November­pogrome
Listenansicht aller Städte
1938 in Niedersachsen

Hameln

Hameln entstand im 12. Jahrhundert am Kreuzpunkt vieler Handelswege. Diese Tatsache verlieh der Stadt einen überregionalen Rang. Das Stadtrechtsprivileg führte von der vorausgegangenen Marktsiedlung 1277 zu einer Stadtgründung, in der Juden von Beginn an mitwirkten. Sie waren wohl von allen Abgaben an den Herzog befreit, mussten jedoch sonst allen Diensten und Pflichten eines/er Hamelner Stadtbürgers/Stadtbürgerin nachkommen. Es bestand also eine weitgehende Gleichberechtigung zwischen christlichen und jüdischen Bürgerinnen und Bürgern.

Die Quellenlage zu der Anzahl der jüdischen Bürgerinnen und Bürger ist zu der Zeit sehr wage. Für die erste Hälfte des 14. Jahrhundert gibt es jedoch Hinweise auf sieben jüdische Familien. Hameln hatte zur damaligen Zeit nur etwa 2000 Einwohnerinnen und Einwohner. Jüdinnen und Juden waren nicht gezwungen, in einem „Judenviertel“ zu leben und auch sonst sind keine einschränkenden Bestimmungen bekannt. Das änderte sich mit der Pest, die Hameln im Jahre 1350 erreichte. Juden, denen man hier wir auch andernorts die Schuld für die Ausbreitung der Pest gab, wurde das dauerhafte Wohnrecht entzogen.

Erst im 18. und 19. Jahrhundert wuchs die jüdische Gemeinde in Hameln wieder, sie musste aber ihre Gottesdienste über 100 Jahre lang in einem kleinen gemieteten Raum im Hinterzimmer einer Bäckerei abhalten. Bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Gemeinde groß und wohlhabend genug, um sich um den Bau einer neuen Synagoge zu bemühen. Die Weihe der neuen Synagoge in der Bürenstraße fand am 2. Juli 1879 ohne die Anwesenheit der evangelischen Geistlichkeit statt. Auch dem 50. Jubiläum 1929 blieb diese fern.

1933 zählte Hameln gut 20.000 Einwohnerinnen und Einwohner, davon gehörten 160 der jüdischen Gemeinde an, die überwiegend im Handel tätig waren. Auch in Hameln fand der Antisemitismus der Nationalsozialisten immer mehr Zuspruch. Die ersten antisemitischen Übergriffe nach der Machtübernahme ereigneten sich bereits Anfang März 1933: Ein Brandanschlag auf die Synagoge richtete jedoch kaum Schaden an, weil das Feuer von der Feuerwehr gelöscht wurde.

Wie überall im Deutschen Reich wurden auch in Hameln am 1. April 1933 die Geschäfte jüdischer Eigentümer boykottiert. Dabei wurden einige Geschäfte beschädigt und die Scheiben wurden mit antisemitischen Plakaten („Kauft nicht bei Juden!“; „Die Juden sind unser Unglück.“ etc.) beklebt. Der Boykott wurde in der „Dewezet“ (Deister- und Weserzeitung – Hamelns lokale Zeitung) angekündigt, die vorab 29 Namen von jüdischen Geschäften, Ärzten und Rechtsanwälten veröffentlichte.

Zeitung

Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte in der Hamelner Deister- und Weserzeitung vom 1. April 1933. Archiv der Deister- und Weserzeitung/1. April 1933

Wie in anderen deutschen Städten gab es auch in Hameln „Stürmerkästen“, in denen die aktuelle Ausgabe des antisemitischen NS-Hetzblatts „Der Stürmer“ aushing. Zudem wurden Bürgerinnen und Bürger, die in Geschäften jüdischer Eigentümer einkauften, von NS-Anhängern fotografiert und namentlich in den „Stürmerkästen“ veröffentlicht. Beide „Stürmerkästen“ befanden sich in der Bürenstraße nahe der Synagoge.

Die zunehmende Ausgrenzung und Feindseligkeit gegenüber der jüdischen Bevölkerung machten sich bis 1938 auch in Hameln immer stärker bemerkbar. Am 27. Oktober 1938 erreichte den Oberbürgermeister der Stadt Hameln, Detlef Schmidt, ein Rundschreiben des Gestapochefs Heydrich, wonach Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit das Aufenthaltsrecht im Reichsgebiet entzogen worden war. In Hameln betraf dies die Familie Kamenetzky. Sie wurde in „Abschiebehaft“ genommen und am selben Tag in das Polizeigefängnis nach Hannover gebracht.

Nazis

Stürmerkästen vor der Synagoge in der Bürenstraße. Die Personen auf dem Bild sind nicht bekannt. Foto entstand vermutlich 1933. Stadtarchiv Hameln

 

Synagoge

Die Synagoge in der Bürenstraße, um 1879. Stadtarchiv Hameln

Über den Ablauf der Pogromnacht in Hameln vom 9. auf den 10. November 1938 ist nicht viel bekannt. Zudem sprachen zeitgenössische Berichte die Sprache der Täter und Täterinnen. Im Zuge der Feierlichkeiten zum 15. Jahrestag des Hitlerputsches von 1923 kamen NSDAP-Mitglieder auch in Hameln zusammen. Dabei wurde viel Alkohol getrunken. Anschließend verliefen die Ereignisse ähnlich wie in vielen anderen deutschen Städten. Auf zentrale Anweisung hin sammelten sich SA- und SS-Angehörige sowie Gestapo-Beamte vor der Synagoge, plünderten sie und steckten sie anschließend in Brand. Die lokale Feuerwehr half dabei und sorgte dafür, dass umliegende Häuser nicht beschädigt wurden. Einer der für den Brand in der Synagoge verantwortlichen Täter war der Zuchthaus-Beamte Hermann Bruhns. Er prahlte in den Tagen danach vor den Gefangenen im Zuchthaus mit seiner Tat.

Nicht nur die Synagoge wurde in der Nacht auf den 10. November 1938 Ziel der Zerstörungswut. Auch der Friedhof in der Scharnhorststraße wurde geschändet. Die noch bestehenden jüdischen Geschäfte wurden geplündert und ihre Schaufenster zerschlagen. Insgesamt wurden zehn jüdische Männer in dieser Nacht in „Schutzhaft“ genommen und am nächsten Tag von Hameln nach Hannover gebracht. Von Hannover wurden sie am 11. November in das KZ Buchenwald verschleppt.

Die Gestapo führte diese zehn Männer in einer Liste auf:

  • Dr. med. Siegmund Kratzenstein, 62 Jahre
  • Karl Bernstein, Kaufmann, 58 Jahre
  • Albert Jonas, Kaufmann, 67 Jahre
  • Hermann Hammerschlag, Kaufmann, 41 Jahre
  • Max Birnbaum, Schlosser, 45 Jahre
  • Arthur Jonas, Kaufmann, 33 Jahre
  • Kurt Adler, Kaufmann, 37 Jahre
  • Walter Katz, Kaufmann, 34 Jahre
  • Erich Adler, Vertreter, 38 Jahre
  • Gustav Behrend, Kaufmann, 58 Jahre.

Drei der Verhafteten, Arthur Jonas, Kurt Adler und Erich Adler, gelang nach der Freilassung aus Buchenwald die Emigration aus Deutschland.

Dr. Siegmund Kratzenstein starb wenige Tage nach der Entlassung aus Buchenwald. Karl Bernstein verbrachte mehrere Monate in Buchenwald und zog nach der Entlassung nach Köln, daraufhin nach Berlin und von dort aus wurde er ins Ghetto Riga deportiert und starb dort am 18. August 1942. Albert Jonas wurde mit seinem Sohn Arthur Jonas nach Buchenwald deportiert und musste nach seiner Entlassung im „Judenhaus“ in der Markstraße in Hameln wohnen. Albert Jonas wurde später über Hannover-Ahlem nach Theresienstadt deportiert. Er verstarb wenige Tage nach der Ankunft in Theresienstadt. Hermann Hammerschlag wohnte ebenfalls nach der Entlassung aus dem KZ Buchenwald im „Judenhaus“ in Hameln. Am 31. März 1942 wurde Hermann Hammerschlag mit seiner Familie über Hannover-Ahlem in das Ghetto Warschau deportiert und gilt seither als verschollen. Max Birnbaum wohnte nach der Entlassung in Hameln in einem „Judenhaus“ und musste in Hameln Zwangsarbeit leisten. Er wurde ebenfalls in das Ghetto Warschau deportiert. Walter Katz wurde am 7. Januar 1939 in Buchenwald ermordet. Gustav Behrend wurde nach seiner Entlassung und der Rückkehr aus Buchenwald über Hannover-Ahlem in das Warschauer Ghetto deportiert.

Pogrom

Die zerstörte Synagoge in der Bürenstraße kurz nach der Pogromnacht 1938. Stadtarchiv Hameln

Am 30. Dezember forderte der Oberbürgermeister Hamelns Detlef Schmidt die jüdische Gemeinde schriftlich auf, die Schäden der Pogromnacht zu beseitigen. Insbesondere galt das für den Friedhof, der im Gegensatz zu den Friedhöfen in den umliegenden Städten weiter genutzt werden sollte. Auch nach der Pogromnacht wurden auf dem zerstörten jüdischen Friedhof in der Scharnhorststraße Jüdinnen und Juden bestattet, doch meist heimlich in der Nacht.

Nach der Auflösung der jüdischen Gemeinde in Hameln 1939 sollte der Friedhof veräußert werden. Beauftragt wurde die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“, um einen Käufer für das Grundstück zu finden. Bis 1942 konnte der Verkauf des Grundstücks noch verhindert werden, doch nachdem alle jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus Hameln deportiert worden waren, stieg der Druck, das Friedhofsgelände verkaufen zu müssen. Die Stadt Hameln, vertreten durch den Vermessungsrat Gerhard Reiche, stieg in die Verhandlungen ein. Sie bot 0,10 Reichsmark je Quadratmeter, was bei einer Grundstücksgröße von 1248 m² einen Verkaufspreis von 124,80 RM ergab. Dieses Angebot lag deutlich unter dem Wert des Grundstücks. Parallel zeigte der Steinmetzmeister Fritz Dammann Interesse, das Grundstück zu pachten. Dieser setzte sich in den Verhandlungen durch, da er einwilligte, die festgelegten Ruhefristen der Gräber einzuhalten, welche im allgemeinen Friedhofsrecht wegen der Seuchengefahr verankert waren. Fritz Dammann pachtete am 20. Dezember 1943 das Grundstück für jährlich 150 RM und kaufte die Grabsteine für 1.215 RM zur weiteren Verwertung.

Nach der am 12. November 1938 verabschiedeten „Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes“ mussten die Jüdinnen und Juden die an ihren Wohnungen und Geschäften entstanden Schäden selbst beseitigen. Zudem wurde veranlasst, dass die Versicherungsansprüche der Geschädigten zu Gunsten des Reiches beschlagnahmt wurden. Dies entzog den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern die Mittel, ihre Geschäfte zu erneuern und wiederzueröffnen. Somit hatten sie keine Chance, sich wieder ein finanzielles Standbein aufzubauen.

Ein weiterer Schlag war der Beschluss der Stadt, die abgebrannte Synagoge nicht wiederaufzubauen. Stattdessen veranlasste sie den Abriss der Überreste. Auch für diese Kosten musste die jüdische Gemeinde aufkommen. Zudem wurde sie gezwungen, das Synagogengrundstück an die Stadt zu verkaufen. Nach vielen Verhandlungen, immer zu Gunsten der Stadt, wurde das Grundstück am 3. Februar 1939 weit unter Wert für 9800 RM an die Stadt verkauft. Nachträglich wurde dieser Preis seitens der Stadt noch einmal fast halbiert. Hinzu kam, dass dieses Geld nur zur Auswanderung genutzt werden durfte.

In Hameln war der Stadtrat Dr. Hans Krüger für die „Bearbeitung der Angelegenheiten der Juden“ zuständig. Der Vermessungsrat Gerhard Reiche war für den Umzug der Jüdinnen und Juden in sogenannte Judenhäuser zuständig. Grundlage für die Zwangsumsiedlung von Jüdinnen und Juden in „Judenhäuser“ war das „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30. April 1939.

Rieka Katz war Eigentümerin eines Hauses am Pferdemarkt 8. Vermessungsrat Reiche besichtigte im Oktober 1939 ihr Haus und beurteilte das Gebäude als geeignet für die Unterbringung der restlichen jüdischen Bürgerinnen und Bürger. Des Weiteren besichtigte Gerhard Reiche das Haus von Selma Frankenstein in der Neue Marktstraße 13 und stufte das Gebäude ebenfalls als geeignet ein.

Die beiden Eigentümerinnen wurden nun von Herrn Reiche aufgefordert, mit den Jüdinnen und Juden Mietverträge abzuschließen. Die ersten Zwangsumsetzungen fanden bereits im Oktober 1939 statt und im Sommer 1940 waren sie abgeschlossen. Im „Judenhaus“ Neue Marktstraße 13 wohnten Anfang 1941 17 Jüdinnen und Juden, am Pferdemarkt 8 fünf Jüdinnen.

Die Unterbringung in den beiden „Judenhäusern“ war nur eine Zwischenstation. Bald schon folgten die Deportationen in die Ghettos in Osteuropa. Die Mehrheit der Jüdinnen und Juden aus Hannover und dem Umland wurden zwischen Dezember 1941 und Juli 1942 deportiert. Mit einem ersten Transport wurden am 15. Dezember 1941 1001 Jüdinnen und Juden ins Rigaer Ghetto transportiert; darunter auch Jüdinnen und Juden aus Hameln.

Am 31. März 1942 startete ein Transport mit 500 „arbeitsfähigen“ Jüdinnen und Juden unter 65 Jahren aus dem Regierungsbezirk Hannover und Hildesheim in das Warschauer Ghetto. Auch in diesem Transport befanden sich Hamelner. Der Bürgermeister von Hameln Busching informierte die betroffenen Jüdinnen und Juden am 26. März jeweils per Schreiben. Sie sollten sich am Freitag, dem 27. März 1942 um 13 Uhr samt Gepäck und Wertgegenständen auf dem Pferdemarkt einfinden. Daraufhin wurden sie nach Hannover-Ahlem transportiert und von dort aus über den Bahnhof Linden/Fischerhof ins Warschauer Ghetto deportiert.

Die Jüdinnen und Juden in Hameln, welche über 65 Jahre alt waren und als „nicht arbeitsfähig“ eingestuft wurden, wurden am 23. Juli 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert.

Platz

Der Pferdemarkt in der Hamelner Innenstadt, 2018. Auf diesem Platz wurden die Jüdinnen und Juden vor der Deportation gesammelt. Foto: Tobias Mielich

Gebäude

Haus am Pferdemarkt 8 in Hameln, welches als „Judenhaus“ genutzt wurde, 2018. Heute ist ein Café in dem Gebäude untergebracht. Foto: Tobias Mielich

Ruth Grossmann, geborene Binheim, wurde im September 1924 geboren und lebt seit 1938 in Palästina, dem heutigen Israel.

Sie war acht Jahre alt, als Hitler die Macht übernahm. Während des Boykotts am 1. April 1933 belagerten SA-Leute die Kanzlei ihres Vaters und ließen niemanden hinein. Daraufhin wurde ihm sein Notariat und schließlich die Anwalts-Lizenz entzogen. Dies hatte gesellschaftliche wie finanzielle Folgen für die Familie. Zudem verließen zu der Zeit viele Juden und Jüdinnen Hameln, darunter auch viele Bekannte und Freunde der Familie. Viele wanderten aus oder zogen weg, um Schutz in der Anonymität der Großstadt zu finden.

Ruth wechselte 1934 von der Hermann-Schule auf die Victoria-Luise-Schule. Die Schüler zogen sich immer mehr von ihr zurück, bis man ihr nicht mal mehr einen „Guten Tag“ wünschte. Sie beschreibt ihre damalige Situation als völlige Isolation. 1937 verließ die letzte jüdische Schülerin die Schule und Ruth blieb alleine zurück. Ruth war öffentlichen Anfeindungen in der Schule ausgesetzt und wurde von Mitschülerinnen und Mitschülern gehänselt, angepöbelt und angespuckt. Auch die Lehrerinnen und Lehrer boten weder Hilfe noch Schutz. Familie Binheim wanderte kurz vor den Novemberpogromen nach Palästina aus.

Mutter und Tochter

Ruth Binheim mit ihrer Mutter, um 1938. Sammlung Bernhard Gelderblom

Der Arzt Dr. Siegmund Kratzenstein und seine Familie waren in der Hamelner Stadtgesellschaft sehr angesehen.

Siegmund Kratzenstein wurde 1876 in Nordhessen geboren. Er studierte Medizin und seine erste Arbeitsstelle begann er 1901 im „israelitischen Asyl für Kranke und Altersschwache“ in Köln. Dort lernte er seine zukünftige Frau kennen, die Niederländerin Sara Sabina Elze. Im Jahr 1903 zogen Siegmund und Sara Sabina nach Hameln. 1909 bauten sie das Haus am Kastanienwall 3, in dem auch die Praxisräume eingerichtet waren. Im Ersten Weltkrieg diente Siegmund Kratzenstein als Stabsarzt; er betreute das Reservelazarett in Hameln und war Arzt in einem Kriegsgefangenenlager. Er erhielt für seinen Einsatz das Kriegsverdienstkreuz. Nach dem Militärdienst war er Schularzt in der Region.

Aufgrund seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg wurde Dr. Kratzenstein die Kassenzulassung 1933 nicht entzogen, doch war seine Praxis von den Boykottaktionen stark betroffen; das Einkommen ging stark zurück. Am 19. März 1936 stellte Siegmund einen Antrag auf Ausstellung eines Auslandsreisepasses, weil er und seine Frau auswandern wollten. Zudem wollten Siegmund und die schwer erkrankte Sara Sabina ihren Sohn besuchen können, welcher in die Niederlande ausgewandert war. Doch die Zollfahndungsstelle hatte einen Verdacht auf „Reichsflucht“ und forderte das Finanzamt Hameln auf, eine Sicherheitsleistung von Dr. Kratzenstein zu verlangen. Die geforderte Summe konnte er nicht aufbringen und somit wurde der Auslandsreisepass nicht ausgestellt und die Auswanderung war nicht mehr möglich. Im Jahr 1938 wurde ihm die Kassenzulassung entzogen; er durfte sich nur noch „Krankenbehandler“ nennen.

Während des Novemberpogroms wurden auch Siegmund Kratzenstein und seine Familie Opfer der marodierenden Meute. SA-Angehörige brachen in die Praxis ein, schlugen Fensterscheiben ein und warfen Möbel auf die Straße. Die Praxisräume wurden ausgeraubt; Kinder sollen das Haus mit Steinen beworfen haben. SA-Angehörige führten Dr. Siegmund Kratzenstein vor die brennende Synagoge. Zusammen mit neun anderen Juden wurde er in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt.

Am 25. November wurde Dr. Siegmund Kratzenstein, von Misshandlungen durch die SS schwer gezeichnet, aus dem KZ Buchenwald entlassen. Drei Tage später starb er in Hameln an den Folgen. Dr. Siegmund Kratzenstein wurde auf dem zerstörten jüdischen Friedhof in der Scharnhorststraße heimlich in der Nacht beerdigt.

Sara Sabina Kratzenstein nahm ihre niederländische Staatsbürgerschaft wieder an und zog im Februar 1939 nach Den Haag. Dort verstarb sie am 23. Juni 1941 an Magenkrebs.

Der Sohn Ernst war Facharzt für Innere Medizin in Köln. Er und seine Familie wanderten 1939 nach British Nord-Borneo aus. Als die Japaner British Nord-Borneo 1942 besetzten, wurden Ernst und seine Familie in einem Lager interniert. Nach der Befreiung arbeitete Ernst als Arzt beim britischen Militär. 1952 zog er mit seiner Familie nach Sydney, Australien.

Die Tochter Margot wanderte in die USA aus und entging somit der Massenvernichtung.

Der zweite Sohn, Leon Elias, ging 1934 in die Niederlande. 1943 wurden er und seine Ehefrau in das KZ Sobibor deportiert und ermordet.

Das Haus der Kratzensteins verkaufte Sara Sabina im August 1939 an die Heeresstandortverwaltung für 35.000 RM. Doch das Finanzamt von Hameln behielt 27.000 RM ein, für die Begleichung der sogenannten Reichsfluchtsteuer. Sara Sabina erhielt 7891,96 RM auf ein Konto bei einer Hamelner Bank überwiesen. Im Jahr 1950 soll die Summe noch auf dem Konto gewesen sein, was mit dem Geld passiert ist, ist noch nicht geklärt. Das Haus im Kastanienwall 3 ging 1946/1947 an das Finanzamt, welches sie vermieteten. Seit 1956 ist es in Privatbesitz.

Mann

Dr. Siegmund Kratzenstein, um 1930. Sammlung Bernhard Gelderblom

Die Täterinnen und Täter der Pogromnacht in Hameln wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Der damalige Oberbürgermeister Busching, welcher in die Deportation der Jüdinnen und Juden aus Hameln verwickelt war, wies jede Tatbeteiligung von sich. Er wurde am 17. August 1948 vom Spruchgericht in Hiddessen freigesprochen.

Neben Bürgermeister Busching stachen zwei Beamte der Stadt Hameln bezüglich diverser NS-Verbrechen hervor. Stadtrat Dr. Hans Krüger war Vertreter des Oberbürgermeisters und Kreisbeauftragter des rassenpolitischen Amtes der NSDAP und Rechtsberater der örtlichen SA. Er war besonders engagiert bei den Verkaufsverhandlungen der Synagoge und bei der lokalen Umsetzung der „Polenaktion“. Der zweite Beamte war Vermessungsrat Gerhard Reiche. Er war seit 1933 Mitglied in der Hamelner SA und Mitglied der NSDAP. Reiche war zuständig für die Zwangsumsetzungen der Hamelner Jüdinnen und Juden in „Judenhäuser“ und er verwertete das Vermögen der deportierten Jüdinnen und Juden. Bei den Verhandlungen um den Verkauf des Grundstücks des jüdischen Friedhofs in der Scharnhorststraße war er ebenfalls federführend.

In seinem Entnazifizierungsverfahren wurde Dr. Hans Krüger in die Kategorie IV (Unterstützer) eingestuft und ging somit straflos aus. Nach dem Prozess verlangte Krüger eine Wiederbeschäftigung als Stadtrechtsrat in Hameln. Der damalige Oberbürgermeister Heinrich Löffler von der SPD wehrte sich gegen die Wiedereinstellung, doch Krüger wurde im November 1950 wieder in seiner alten Position als Stadtrechtsrat eingesetzt.

Gerhard Reiche wurde während des Entnazifizierungsverfahrens in die Kategorie III (Nazi, minderbelastet) eingestuft. Doch Reiche ging in Berufung und wurde im September 1948 in die Kategorie IV herabgesetzt. Daraufhin setzte auch Reiche seine Wiedereinstellung durch und arbeitete bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1953 wieder für die Stadt Hameln.

Auch Entschädigungsleistungen für die Eigentumsverluste wurden nicht getätigt. Dr. Ernst Hammerschlag stellte bereits 1947 nach seiner Rückkehr nach Deutschland einen Antrag auf Rückerstattung der Sachschäden, die seiner Familie während der Pogrome entstanden waren. Er und seine Frau waren die einzigen Überlebenden aus der Familie. Da Dr. Hamerschlag den Tod seiner Angehörigen sowie deren Vermögenswerte und Einkommen einzeln nachweisen musste, zog sich das Verfahren bis 1965 hin. Hammerschlag schätzte den Schaden, der in der Pogromnacht entstanden war, auf 30.000 RM. Mit den Ermittlungen zu diesem Verfahren wurde ausgerechnet Stadtrat Dr. Hans Krüger betraut, der seit 1936 maßgeblich für die Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Hameln verantwortlich gewesen war. Während der Ermittlungen bezog er sich auf Aussagen von vier von ihm geladenen Zeugen, die damals im Hause Hammerschlag gewohnt haben sollen. Auf Grund der Zeugenaussagen, die alle eine Plünderung und Deportationen verneinten, wurde der Antrag vom Gericht abgelehnt. Eine angenommene Versteigerung der Ladeneinrichtung und des Inhaltes zu Schleuderpreisen brachte Hammerschlag am Ende nur eine Entschädigung von 450,85 DM ein.

Ähnlich schwierig gestaltete sich die Entschädigung für das Synagogengrundstück. Gegen eine Zahlung von 14.340 DM an die Jewish Trust Corporation (JTC) ging das Grundstück in den 1950er Jahren an die Stadt Hameln, die darauf einen Kindesspielplatz errichtete. Das angrenzende ehemalige Lehrerhaus verkaufte sie an einen Privatmann.

Ende der 1990er Jahre gründete sich wieder neues jüdischen Leben in Hameln. Es entstanden die liberale Jüdische Gemeinde und die Jüdische Kultusgemeinde Hameln. Im November 2001 wurde der Bau einer neuen Synagoge in der Bürenstraße beschlossen, die am 20. Februar 2011 eingeweiht wurde. Die Kosten trugen die Stadt Hameln zusammen mit dem Landkreis Hameln-Pyrmont, das Land Niedersachsen und die Jüdische Gemeinde Hameln zu je einem Drittel.

Das Grundstück des jüdischen Friedhofes wurde nach Kriegsende weiter vom Finanzamt Hameln verwaltet, doch der Pachtvertrag mit dem Steinmetzmeister Fritz Damman wurde im Oktober 1945 für ungültig erklärt. Auf Druck der jüdischen Gemeinde Hannover und nach einer Anordnung der britischen Besatzungsmacht wurde die Stadt Hameln aufgefordert, den jüdischen Friedhof wieder instand zu setzen. 1946 waren die Belegungspläne des Friedhofs nicht mehr auffindbar, somit war die Instandsetzung des Friedhofs schwierig und unvollständig. Viele zerbrochene Grabsteine wurden nicht wieder zusammengesetzt und einige Gräber konnten nicht mehr identifiziert werden. Wegen des Drucks und Hartnäckigkeit einiger Überlebender konnten jedoch nach und nach einige weitere Grabsteine rekonstruiert werden.

Der Friedhof wurde vom Finanzamt Hameln an die Jewish Trust Corporation (JTC) übergeben und im Dezember 1952 wurde das Gelände an den Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen übereignet. Die Stadt Hameln finanzierte ab 1957 einen Gärtner, welcher die Anlage pflegte. Des Weiteren wurde der Landesverband für die Unterhaltung des Friedhofs finanziell vom niedersächsischen Kultusministerium unterstützt. 1959 gab es eine Initiative der Stadt, das Grundstück zu kaufen, um einen öffentlichen Park einzurichten, doch aufgrund des Widerstands des Landesverbandes wurde dieser Plan nicht umgesetzt.

In den 1990er Jahren entstanden in Hameln wieder zwei jüdische Gemeinden, welche den jüdischen Friedhof nutzen. Seit 1994 finden auf dem jüdischen Friedhof wieder Beerdigungen statt. Am 1.November 2001 weihte Rabbiner Dr. Henry G. Brandt den neuen jüdischen Friedhof am Wehl ein. Beerdigungen finden auf beiden Friedhöfen statt.

Das erste Mahnmal in Hameln wurde 1963 seitens der Stadt in der Bürenstraße errichtet. Am 26. November 1963 wurde der Gedenkstein auf dem ehemaligen Grundstück der Synagoge neben dem Spielplatz, der nach 1945 auf dem Gelände gebaut worden war, eingeweiht.

Im Jahr 1995 gab es aus der Hamelner Stadtgesellschaft eine Initiative zur Neugestaltung des Mahnmals. Es gab mehrere Vorschläge von Künstlerinnen und Künstlern zu der Gestaltung des Mahnmals; am Ende entschied man sich für den Entwurf von Hans-Jürgen Breuste. Das neue Mahnmal bindet Fragmente der ehemaligen Synagoge mit ein, wie zum Beispiel einen alten Zaunpfeiler und die alten Pyramideneichen, welche bei der Einweihung der Synagoge 1879 gepflanzt worden waren. Der neue Erinnerungsort wurde am 30. August 1996 unter großer Beteiligung der Öffentlichkeit eingeweiht. Der alte Gedenkstein wurde in das neue Mahnmal integriert. Das Mahnmal besteht aus mehreren Informationstafeln und einer kurzen Einführung zu den Geschehnissen während der Pogromnacht in Hameln. Auf fünf weiteren Tafeln sind die Namen von 99 Personen samt ihren Deportationszielen vermerkt. Zwischen den alten Pyramideneichen befindet sich eine geborstene Stahlsäule, welche die jüdische Geschichte vor und nach der Shoah symbolisieren soll. Die Shoah wird hier durch den Bruch in der Stahlsäule dargestellt.  Vor der Stahlsäule liegt eine Stahlplatte mit einem Zitat von Elie Wiesel mit folgendem Text:

„Das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Verzweiflung,
das Gegenteil von Erinnerung und Gedächtnis nicht Ver-
gessen, es ist wiederum Gleichgültigkeit.
Nur Erinnerung kann gegen sie ankämpfen.
Wenn wir aus dieser Gleichgültigkeit ausbrechen,
kann die Vergangenheit mit all dem Grauen, das sie enthält,
ein Schutzschild für die Menschheit werden.“

Des Weiteren wurden in der Stadt Hameln an mehreren Orten Stolpersteine verlegt.

 

Synagoge

Die neue Synagoge in der Bürenstraße, 2018. Foto: Tobias Mielich

Bernhard Gelderblom, Die Juden von Hameln. Von ihren Anfängen im 13. Jahrhundert bis zu ihrer Vernichtung durch das NS-Regime. Holzminden 2011.

Die Stadt Hameln und ihre Juden