ihre Geschäfte zu verkaufen und das Land zu verlassen. Bei der Rückkehr musste Oskar Salomon mit einer Trage zurück in sein Haus gebracht werden, da sein Gesundheitszustand durch die Misshandlungen in der Gefangenschaft so schlecht war.

Sein Sohn Hans verließ daraufhin mit seiner Frau und seiner Tochter im Februar 1939 Deutschland und emigrierte 1940 in die USA.

Auch Oskar und seine Frau Nanny planten die Ausreise aus Deutschland, welche jedoch nicht zu Stande kam. 1939 musste er das alte Geschäftshaus in der Zöllnerstraße verkaufen, um die „Judenvermögensabgabe“ und die „Reichsfluchtsteuer“ zu entrichten sowie die Schäden, die während der Novemberpogrome entstanden waren, zu begleichen.

Nachdem die Ausreise gescheitert war, verloren sie ihre Wohnung und wurden mit den anderen noch verbliebenen Juden in das „Judenhaus“ eingewiesen. Oskar Salomon war ab 1939 Vorsitzender des Nachfolgers der Synagogengemeinde, der „Kultusvereinigung Synagogengemeinde Celle e. V.“. Das Ehepaar Salomon lebte bis zum 10. Juli 1942 im „Judenhaus“ und wurde an diesem Tag von dort deportiert. Beide wurden im Juli 1942 in Ausschwitz ermordet. Die Kinder erhielten als Erben eine Entschädigung in Höhe von 12.900 DM für die „Freiheitsbeschränkungen“.

Nanny und Oskar Salomon, um 1900. Stadtarchiv Celle

Der Rechtsanwalt und Notar Dr. Julius von der Wall, geboren am 22. September 1872 auf Norderney, lebte und arbeitete von 1903 bis 1938 als Rechtsanwalt am Oberlandesgericht in Celle.

Julius von der Wall studierte in Straßburg und Berlin und legte in Berlin 1897 seine erste Staatsprüfung ab. Nachdem er sein Referendariat zum Großteil in Hannover erledigt hatte, promovierte er 1901 und wurde 1902 Volljurist und 1903 zum Assessor ernannt. Nach kurzer Tätigkeit am Amtsgericht in Hannover wurde er im September 1903 als erster jüdischer Rechtsanwalt vom Königlichen Oberlandesgericht in Celle zugelassen. Er war zwischen Dezember 1916 und November 1918 Soldat im Ersten Weltkrieg. Nach seiner Rückkehr wurde er 1920 Notar. Gemeinsam mit Dr. Manfred Herzfeld, welchen er 1921 in seine Kanzlei aufnahm, betrieb er eine der größten Kanzleien im Bereich des Oberlandesgerichtes.

Er lebte mit seiner Frau Else, geb. Lang, geboren 1884 in Suhl, und seiner Tochter Eva, geboren am 13. April 1908, an verschiedenen Orten in Celle, bis er sich 1911 vom angesehenen Architekten Otto Haesler ein Haus in der Mühlenstraße 25 bauen ließ, in welchem sich auch die Kanzlei befand. Ab 1923 lebte auch seine Schwiegermutter mit im Haus. Diese zog 1933 zu ihrer Schwester nach Göttingen und wurde im September 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie im Dezember 1942 starb. Seine Tochter Eva machte in Celle Abitur und studierte Deutsch, Englisch und Französisch. 1932 promovierte sie in Hamburg zur Dr. phil. Sie wohnte mit ihrem Mann Dr. Walter Kaufmann in der Schackstraße 3 in Celle. Sie wanderten 1933 im August über Paris und London nach Amsterdam aus.

Julius von der Wall war sowohl in- als auch außerhalb der jüdischen Gemeinde ein angesehener Bürger. Ab 1906 war er Teil des Gemeindeausschusses und 1913 stieg er zum Ersten Vorsteher der jüdischen Gemeinde auf. Dieses Amt übte er 20 Jahre lang aus und gab es 1933 ab. 1912 hatte er die Absicht, auch für das Bürgervorsteherkollegium zu kandidieren. Der Bürgermeister ließ dieses aufgrund seines jüdischen Glaubens jedoch nicht zu.

Immer wieder wurden Julius von der Wall und seine Kanzlei Opfer antisemitischer Hetze. Seine Kanzlei wurde im April 1933 Opfer des Judenboykotts, als SA-Posten den Zutritt zu seinen Geschäftsräumen verhinderten. Gleichzeitig wurden die rechtlichen Grundlagen dafür geschaffen, dass jüdische Rechtsanwälte ihre Tätigkeit nicht mehr ausüben konnten. Ab 1933 durfte Julius von der Wall nicht mehr als Notar arbeiten. Das „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ vom 7. April 1933 sah zwar noch Ausnahmeregelungen vor, die auf Julius von der Wall auch zutrafen, trotzdem war sein Status über Jahre hinweg unklar. Van der Wall wurde in dieser Zeit auch mehrfach Opfer von Denunziationen. So warf man ihm zum Beispiel Zusammenhänge mit der „Revolution von 1918“ oder „kommunistische Tätigkeiten“ vor. Auch wenn seine Berufsrechte mit einer Durchführungsverordnung zum Anwaltsgesetzt ab 1. Oktober 1935 erst einmal gesichert waren, konnte er aufgrund der Vielzahl der Diskriminierungen nicht mehr ordnungsgemäß arbeiten.

Währenddessen zog die Familie van der Wall in das Haus von Manfred Herzfeld in die Schwicheldtstraße 19A um, wo ab April 1934 auch die Kanzlei angesiedelt war. Herzfeld verließ Deutschland 1935 in Richtung Palästina. Ab September 1938 war es jüdischen Anwälten grundsätzlich nicht mehr erlaubt, ihren Beruf auszuüben. Bevor dieses in Kraft trat, verließen Julius und Else van der Wall Celle und Deutschland und flüchteten zu ihrer Tochter Eva nach Amsterdam. Zwei Monate später wurden während der Novemberpogrome am 10. November 1938 die Wohn- und Geschäftsräume in der Schwicheldtstraße von SA-Angehörigen vollständig verwüstet und demoliert.

Der spätere Verlauf nach der Besetzung der Niederlande 1940 ist für die Familie nur ansatzweise nachzuzeichnen. Dr. Julius von der Wall kam mit seiner Frau und seiner Tochter Eva 1943 in Ausschwitz ums Leben, während sein Schwiegersohn Walter in Bergen-Belsen starb. Eine Enkeltochter, welche Eva in Amsterdam zur Welt gebracht hatte, überlebte versteckt bei Niederländern.

Julius von der Wall, 1920. Stadtarchiv Celle

Wie an vielen Orten im Nachkriegsdeutschland war die Strafverfolgung der Täter rund um den 9./10. November 1938 nicht sehr stark ausgeprägt. Obwohl es an Tätern auch in Celle nicht mangelte, gab es keine entsprechenden Verurteilungen. Die Ermittlungen gegen etwa 60 an den Taten Beteiligte verliefen zäh, und es war kaum möglich, den Beschuldigten direkte Taten nachzuweisen. Das Verfahren wurde bereits im Februar 1949 ohne Anklageerhebungen eingestellt.

Der Celler Arzt und Theaterautor Carl Credé-Hoerder wandte sich schon im November 1945 an den Oberbürgermeister der Stadt Celle, Walther Hörstmann, welcher von den Briten eingesetzt worden war, und bat darum, dass die Stadt sich für eine Verfolgung der Täter einsetze. Man verwies dann aber darauf, dass sich die Lüneburger Oberstaatsanwaltschaft um diese Taten kümmere. Die Oberstaatsanwaltschaft stellte dabei die Verantwortung der örtlichen SA für die Ausschreitungen fest und bestätigte auch SA-Obersturmbannführer Martensen als Führer dieser Aktionen, welcher zum Ermittlungszeitpunkt jedoch schon nicht mehr am Leben war. Im Verfahren zeigte sich deutlich, dass die Beschuldigten sich gegenseitig schützten und Täter belasteten, welche bereits tot waren. Konkrete Ermittlungen in besonderem Maße gab es gegen den Rechtsanwalt Kurt Blanke, welcher den Wagen mit Benzin und Fackeln zum Sammelplatz fuhr, gegen den Rechtsanwalt Georg Klapproth und gegen den Leiter der Schutzpolizei Hermann Oetzmann, welcher das Einschreiten der Polizei verhinderte. Bei den beiden Rechtsanwälten ergab sich die Zugehörigkeit zu den Taten aus dem Fakt, dass diese nach der Pogromnacht in Celle den Austritt aus der SA beantragt hatten. Klapproth kam dabei zugute, dass er seinen SA-Sturm nicht aktivierte. Bei Blanke lagen jedoch eigentlich genug Hinweise für eine Anklage vor. Trotzdem kam es nicht zu einer Anklage. Blanke war später in der Zeit von 1964 bis 1973 Oberbürgermeister der Stadt Celle. Eine 1999 posthum nach ihm benannte Straße wurde im Jahre 2008 wieder umbenannt. Dieses geschah jedoch nicht aufgrund der Beteiligung an der Pogromnacht, sondern aufgrund weiterer Forschungsergebnisse, dass Kurt Blanke im Zweiten Weltkrieg als Leiter des Referats „Entjudung“ unter dem Militärbefehlshaber in Frankreich für die „Arisierung“ der besetzten Zone verantwortlich war.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in den Jahren 1945 bis ca. 1949 war die jüdische Gemeinde in Celle mit ca. 500 Personen eine der größten jüdischen Gemeinden in Niedersachsen. Dieses lag vor allem daran, dass viele der etwa 12.000 Displaced Persons (DP) aus den umliegenden Celler Lagern, denen keine kurzfristige und schnelle Emigration möglich war, sich in der Stadt eine Bleibe suchten. Die hohe Zahl der DPs ergab sich aus der Nähe des früheren KZ Bergen-Belsen. Die neu entstandene jüdische Gemeinde nutzte die erhalten gebliebenen Gebäude samt Synagoge, welche der Gemeinde von der Stadtverwaltung überlassen wurden. Besonderen Anteil an dem Aufschwung dieser Gemeinde hatte ihr Leiter, der Rabbiner Israel Moshe Olewski. Mit dessen Auswanderung in die USA 1950 begann dann das Ende der neuen jüdischen Gemeinde.

1962 waren nicht mehr genug Mitglieder für eine Weiterführung der Gemeinde vorhanden, sodass die Gemeinde aufgelöst wurde und die verbleibenden 15 Juden aus Celle in Hannover am religiösen Leben teilnahmen. Daraufhin übernahm die Stadt Celle die sanierungsbedürftigen Gebäude samt Synagoge und renovierte diese. 1974 wurde die Synagoge neu geweiht. Trotzdem gab es in Celle zu diesem Zeitpunkt keine jüdische Gemeinde. Nachdem die Gebäude im Jahre 1996/97 erneut renoviert worden waren, wurde das Haus im Kreise 23 als Museum eingerichtet. Dort finden sich verschiedene Ausstellungen zur jüdischen Geschichte in Celle. Seit 1997 gibt es in Celle wieder eine kleine jüdische Gemeinde. Diese nutzt auch wieder die Synagoge. Die Synagoge von 1740 gilt als älteste erhalten gebliebene Synagoge Niedersachsens.

In der Stadt Celle wird der jüdischen Bevölkerung und den Ereignissen im November 1938 auf verschiedene Weise gedacht. Wie in vielen Städten und Gemeinden gibt es auch in Celle die Stolpersteine. Diese wurden seit 2004 auf dem Stadtgebiet in Celle verlegt. Wie schon beschrieben dient das Nachbarhaus der Synagoge, das Gebäude „Im Kreise 23“, seit 1997 als Museum für die jüdische Geschichte in Celle. Im Vorraum der Synagoge befinden sich Gedenktafeln für die in den Vernichtungslagern umgekommenen jüdischen Mitbürger und für die während der Novemberpogrome Geschädigten von 1938.

Im Gebetsraum der Synagoge sind von Angehörigen noch Gedenktafeln für ihre ermordeten Familienangehörigen angebracht. Zusätzlich dazu gibt es seit einigen Jahren regelmäßig durchgeführte Stadtrundgänge zur Geschichte Celles während der NS-Zeit. Nach den jüdischen Mitbürgern Dr. Julius von der Wall und Robert Meyer wurde jeweils eine Straße benannt. Ebenso gibt es in Celle die Richard-Katzenstein-Straße für den ehemaligen jüdischen Senatspräsidenten des Oberlandesgerichtes Celle Richard Katzenstein (Senatspräsident von 1929-1933), welcher Celle schon 1933 verlassen musste und 1936 von Berlin aus nach Palästina auswanderte.

Stolpersteine für Julius von der Wall und seine Frau Else sowie deren Mutter Paula Lang, 2018. Foto: Johannes Geisel

Mijndert Bertram: Celle – Eine deutsche Stadt vom Kaiserreich zur Bundesrepublik. Das Zeitalter der Weltkriege, Band 1, Celle 1992.

Elmar Maibaum: Die Reichspogromnacht in Celle, Celle 1998.

Herbert Obenaus (Hg.): Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Göttingen 2005.

Herbert und Sibylle Obenaus: „Schreiben, wie es wirklich war!“. Aufzeichnungen Karl Dürkefäldens aus den Jahren 1933-1945, Hannover 1985.

Sibylle Obenaus: Der Pogrom von 1938 in Celle, seine justizielle Aufarbeitung und das Ende von Legenden. In: Museumsverein Celle e. V. (Hg.), Celler Chronik 16, Beiträge zur Geschichte und Geographie der Stadt und des Landkreises Celle, Celle 2009, S. 105-141.

Reinhard Rohde und Tim Wegener: Celle im Nationalsozialismus. Ein zeitgeschichtlicher Stadtführer. Kleine Schriften zur Celler Stadtgeschichte, Band 13, Bielefeld 2012.

Stadt Celle (Hg.): Zur Geschichte der Juden in Celle. Festschrift zur Wiederherstellung der Synagoge, Celle 1974.

Sebastian Stiekel: Arisierung und Wiedergutmachung in Celle. (Hannoversche Schriften zur Regional- und Lokalgeschichte, Band 22; Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Band 37), Bielefeld 2008.

Brigitte Streich (Hg.): Juden in Celle. Biographische Skizzen aus drei Jahrhunderten, Celle 1996.

Tim Wegener: …wo die Juden Häuser bekanntlich sind. Rundgang zur jüdischen Geschichte Celles, Celle 2016.

Stadtarchiv Celle

Celle im Nationalsozialismus – Ein historischer Stadtrundgang

Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum: Celle (Niedersachsen)