November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Rehburg-Loccum

Der älteste Nachweis jüdischen Lebens in Rehburg ist ein Schutzbrief für Matthias Salomon, ausgestellt im Jahr 1707. Die Existenz einer jüdischen Gemeinde in der kleinen, sehr ländlich geprägten Stadt, lässt sich ab 1802 nachweisen – anhand eines „Kassabuches“ aus der Gemeinde. Im Jahr 1835 erwarb die Gemeinde im Zentrum des Ortes ein Gebäude, in dem sie eine Synagoge einrichtete. Das älteste Grab auf dem jüdischen Friedhof stammt von 1848.

Dennoch war es immer eine kleine Gemeinde, die aber um 1850 mit 70 Mitgliedern immerhin fünf Prozent der Bevölkerung ausmachte. Mitten im Ort lebten die jüdischen Mitbürger und trieben Handel nicht nur mit den Rehburgern, sondern auch mit dem Kloster Loccum. Sie waren Nachbarn – anerkannt im Leben der Stadt. Als 1934 ein Brand in der Synagoge ausbrach und die Gemeinde einen Bauantrag für den Wiederaufbau stellte, bekam sie diesen zugesprochen.

Zeitung Presse

Über ein Feuer in der Rehburger Synagoge erschien in der Tageszeitung „Die Harke“ am 22. Mai 1934 eine Notiz. Archiv „Die Harke“

Wenige Jahre später hatte sich die Stimmung in der Bevölkerung jedoch so weit gewandelt, dass aus Rehburg und den umliegenden Ortschaften die Menschen zur Synagoge zogen, um die Juden aus Rehburg zu vertreiben.

Grab

35 Gräber sind auf dem jüdischen Friedhof in Rehburg noch zu erkennen, 2014. Foto: Beate Ney-Janßen

 „Als am Morgen des 9. November 1938 die Kinder zur Schule kamen, direkt neben der Kirche hier, wo heute das Altenheim ist, da liefen die Lehrer schon in braunen Uniformen und SA-Stiefeln über den Schulhof. Und ein Lehrer hat damals den Kindern gesagt: ‚Kinder‘, hat er gesagt, ‚Ihr habt heute frei!‘. Da haben die Kinder gefragt, warum sie frei haben. Und da hat der Lehrer gesagt: ‚Wir müssen die Juden in Rehburg verjagen.‘“

So hat sich Wolfram Braselmann, Pastor in Münchehagen, von Gemeindemitgliedern die Vorgänge der Pogromnacht erzählen lassen. Und so hat er es in einer Predigt zum 70. Jahrestag jener Nacht erzählt.

Nach dem, was Wolfram Braselmann berichtete, begann die Pogromnacht in unserer Stadt mit einem kleinen Beispiel von Zivilcourage:

„Der Lehrer hat also gesagt: ‚Wir müssen die Juden in Rehburg verjagen!‘, und da haben die Kinder von den Juden erzählt, die sie kannten, die damals manchmal als Hausierer über die Rehburger Berge nach Münchehagen kamen. Und ein Mädchen hat gesagt: ‚Zu uns kommt immer ein Jude, der Leder verkauft.‘ Da hat der Lehrer das Mädchen gefragt: ‚Wie heißt der Jude?‘ Und da hat das Mädchen gesagt: ‚Das sag ich Ihnen nicht.‘“

Der Loccumer Konrad Droste schreibt in seinem Buch „Loccum – Ein Dorf – Das Kloster – der Wald“: „Es gibt Aussagen von ehemaligen SA-Männern, dass auch Mitglieder von NS-Einheiten aus Loccum und Münchehagen im Laufe des 10. November 1938 mit Fahrrädern und in Uniform nach Rehburg fuhren, um die ‚Auswirkungen des echten Volkszorns‘ kennen zu lernen.“

Ein Rehburger, Jahrgang 1929, erinnert sich, dass die SA-Kolonne zunächst bis zum Haus der Familie Löwenberg marschierte und rief: „Wir fordern Vergeltung für Ernst vom Rath!“ An das Haus schrieben sie: „Die Juden stinken von weither, jagt sie ins Tote Meer. Die Juden jagt nach Kanaan hin, weil wir sie hier nicht brauchen können.“ Danach nahmen sie Julius Löwenberg mit.

Ausstellung Plakat

Überlieferte Szene aus der Pogromnacht in Rehburg. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms, 2014

Anschließend sei die Kolonne zum Haus von Jakob Löwenstein marschiert. „Der hatte seine Pistole ins Plumpsklo geworfen. Die musste er wieder herausholen.“ Jakob Löwenstein und sein Schwiegersohn Alfred Birkenruth seien ebenso mitgenommen worden.

Alle männlichen Juden hätten die SA-Männer zum Spritzenhaus am Rehburger Marktplatz mitgenommen und dort eingesperrt.

„Dann haben sie eine schwarze Puppe gemacht wie einen Rabbi und haben der die Rollen [die Tora] unter den Arm gebunden und auf den Haufen auf dem Marktplatz gestellt und angesteckt. Dann wurden die Männer dazu geholt.“

Eine Rehburgerin, Jahrgang 1930, erzählt:
„Meine Freundin und ich kamen aus der Schule und sahen schon an der Meerbachbrücke, dass dort an der Synagoge viele Menschen standen und überall Scherben lagen. Sachen waren nach draußen geschmissen worden. Meine Freundin rief: ‚Oh, unser Haus brennt!‘ Sie wohnte doch in einer der Wohnungen der Synagoge. Rauch war nicht zu sehen, aber die Scherben und die Menschen – da dachte sie, dass es brennt.“

Ein Rehburger, Jahrgang 1929, kam am Tag nach der Pogromnacht gemeinsam mit seinem Vater, der Tischler war, in die Synagoge: „Mit meinen Vater bin ich nach der Reichskristallnacht in die Synagoge gegangen. Der hat geschimpft, weil die SA-Leute die ganze Ostwand aufgerissen haben. Wir haben auf der Empore gestanden. In der Wand war ein großes Buntglasfenster, ein David-Stern oder so.“

In der Rehburger Schulchronik steht:

„10. 9. 1938: Kampf dem Weltjudentum.
(Verbrecherischer Mord in Paris an dem deutschen Gesandtschaftsrat v. Rath).
Hier sind noch 5 jüdische Familien wohnhaft, während eine im Laufe des Sommers auswanderte, alle fleißig und harmlos.
Die SA durchsuchte die Wohnungen am 10. 9.38 vormittags. Man fand nichts Bedeutendes. Die Synagoge hier wurde ausgeräumt (zerschlagen), das Gerümpel auf dem Marktplatz verbrannt.“

In der Chronik ist tatsächlich der 10. September als Tag der Pogromnacht verzeichnet. Der Schreiber muss sich in diesem Fall im Datum getäuscht haben.

Überlieferte Szene aus der Pogromnacht in Rehburg. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms, 2014

Kurz nach der Pogromnacht wurden die im Spritzenhaus festgehaltenen Juden – Jakob Löwenstein, Julius Löwenberg, Alfred Birkenruth, Max Goldschmidt und Hermann Levy – in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert.

Jakob Löwenstein starb dort am 26. November 1938. Alle anderen kamen zurück. Julius Löwenberg hat nach seiner Heimkehr gesagt: „Den Jakob, den haben sie tot geschlagen.“

Von dem Klima der Angst, das in den jüdischen Familien Rehburgs und Bad Rehburgs nach der Pogromnacht geherrscht haben muss, haben wurde in den Jahrzehnten nach dem Krieg nichts erzählt. Wie überall in Deutschland, durften die jüdischen Kinder wenige Tage nach dem Pogrom nicht mehr die Schulen in ihren Orten besuchen. Betroffen davon waren die Kinder der Bad Rehburger Familie Freundlich und der Rehburger Junge Walter Birkenruth.

In der Rehburger Schulchronik ist der Schulabgang von Walter Birkenruth ordentlich mit Datum vom 10. November 1938 verzeichnet – in der Begründung steht lapidar „Jude…“.

Nicht zuletzt die Ereignisse der Pogromnacht mögen für Familie Freundlich der Grund gewesen sein, ihre 13-jährige Tochter Paula mit einem Kindertransport nach England zu schicken. Alle anderen Versuche jüdischer Eltern, ebenfalls Plätze für ihre Kinder in den Kindertransporten zu bekommen, schlugen fehl.

Nur wenigen der Juden gelang die Flucht. Der überwiegende Teil wurde wenige Jahre später deportiert und ermordet.

Der jüdische Friedhof in Rehburg wurde im Januar 1939 geschlossen. Der letzte Vorsteher der jüdischen Gemeinde Rehburg verkaufte im April 1939 das Synagogengebäude, weil die Gemeinde finanziell nicht in der Lage war, die in der Pogromnacht angerichteten Verwüstungen zu beseitigen.

Auszug Buch der Schulabgänger Rehburgs: Walter Birkenruth wird 1938 der Schulbesuch mit der Begründung „jüdisch“ verwehrt. Bürger- und Heimatverein Rehburg

Jakob Löwenstein wurde am 29. August 1859 in Rehburg geboren und lebte dort 79 Jahre lang – bis er gemeinsam mit vier weiteren Männern der jüdischen Gemeinde Rehburg nach der Pogromnacht nach Buchenwald deportiert wurde.

Während die anderen Männer aus dem Konzentrationslager zurückkehrten, war Jakob Löwenstein der erste Rehburger Jude, der dem NS-Regime zum Opfer fiel.

Über die Umstände seines Todes wissen wir nichts, abgesehen von einer Erinnerung des Rehburgers Heinrich Brunschön. Er erzählte, dass Julius Löwenberg, der ebenfalls nach der Pogromnacht nach Buchenwald gebracht wurde, später sagte: „Der Jakob, der wurde totgeschlagen.“

Was von Jakob Löwenstein aus Buchenwald zurückkam, war lediglich eine Uhr samt einem Schreiben des Leiters der Lagerverwaltung an die Ortspolizeibehörde Bad Rehburg mit der Anweisung, die Uhr den Angehörigen auszuhändigen.

Aus dem KZ Buchenwald ist Jakob Löwensteins Uhr mitsamt diesem Schreiben nach Rehburg geschickt worden, 1939. Bürger- und Heimatverein Rehburg

Die Familie Löwenstein war alteingesessen in Rehburg und Jakob hoch angesehen. Wie angesehen er war, zeigt ein überliefertes Gedicht, das der Bürgermeister Rehburgs, Ernst Meßwarb (1912 bis 1938), auf ihn schrieb:

Aus alten Zeiten

Schlomchen Löwenstein
Hoch klingt mein Lied drum stimmt mit ein
Ihr sollt den Held bald raten,
Euch allen ist bekannt der Mann
Sein Weg und seine Taten.
Hoch klingt mein Lied und stimmts mit ein
Der Held ist Schlomchen Löwenstein.

Viele Wege gehen ums Erdenrund,
Doch Schlomchen hat nur einen!
Bald früh – bald spät – zu jeder Stund´
Sucht Schlomchen nur den Seinen.
Von Rehburg hin, von Loccum her
Stets unermüdlich wandert er.

Ein Schiff der Wüste seht ihr hier
Gedrückt von schweren Lasten,
Fast täglich seine Straße ziehn
Doch niemals ruhn und rasten
Hält andere Hitz und Frost zu Haus
Mein Schlomchen wandert doch hinaus.

[…]

Aus Judenstamm, wie jeder schwört,
Unzweifelhaft entsprossen,
Bleibt im Gesetz, obgleich beschwert –
Doch immer unverdrossen.
Um jedem der’s nur ehrlich meint,
Bleibt Schlomchen ein treuer Freund.

In Rehburg soll so lang dies Lied, –
In „Loccum“ auch erschallen.
Wo Eichen grünen, Heide blüht, –
Dies Lied darf nie verhallen.
Drum stimmet alle froh mit ein,
Des Liedes Held bleibt Löwenstein.

Gewidmet dem Jacob Löwenstein

Die Uhr von Jakob Löwenstein, die seiner Familie aus Buchenwald zurückgeschickt wurde, befindet sich heute im Besitz seines Urenkels. Foto: Beate Ney-Janßen, 2014

Paula Freundlich wurde am 4. November 1925 in Bad Rehburg als Tochter des jüdischen Ehepaars Else und Siegmund Freundlich geboren. Sie war das zweite Kind der achtköpfigen Familie.

Die Entscheidung von Siegmund und Else Freundlich, einen Rettungsversuch für ihre Kinder zu starten, muss in den Tagen nach der Pogromnacht gefallen sein. Rettung versprachen damals die sogenannten Kindertransporte. Einflussreiche Juden in Großbritannien hatten bei ihrer Regierung darum gebeten, dass Juden aus Deutschland aufgenommen werden dürften.

Die Regierung willigte ein, 10.000 jüdische Kinder einreisen zu lassen. Die Flut der Anträge war wesentlich größer als das Kontingent, so dass es ein Auswahlverfahren gab. Aus der Familie Freundlich bekam lediglich Paula die Zusage.

Paula erinnert sich daran, wie ihre Eltern sie nach Hannover brachten – im Januar 1939. Auf den Bahnsteig durften die Eltern sie nicht begleiten. Abschiedsszenen sollten so vermieden werden. Paula hat ihre Eltern und Geschwister nie wiedergesehen.

Den Abschied der 13-jährigen Paula stellt eine Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“ dar. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms, 2014

Nur wenig durften die Kinder mitnehmen: einen Koffer, etwas Kleidung – keine Spielsachen und lediglich eine einzige Fotografie. Mit diesem wenigen ausgestattet saß Paula in dem Zug und fuhr einer ungewissen Zukunft entgegen. Zunächst fuhr der Zug in Richtung Niederlande. Ihre Erinnerungen hat Paula aufgeschrieben:

„Die Mädchen fuhren in einem Wagen und die Jungen in einem anderen sehr kalten Wagen. Die Juden durften keine Heizung haben. Für uns Mädchen war es nicht ganz so schlimm. Unser Wagen hatte noch ein wenig Wärme. Als wir in Holland angekommen sind, war alles anders. Es gab viele Leute an den Bahnhöfen, wenn der Zug ankam. Sie wollten uns alle begrüßen und haben uns Süßigkeiten geschenkt und auch Postkarten, so dass wir an unsere Eltern schreiben konnten. Das war alles so fremd für uns: Dass auch gute Menschen in der Welt sind, vor denen wir keine Angst haben müssen.
Dann sind wir mit dem Schiff nach Harwich in England gebracht worden, wo ich für eine kurze Zeit mit anderen Flüchtlingen in einem Camp wohnte. Danach wurde ich nach Coventry zu einer Familie gebracht.“

Von einer Nachricht mit 25 Worten erzählt Paula. Ein Telegramm, abgeschickt im März 1942. Paulas Vater schrieb ihr darin, dass die Familie auf dem Weg nach Polen sei.

Paula schreibt dazu: „Nachdem das Telegramm von meinem Vater ankam, wollte ich kein Deutsch lesen oder sprechen und wollte nur alles, was Deutsch war, vergessen.“

Am 28. März 1942 war die Familie Freundlich aus Bad Rehburg abgeholt worden, zum „Arbeitseinsatz in Polen“. Sechs Tage später begann für sie die Reise in das Ghetto Warschau. Rund drei Monate später begann die SS mit der Räumung dieses Ghettos und dem Transport der Menschen, die in ihm lebten, in das Vernichtungslager Treblinka II. Wahrscheinlich wurden Else, Siegmund und die fünf Kinder dort sofort nach dem Eintreffen in einer Gaskammer ermordet.

Paula heiratete in England und bekam vier Kinder. Ihre Kinder und Enkel sind gemeinsam mit Paula zur Verlegung von Stolpersteinen für ihre Familie und sie am 4. Oktober 2014 nach Bad Rehburg gekommen.

Paß

1939 ist der Ausweis für Paula Freundlich ausgestellt worden – damit sie einen Platz in einem Kindertransport annehmen konnte. Privatbesitz Paula Calder, geborene Freundlich

Walter Birkenruth wurde am 21. Oktober 1929 als Kind von Alfred und Erna Birkenruth in Rehburg geboren. Die Familie, zu der noch sein sechs Jahre älterer Bruder Hans Siegfried gehörte, lebte bei den Großeltern Jakob und Jeanette Löwenstein.

Walter wurde mit seiner Familie am 31. März 1942 ins Ghetto von Warschau deportiert, wo er ermordet wurde. Sein Todestag ist unbekannt – wie auch die Todestage seiner Eltern und seines Bruders.

Walters Vater und sein Großvater wurden nach der Pogromnacht nach Buchenwald deportiert und nur sein Vater kam von dort zurück – sein Großvater wurde im KZ Buchenwald erschlagen.

Die Pogromnacht hatte für Walter aber noch andere Folgen: Kurz danach durfte er die Schule in Rehburg nicht mehr besuchen. In der Rehburger Schule existiert noch ein Buch mit dem Verzeichnis der Schulabgänger aus jener Zeit. Hinter Walters Namen steht der Vermerk „Entlassen am 10.11.38 (Jude…)“. Ein Klassenfoto von 1936 zeigt ihn noch im Kreis seiner Mitschüler.

Ein Rehburger (Jahrgang 1929) erinnerte sich an eine Begebenheit. Damals, erzählt er, mussten die Jugendlichen sich auf Anordnung Propaganda-Filme ansehen, „‘Jud Süß‘ und solche Sachen.“ Das Kino befand sich direkt gegenüber dem Haus, in dem die Tante von Walter, Frieda Schmidt, mit Mann und Sohn Heinz lebte. „Als wir aus dem Kino kamen, da standen der Walter und der Heinz auf der anderen Straßenseite“, erzählt der Rehburger, „und dann haben sich einige von den Jungen den Walter gegriffen und ihn verprügelt.“

Straße

Aufgeheizt von einem Propaganda-Film verprügeln Rehburger Jungen Walter Birkenruth – so stellt es eine Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“ dar, 2014. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms

Walters Eltern suchten nach der Pogromnacht nach Wegen, das Land mit den Kindern verlassen zu können. England, die USA und Chile waren Ziele, die sie ins Auge gefasst hatten. Keiner dieser Versuche gelang jedoch. Drei Jahre später wurde die gesamte Familie nach Warschau deportiert und dort ermordet.

Stolpersteine für Walter, seinen Bruder, seine Eltern und Großeltern wurden in der Mühlentorstraße in Rehburg verlegt.

Walter Birkenruth, 1936. Bürger- und Heimatverein Rehburg

Julius Hammerschlag wurde am 20. März 1908 in Rehburg geboren und starb am 6. April 1995 in der Siedlung Moises Ville in Argentinien, wohin er 1938 mit seiner Frau, seinem Vater und seinen Geschwistern geflohen war. 1937 heiratete er Betty Wertheim und lebte mit ihr, einer Schwester und seinen Eltern in deren Haus in Rehburg.

Die Rehburgerin Anni Pfeil erzählte, dass ihr Vater – Schneider in Rehburg – von der Familie den Auftrag bekam, helle Anzüge zu schneidern. Darüber habe sie sich gewundert. Wer wollte denn in Rehburg einen hellen Anzug tragen? Daraufhin habe ihr Vater ihr erklärt, dass die Familie Hammerschlag nach Argentinien gehe, in ein Land, in dem es sehr warm sei und wo deshalb helle Anzüge notwendig seien.

Im Februar 1938 floh Familie Hammerschlag nach Argentinien – dargestellt auf einer Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“, 2014. Foto: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms

Noch vor der Pogromnacht hatte die Familie Hammerschlag erkannt, wie gefährlich die Situation war – so schwierig, dass sie es vorzog, weit fort zu fliehen. Die „Jewish Colonization Association“ (JCA) bot ihnen die Chance zur Flucht in eine ihrer Kolonien in Argentinien an.

Was aber hat die Familie Hammerschlag bewogen, bereits 1938 zu fliehen? Ein Grund waren die Anfeindungen und Repressalien. Ganz konkret bekam die Familie den Antisemitismus zu spüren, als das Kloster Loccum die Handelsbeziehungen zu ihnen kündigte.

Jose Hammerschlag – Sohn von Julius – hat die Geschichte erzählt, die seine Eltern ihm berichteten. Und zwar sei Anfang 1937, eines Freitagabends ein Bediensteter des Klosters zu seiner Familie nach Rehburg gekommen. Der Tisch sei wegen des beginnenden Shabbat festlich gedeckt gewesen, die Kerzen eben entzündet, die Familie versammelt, schreibt Jose Hammerschlag, als der Mann aus dem Kloster ihnen mitteilte, dass die Geschäftsbeziehungen miteinander aufgekündigt seien, „wegen der Vorschriften von oben“. Es täte ihm leid und er hoffe, dass das alles bald vorbei sei.

Das sei jedoch nicht geschehen und sein Großvater Salomon habe daraus den Schluss gezogen, mit seiner Familie auswandern zu müssen.

Das Kloster Loccum war einer der größten Abnehmer der Fleisch- und Wurstwaren der Familie. Rund 200 Jahre, sagte Jose Hammerschlag, hätten die Geschäftsbeziehungen angedauert.

Weil das Kloster Loccum die Geschäftsbeziehungen kündigte, entschloss sich Familie Hammerschlag zu fliehen – dargestellt auf einer Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“, 2014. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms

Unterlagen im Kloster besagen, dass bereits 1930 – also drei Jahre vor der Machtübernahme durch die Nazis – Vikare im Predigerseminar des Klosters gegen Fleischlieferungen von einem Juden bei ihrem Abt protestierten. Zum einen gehe es nicht an, dass das Loccumer Kloster Lieferungen aus Rehburg erhalte, wo doch im Dorf Loccum ein guter Fleischer ansässig sei. Zum anderen könnten die Geschäftsbeziehungen zwischen dem Kloster und einem Juden propagandistisch gegen das Kloster verwendet werden.
Der Abt entschied sich seinerzeit für einen Kompromiss: die Hälfte der Lieferungen kam künftig vom Loccumer Fleischer, die andere Hälfte durfte die Familie Hammerschlag nach Loccum bringen. 1937 wurde der Vertrag endgültig gekündigt.

Wie es seinen Eltern in Argentinien ergangen ist, hat Jose Hammerschlag in einer Mail an den Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum geschildert:

„Im März 1938 kamen meine Eltern in Buenos Aires an, und ein paar Tage später wurden sie – mit anderen Immigranten – zu der Kolonie Moises Ville geschickt, 650 km von Buenos Aires entfernt.
Dort bekamen sie ein Stück Land, 75 Hektar groß, ein paar Kühe, Pferde, Arbeitsgeräte, und ein sehr primitives kleines Haus.
Aber dies alles konnte nicht das Glücksgefühl trüben – sich von den Schauern Europas gerettet zu haben. Aber dieses Glück war natürlich beschattet von dem schrecklichen Gefühl, die Lieben der Familie nicht retten zu können! Die Eltern meiner Mutter fanden ihr tragisches Ende in Auschwitz.
Das Leben war hart in der argentinischen Landwirtschaft, und überhaupt – ohne die Sprache zu können, welche sie bis zum Ende ihres Lebens kaum sprechen lernten…Sie lebten immer weiter wie Immigranten, obgleich sie mit den Jahren sich heraufarbeiteten und es ihnen wirtschaftlich besser ging.
In vielen Momenten versuchten sie, uns von ihrer Vergangenheit zu erzählen, über ein Deutschland, welches sie betrogen und Schlimmes angetan hat. Aber doch hingen sie an den schönen Erinnerungen von dort.“

Am 27. November 2015 sind vor dem Haus in Rehburg Stolpersteine für Salomon Hammerschlag, seine Tochter Selma, Sohn Julius und dessen Ehefrau Betty verlegt worden. Zur Verlegung ist Julius Jose Hammerschlag aus Israel gemeinsam mit seiner Frau Evelyn und ihren drei Söhnen Ruben, Ariel und Yair zu Besuch gekommen.

Jose Hammerschlag (Israel), seine Frau und ihre Söhne 2015 bei der Verlegung von Stolpersteinen für ihre Familie in Rehburg. Foto: Beate Ney-Janßen

 

Julius Hammerschlag 1937 bei seiner Hochzeit. Jose Hammerschlag, Israel

Frieda Schmidt wurde als Frieda Löwenstein am 24. Mai 1898 in Rehburg geboren. Ihre Eltern waren das jüdische Ehepaar Jeanette und Jakob Löwenstein.

Dass Frieda Schmidt den Holocaust überlebte, hängt in erster Linie damit zusammen, dass sie einen Nichtjuden – den Christen Heinrich Schmidt – heiratete. Ihr Sohn Heinz wurde am 26. Juni 1931 geboren.

Friedas Eltern und ihre Schwester samt Familie wurden zwischen 1938 und 1942 deportiert.

Frieda blieb als einzige Jüdin in Rehburg – relativ geschützt durch ihre „Mischehe“. Kurz vor Ende des Krieges wendete sich das Blatt dann jedoch auch für sie.

Am 20. Februar 1945 wurde sie in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie am 8. Mai 1945 befreit wurde. Mit Tränen in den Augen erinnern sich ältere Rehburger daran: Die vorher leicht korpulente Frau bestand nur noch aus Haut und Knochen, als sie nach Rehburg zurückkam. Über das, was ihr in Theresienstadt widerfahren ist, soll sie Zeit ihres Lebens niemals geredet haben.

Vorbehalte gegen die Beziehung zwischen einer Jüdin und einem Christen gab es durchaus in Rehburg. So soll Heinrich Schmidt gelegentlich gefragt worden sein, was er denn mit „diesem Juden-Mädel“ wolle.

Folgende Szene ist uns von einer Rehburgerin aus den Jahren nach 1942 berichtet worden:
Es wird wohl 1943 oder 1944 gewesen sein – alle anderen waren bereits deportiert – als eine Gruppe SA-Männer zu dem Haus in der Heidtorstraße marschierte, in dem Frieda lebte. Landwirt August Lustfeld, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite seinen Hof hatte, beobachtete diesen Aufmarsch. „Wo wollt ihr denn hin?“, war seine Frage. „Die Frieda holen“, lautete die Antwort. August ging daraufhin mit erhobener Mistforke auf die Truppe zu und rief: „Das tut ihr nicht!“
Die SA-Männer sollen nach diesem für sie unerwarteten Widerstand wieder abgezogen sein. Frieda wurde nicht abgeholt.

Für August Lustfeld hatte die Szene jedoch ein Nachspiel. Der Landwirt, Jahrgang 1903, war eigentlich wegen zweier Leistenbrüche vom Kriegsdienst freigestellt, bekam nun aber wenige Tage später den Gestellungsbefehl und musste nach Russland an die Front.

Ein Akt von Zivilcourage eines Nachbarn bewahrt Frieda Schmidt 1943 noch vor der Deportation – dargestellt auf einer Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“, 2014. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms

Am 13. Januar 1945 gab es dann einen Erlass des Reichssicherheitshauptamtes, dass alle in „Mischehe“ lebenden Juden in das Konzentrationslager Theresienstadt zu überstellen seien. Und so wurde Frieda Schmidt verhaftet und in dieses KZ deportiert, wo 1942 bereits ihre Mutter ermordet worden war.

Welches Grauen sie dort erlebt haben musste, lässt sich an einer Begebenheit ermessen, die eine Freundin von Frieda erzählte. Bei einem gemeinsamen Einkauf in einem Geschäft habe Frieda plötzlich angefangen zu schreien und sich überhaupt nicht beruhigen lassen. Später habe sie ihr erzählt, dass sie in dem Geschäft einen ihrer Aufseher aus Theresienstadt wiedererkannt habe.

Frieda Schmidt ist am 28. Oktober 1984 im Alter von 86 Jahren gestorben. Ihr Grab ist auf dem evangelisch-lutherischen Friedhof in Rehburg.

Ein Stolperstein für Frieda Schmidt liegt seit 2014 vor ihrem Haus in Rehburg.

2014 ist ein Stolperstein für Frieda Schmidt in Rehburg verlegt worden. Foto: Beate Ney-Janßen

 

Porträt Frieda Schmidt, geborene Löwenstein, ca. 1925. Privatbesitz

Über eine justizielle Ahndung ist wenig bekannt.

Dokumentiert ist lediglich ein Gerichtsurteil, das den Überlebenden der Familie Goldschmidt auf Antrag das Wohnhaus sowie den Grundbesitz zuspricht.

21 Stolpersteine für Opfer des Nationalsozialismus hat der „Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum“ seit 2014 in Rehburg, acht weitere im Nachbarort Bad Rehburg verlegen lassen. Hinzu kommt eine Stolperschwelle, die in Rehburg auf das Haus hinweist, in dem sich bis 1939 die Synagoge der jüdischen Gemeinde befand.

Eine sichtbare Spur ist zudem der jüdische Friedhof, der mit 35 Gräbern noch erhalten ist.

Die Erinnerung an die jüdische Gemeinde hält der 2013 gegründete „Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum“ zudem in seiner Geschichtswerkstatt wach, die sich im Zentrum Rehburgs befindet. Dort ist eine Ausstellung zur Geschichte der jüdischen Gemeinde zu sehen. Dadurch ist ein außerschulischer Lernort entstanden, der von Schulklassen der Umgebung sowie Konfirmanden- und Jugendgruppen genutzt wird. Eine Kooperationsvereinbarung mit der IGS Nienburg ist abgeschlossen. Eine weitere Kooperation ist im Entstehen. Diverse weitere Projekte mit Jugendlichen (Theater, Lesungen, Diskussionsrunden, etc.) bietet der Arbeitskreis an.

Zahlreiche Angebote zum Gedenken und Lernen für die Zukunft macht der „Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum“ Jugendlichen – wie hier bei einer Diskussion von Schülern der Wilhelm-Busch-Schule Rehburg mit Kultusminister Grant Hendrik Tonne und der Vorsitzenden der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, Ingrid Wettberg, März 2018. Foto: Beate Ney-Janßen

Zusätzlich gestaltet er ein kleines Kulturprogramm, unter anderem mit Vorträgen und Liederabenden mit vorwiegend regionalem Charakter. Dazu kommen Gedenkveranstaltungen mit Führungen über den Friedhof und Spaziergänge zu den „Stolpersteinen“. Versöhnungsarbeit wird unter anderem durch zahlreiche Kontakte zu Nachfahren der Juden Rehburgs geleistet.

Seit Mai 2018 bietet der „Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum“ Schulklassen Biografie-Erkundungen an, 2018. Foto: Beate Ney-Janßen

Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum, dort ist unter „Erinnerungen und Überliefertes“ auch der Abschnitt der Schulchronik Rehburg zu der Zeit des Nationalsozialismus einsehbar

Konrad Droste, Loccum. Ein Dorf – Das Kloster – Der Wald. Beiträge zu einer bemerkenswerten Geschichte, Loccum 1999.

Nanca Kratochwill-Gertich u. Antje C. Naujoks, Rehburg, in: Herbert Obenaus (Hg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Bd. 2, Göttingen 2005, S. 1298 – 1302.

Gerd-Jürgen Groß, „Sie lebten nebenan“. Erinnerungsbuch für die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933-1945 deportierten und ermordeten jüdischen Frauen, Männer und Kinder aus dem Landkreis Nienburg/Weser, Nienburg 2013.