November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Duingen

Das jüdische Leben in Duingen begann spätestens 1820. In der Blütezeit der Gemeinde zwischen 1850 und 1914 lebten 15 jüdische Menschen im Ort. Sie machten etwa ein Prozent der Bevölkerung des Fleckens aus, die sich auf knapp 1.200 Personen belief. Die Duinger Juden verteilten sich auf zwei bis drei Familien. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert verließen viele von ihnen den Ort.

1933 lebte nur noch der „Kolonialwaren“-Händler Walter Bienheim (1903-1951) mit seiner Frau und ihrer Tochter sowie der Mutter Hulda in Duingen. Sein Haus war in der dritten Generation im Besitz der Familie. Das angegliederte kleine Bankgeschäft war in der Inflationszeit eingegangen.

Walter Bienheim war Mitglied in zwei örtlichen Vereinen, der freiwilligen Feuerwehr und des Gesangvereins, ein Beleg dafür, in welch hohem Maße die Familie im Ort integriert war. Außerdem besaß er – für einen Juden, der in einem Dorf wohnte durchaus ungewöhnlich – das Parteibuch der SPD. Es gibt Hinweise, dass er 1933 aus den Reihen der Feuerwehr und des Gesangvereins ausgeschlossen wurde.

Weil jüdische Ladengeschäfte in der NS-Zeit boykottiert wurden und auch Menschen, die den Juden wohlgesinnt waren, Angst haben mussten „beim Juden“ zu kaufen, verlegte sich Bienheim zunehmend auf „Haustürgeschäfte“ und fuhr mit seinem PKW in die umliegenden Dörfer. Der Alfelder Landrat reagierte darauf 1936 mit dem Entzug der „Wandergewerbeerlaubnis“. Walter Bienheim wandte sich daraufhin mit einer Beschwerde an das Bezirksverwaltungsgericht Hildesheim. Der Hildesheimer Regierungspräsident begründete den Entzug in einem drei Seiten langen Schriftsatz, in dem es u. a. hieß, Bienheim sei bei seinen Geschäften unzuverlässig, nicht vertrauenswürdig und aufdringlich.

Das Verwaltungsgericht Hildesheim gab am 3. Juli 1936 jedoch der Beschwerde Bienheims Recht. Es hätten sich „weder in politischer, noch in gewerblicher Hinsicht hinreichende Anhaltspunkte für Unzuverlässigkeit des Herrn Bienheim ergeben.“ Der Regierungspräsident ging in Berufung. Bereits im November 1936 kam es zu einer erneuten Gerichtsverhandlung. Ob sich das Gericht ein zweites Mal dem massiven politischen Druck widersetzte, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden.

Auch in den Dörfern wurde der Antisemitismus stärker. Die Reifen von Bienheims Auto wurden mehrfach zerstochen oder zerschossen. Im nahe gelegenen Marienhagen, einem Ort, in dem überhaupt keine Juden lebten, fanden judenfeindliche Kundgebungen statt und es wurden antijüdische Schilder aufgestellt.

Unter dem herrschenden Druck verließ Walter Bienheim Ende 1936 Duingen und ging nach Hannover. Das Geschäft verpachtete er zunächst an den Kaufmann Hinrichsmeyer und verkaufte es ihm 1940 schließlich. In Hannover versuchte er noch einmal ein Geschäft zu eröffnen. 1940 gelang ihm mit seiner Frau Else und Tochter Ruth gerade noch rechtzeitig die Flucht in die USA. Walter Bienheim starb am 6. Februar 1951 in New York.

Die letzte jüdische Einwohnerin Duingens war Walters Mutter Hulda Bienheim. Nach mündlichen Aussagen von Verwandten hatte sie sich früh mit dem Gedanken an eine Auswanderung vertraut gemacht, war zum Beispiel vor 1939 nach Palästina gereist, verfügte auch über ein Affidavit, das notwendige Bedingung für eine Einwanderung war. Sie zog am 4. Januar 1937 von Duingen nach Hannover zu ihrem Sohn Walter. Mehrmals wechselte sie in der Folge ihren Aufenthaltsort. Ende August 1939 ging sie zu Verwandten nach Petershagen bei Minden, später zeitweise nach Bremen, wo ihre Tochter Anna Grünberg lebte.

Im Mai 1940 war Hulda Bienheim zurück in Hannover, nun im jüdischen Altersheim in der Ellernstraße 16. Von dort wurde sie am 15. Dezember 1941 im Alter von 69 Jahren in das Ghetto Riga deportiert. Ein Teil der Menschen wurde gleich nach der Ankunft in den Wald geführt und erschossen.

Eine Duinger Firma mit jüdischem Besitzer war die Steinzeug- und Tonwarenfabrik, die seit 1913 dem Kaufmann Louis Steinberg gehörte. Er musste das Unternehmen am 1. Juni 1937 an den Betriebsleiter Werner abtreten.

Das ehemalige Wohn- und Geschäftshaus des „Kolonialwaren“-Händlers Walter Bienheim in der Eckardtstraße 1, 2008. Foto: Bernhard Gelderblom

Der Friedhof der Duinger Juden liegt weit außerhalb des Dorfes in süd-östlicher Richtung inmitten von Feldern auf einer kleinen Kuppe. Das Flurstück ist mit einer Fläche von 125 qm recht klein. Zeitzeugen erzählen von einer Beerdigung, die bald nach 1933 erfolgt sei. Ohne Sarg hätten die Hinterbliebenen den Leichnam in die wegen schweren Regens voll Wasser gelaufene Grube legen müssen, begleitet von Beschimpfungen und Beleidigungen durch Bewohner des Fleckens. Ein Grabstein ist für diese Beerdigung nicht mehr gesetzt worden. Steinmetze und Sargtischler weigerten sich nicht selten, für Juden zu arbeiten.

Der Friedhof soll um das Jahr 1938 am helllichten Tage durch Duinger SA-Männer zerstört worden sein. Sie warfen die Steine um und zerbrachen sie dabei teilweise. Offensichtlich blieben die zerstörten Steine an Ort und Stelle liegen.

Erich Bienheim (1898-1962), einem ältereren Bruder von Walter Bienheim, gelang eine bemerkenswerte theologische Laufbahn. Er studierte an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin bei Ismar Elbogen und Leo Baeck Rabbinistik, promovierte in Würzburg über „Die Gebärden im Alten Testament“ und war 1924 bis 1927 Rabbiner in Berlin, anschließend bis 1939 an der liberalen Synagoge in Darmstadt tätig. Weil die Nationalsozialisten jüdischen Kindern den Schulbesuch erschwert hatten, gründete er dort eine jüdische Grundschule.

Am frühen Morgen des 10. November 1938 – Erich Bienheim war auf dem Weg zu der von den Nationalsozialisten angezündeten Darmstädter Synagoge – verhaftete ihn die Gestapo und schaffte ihn in das KZ Buchenwald. Vier Wochen später wurde er unter der Bedingung entlassen, Deutschland so bald wie möglich zu verlassen. 1939 emigrierte Erich Bienheim nach England, war von 1946-1949 Rabbi an der West-End-Synagoge in London und von 1949 bis kurz vor seinem Tode im Jahre 1962 an der Reform-Synagoge in Bradford.

Karl Ludwig Bienheim (1900-1967), Erichs jüngerer Bruder, besuchte das Gymnasium für Jungen in Hameln und legte dort 1918 das Abitur ab. Nach dem Militärdienst studierte er 1919 bis 1925 Architektur an der Technischen Hochschule Hannover und der Technischen Hochschule Stuttgart. 1927 bis 1932 war er bei der preußischen Regierung in Berlin als Experte für Landwirtschafts- und Gartenbausiedlungen angestellt. Aus dem Jahre 1927 existiert der Entwurf für einen rationalisierten Landwirtschaftsbetrieb.

1932 heiratete er Rosel Pinkus und emigrierte mit ihr 1934 nach Palästina. Dort arbeitete er zunächst als privater Architekt in Hadera bei Haifa. In den Jahren 1938 bis 1949 war er Chefarchitekt der Hever Hakwu 20th, einer Gruppe von 80 landwirtschaftlichen Siedlungen in Israel. 1950 erfolgte seine Ernennung zum Professor für Landwirtschafts- und Siedlungswesen am Technion in Haifa. 1961/62 hatte er eine Gastprofessur an der Technischen Hochschule Stuttgart inne.

In der Nachkriegszeit soll es nach Auskunft von Zeitzeugen wegen der Zerstörung des Friedhofes zu einem Prozess gekommen sein, in dem die Täter zu Geldstrafen verurteilt wurden. Näheres war nicht in Erfahrung zu bringen.

Der Friedhof wurde zu einem unbestimmten Zeitpunkt wieder hergestellt. Auf Reparaturarbeiten an den Grabsteinen verweisen deutliche Mörtelspuren. Aus der Zeit nach dem Kriege dürfte auch die niedrige Mauer stammen, die den Friedhof umgibt.

Kurze Zeit nach seiner Wiederherstellung wurde der Friedhof erneut zerstört. Die Beschädigung der Schriftfelder durch Beilhiebe soll nach Aussagen von Zeitzeugen bei dieser zweiten Zerstörung erfolgt sein. Bei einem Besuch des Friedhofes im Jahre 1985 bot dieser ein trauriges Bild der Vernachlässigung und Verwüstung.

Im Sommer 2006 war der Friedhof von Bäumen und Büschen fast ganz überwachsen. Die Steine wiesen immer noch die alten Beschädigungen auf. In dieser Situation entschloss sich der örtliche Heimat- und Kulturverein, den Friedhof in enger Zusammenarbeit mit Bernhard Gelderblom zu restaurieren.

Der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen gab bereitwillig sein Einverständnis und sagte eine begrenzte finanzielle Unterstützung zu. Alle Ausbesserungsarbeiten an den Grabsteinen waren Sache des Landesverbandes. Eine finanzielle Unterstützung des Fleckens Duingen wurde erbeten, aber abgeschlagen.

Die Arbeiten begannen mit der Beseitigung des dichten Buschwerks. Bruchstücke von Steinen, die bisher unter dem dichten Bewuchs versteckt gelegen hatten, traten ans Tageslicht. Nun wurden auch die erheblichen Schäden an der Umfassungsmauer deutlich. Über mehr als zwei Jahre erstreckte sich die von zahlreichen Händen ehrenamtlich ausgeführte Arbeit. Ein Vortrag von Bernhard Gelderblom zum jüdischen Leben in Duingen am 21. Februar 2008 gab die nötigen Hintergrundinformationen.

Nach Aufstellung der Steine, die von einer hannoverschen Firma restauriert worden waren, wurde der Boden mit einer Schicht Rindenmulch abgedeckt und mit Bodendeckern bepflanzt. Steinplatten führen den Besucher auf das Gelände. Ein neuer Zaun war nötig, schließlich ein Schild. Im September 2008 fand unter großer Beteiligung der örtlichen Bevölkerung die Einweihung statt.

 

Der Friedhof im Zustand der Zerstörung, 1985. Auf mehreren Grabsteinen sind die Spuren von Beilhieben zu erkennen. Foto: Bernhard Gelderblom

Bernhard Gelderblom, Salzhemmendorf, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bände, Göttingen 2005, S. 1336-1344.

Bernhard Gelderblom, Jüdisches Leben in Duingen, Vortrag am 21. Februar 2008, Duinger Heimat- und Kulturverein e.V., Heft 13, 2009.

Bernhard Gelderblom, Die Juden in den Dörfern des Fleckens Salzhemmendorf, Holzminden 2013, 173-209.

Stephanie Link, Von Kollergang und Röhrenplatz. Tonindustrie in Duingen, Duingen 2009.

Die Dokumentation der Opfer der NS-Herrschaft in der Stadt Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont: Deportierte jüdische Bürger aus Duingen

http://www.geschichte-hameln.de/gedenkbuch/gedenkbuch.php

Der jüdische Friedhof Duingen

http://www.gelderblom-hameln.de/judenhameln/friedhoefe/judenfriedduingen.php?name=duingen