Neustadtgödens
Vorgeschichte
Die ersten drei jüdischen Familien von Neustadtgödens finden sich 1639 im Einnahmeregister der Herrlichkeit Gödens; sie hatten den so genannten „Judentribut“ zu entrichten, der ihnen ein Bleiberecht gestattete. Der erste Schutzbrief, der den Juden auch juristisch ein zeitlich begrenztes Ansiedlungsrecht garantierte, datiert aus dem Jahr 1660. Die auch schon bei den Täufern angewandte „Toleranz“ gegenüber Andersgläubigen dürfte wohl vor allem auf den wirtschaftlichen Vorteilen der Herrlichkeitsbesitzer basiert haben. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts zahlten nicht weniger als elf jüdische Haushaltsvorstände an Neujahr ihr Schutzgeld. Mitte des 19. Jahrhunderts war jeder vierte Bewohner Neustadtgödens jüdischen Glaubens.
Die Juden in Neustadtgödens lebten in der Regel gut nachbarschaftlich und auf Augenhöhe mit den Christen zusammen. Der gesamte Ort beteiligte sich an besonderen Ereignissen der jeweiligen Glaubensgemeinschaften. Die 1852 fertiggestellte Synagoge zeugt von einem selbstbewussten Auftreten im Ort.
Die Akzeptanz der Juden im Ort lässt sich auch im politischen Leben ablesen, nachdem seit 1869 die Möglichkeit dazu bestand. 1889 stellten sich mit R. de Taube und Wilhelm Cohen zwei jüdische Gemeindemitglieder zur Beigeordnetenwahl des Fleckenvorstehers. 1893 waren von elf Gemeinderatsmitgliedern fünf jüdischen Glaubens.
Mit der Emanzipation wurden Juden auch Mitglied in den sich gründenden Vereinen. Schon 1861 waren Lazarus Stein, Heymann Cohen, Moses Cohen, Moses Simons und Philipp Stein Mitglieder des Schützenvereins. Den 1875 gegründeten Kriegerverein leitete Jacob Weinberg als 1. Vorsitzender. 1925, zum 50-jährigen Bestehen des Vereins, wurde Wilhelm Cohen als einziges noch lebendes Gründungsmitglied zum Ehrenmitglied ernannt. 1886 gründete sich die Freiwillige Feuerwehr mit S. Cohen als 2. Hauptmann und Samuel de Taube als Zugführer. Ab 1914 war Lazarus Weinberg im Vorstand des Roten Kreuzes vor Ort, und Rosa Stein leitete einen Frauenverein. Die politische Situation in Neustadtgödens kann noch bis zum Ende der 1920er Jahre als durchweg liberal bezeichnet werden. Bei der Landtagswahl 1928 kamen die demokratischen Parteien wie SPD, DDP und im geringen Umfang das Zentrum auf weit über 50 Prozent der Wähler. Im Gegensatz hierzu dominierten im Landkreis Wittmund, zu dem Gödens gehörte, schon sehr früh die NSDAP und andere völkische Parteien. So lagen bei derselben Landtagswahl im benachbarten Horsten die NSDAP (56,2 Prozent) und das völkisch orientierte Landvolk (21,7 Prozent) unangefochten an der Spitze. In Neustadtgödens scheint die Transformation von einem eher liberalen Umfeld hin zu einer von der NSDAP dominierten Ortsstruktur vor allem über die Jugendorganisationen vorbereitet worden zu sein. Die über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen und persönlichen Bindungen der Erwachsenen erschwerten zunächst die Infiltration von außen. Während der Machtergreifung der Nationalsozialisten lebten noch zwölf Juden in Neustadtgödens. Die Agitation gegen Juden machte es den verbliebenen jüdischen Familien schwer, wie auch Robert de Taube in seinem Erlebnisbericht bezeugt: „Es fing schon an im Jahre 1933 – Boykott, Umstürzen der Milchkannen an der Straße von Horsten nach Blauhand. […] Ferner durch Anbringen eines Plakates – Juden unerwünscht – am Eingang zu der zum Hofe führenden Allee.“
Am 15. März 1936 gab die jüdische Gemeinde Neustadtgödens ihre Synagoge mit einem feierlichen Gottesdienst auf. Vorausgegangen war die angeordnete Schließung wegen angeblicher Baufälligkeit, hinter der vermutlich eine Repressalie der NS-Behörden steckte. Zudem fehlte es der jüdischen Gemeinde durch Wegzug an männlichen Gemeindemitgliedern.
Die Ereignisse im November 1938
Am 10. November um 3.00 Uhr erging ein Anruf der SA-Standarte Emden an den SA-Obertruppführer Hermann Wehlau, da der für diese Aktion führende SA-Oberscharführer Friedrich Haake keinen eigenen Telefonanschluss hatte. Der Aktionsbefehl lautete: Die im Sturmbereich wohnenden Juden sind sofort festzunehmen. Gelder und Wertsachen, die sie im Besitz haben, sind sicherzustellen. Falls sich im Sturmbereich eine Synagoge befindet, ist diese niederzubrennen.
Das bereits einem nichtjüdischen Handwerker gehörende Synagogengebäude wurde nicht niedergebrannt. Die sieben noch in Neustadtgödens verbliebenen Juden wurden von der SA festgenommen, dazu weitere elf vom Horster Grashaus. Auf diesem landwirtschaftlichen Anwesen der Familie de Taube erhielten Emigranten, die nach Palästina auswandern wollten, eine landwirtschaftliche Ausbildung.
In dem in der „Alten Pastorei“ eingerichteten Sturmbüro der SA mussten sich die Inhaftierten registrieren lassen und alle Wertgegenstände abgeben. Danach verbrachte sie die SA in das Hotel „Deutsche Eiche“.
Auf Anweisung der SA-Standarte Emden kamen noch in der Nacht die Frauen wieder frei. Die männlichen Juden verbrachten eine Nacht im Hotel, wobei sie auf dem Fußboden schlafen mussten. Am nächsten Morgen traf ein Transportbefehl der Gestapo-Leitstelle in Wilhelmshaven ein, und anschließend verließen die Juden den Ort auf einem Viehtransporter in Richtung Sande, von wo sie mit der Eisenbahn nach Oldenburg gebracht wurden. Laut Gerichtsakte des Landgerichts Aurich soll sich die Bevölkerung während des Abtransports „korrekt“ verhalten haben, einige Einwohner hätten sogar ihre Anteilnahme gezeigt. Lediglich die Schulkinder und ihre beiden Lehrer sollen auf der Straße gestanden und gesungen haben:
„Schmeißt die ganze Judenbande
raus aus unserem Vaterlande!“
Am Bahnhof in Oldenburg trafen die Verhafteten mit weiteren Juden aus Ostfriesland, dem Jeverland und Wilhelmshaven zusammen. Dann trieb man sie als Juden gekennzeichnet durch die Straßen bis zum Pferdemarkt. Dort entließ man die über 80 Jahre alten Salomon und Samuel de Taube sowie die beiden 14jährigen Jan Lazarus (Lawrence) und Kurt Herz vom Horster Grashaus. Vom Pferdemarkt mussten die Gefangenen wieder zurück zum Bahnhof marschieren. Von dort wurden sie in das Konzentrationslager Sachsenhausen transportiert, wo sie einige Wochen unter qualvollen Umständen inhaftiert blieben.
Die Inhaftierten vom 9. November waren:
- Richard Stein aus Neustadtgödens
- Friedrich Cohen aus Neustadtgödens
- Alfred Weinberg aus Neustadtgödens
- Arthur von der Wall vom Horster Grashaus
- Helmuth Josephs vom Horster Grashaus
- Kurt Stern vom Horster Grashaus
- Rudolf Lion vom Horster Grashaus
- Kurt de Taube vom Horster Grashaus
- Ernst de Taube vom Horster Grashaus
- Robert de Taube vom Horster Grashaus
Alle wurden nach heutigem Wissenstand bis Weihnachten wieder entlassen.
An der Aktion in Neustadtgödens und auf dem Horster Grashaus nahmen neben der SA auch Angehörige des SA-Reitersturms und des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) teil. 24 Tatbeteiligte wurden später angeklagt, vier von ihnen freigesprochen.
Folgen
Das Leben der in Neustadtgödens verbliebenen Juden wurde fortan von Repressionen bestimmt. Aus diesem Grund verließen bis 1941 weitere Juden den Ort und versuchten, in größeren Städten unterzutauchen oder ins Ausland zu gelangen. Die wenigen verbliebenen Juden wurden wie Richard Stein und seine Frau Rosa sowie die Eheleute Friedrich und Bertha Cohen mit der ersten Deportationswelle im Herbst 1941 in die Ghettos im Osten verschleppt und umgebracht.
Salomon de Taube und seine Tochter Käthe wurden ebenfalls deportiert und ermordet. Der mit einer Christin verheiratete Alfred Weinberg wurde im Februar 1945 in das Konzentrationslager Theresienstadt transportiert, das er überlebte. Als letzter Jude von Neustadtgödens starb er 1974 und wurde auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt.
Insgesamt wurden 53 Jüdinnen und Juden aus Neustadtgödens in der Zeit des Nationalsozialismus ermordet.
Biografie - Richard Stein, Kaufmann
Richard Stein wurde am 09. 12. 1885 in Neustadtgödens in der Kirchstraße 33 geboren. Seine Eltern, Philipp Stein und Emma Stein, geb. Frank, betrieben einen „Productenhandel“ (Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen). Richard hatte noch vier ältere Brüder (Philipp, Leopold, Siegfried und Gustav) und eine ältere Schwester namens Röschen. Die typisch deutschen Vornamen der Söhne verweisen bereits darauf, dass sich die Eltern in ihrem Bewusstsein als Deutsche mit jüdischer Religionszugehörigkeit sahen.
Während des Ersten Weltkrieges diente Richard Stein in der 6. Kompanie des Reserve-Infanterie Regiments 234. Bei Stellungskämpfen an der Yser erlitt er im Januar 1916 eine Verwundung.
Sein Bruder Gustav, der es bis zum Unteroffizier gebracht hatte, wurde 1917 ebenfalls verwundet.
Verheiratet war Richard mit Rosa, geb. Wertheim. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor (Emma, geb. 1915 und Kurt, geb. 1919). Vermutlich übernahm Richard das Geschäft seiner Eltern, das sich 1922 in der Kirchstraße 35 befand. Im Juni 1936 verkaufte Richard Stein als letzter Gemeindevorsteher der jüdischen Gemeinde in deren Auftrag das Synagogengebäude an einen Farbenhändler, der dort sein Lager einrichtete.
Die Situation der Familie Stein zeigt, dass man sich schon kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Klaren darüber gewesen war, dass die Kinder keine Zukunft mehr in Deutschland hatten. So wurde die Tochter bereits 1933 zu Verwandten nach Amsterdam geschickt, wo sie als Haushaltshilfe arbeitete. Der Sohn folgte 1935 nach. Die Eheleute Stein wurden 1940 von der SS abgeholt und zunächst in ein Lager nach Bremen gebracht. Bis zu ihrem Abtransport in das Ghetto Minsk wurden sie noch viermal von ihrer früheren Nachbarin besucht. Die Eheleute Stein, ihre Tochter Emma und Röschen, die Schwester von Richard Stein, wurden in den Vernichtungslagern im Osten ermordet. Kurt überlebte und baute sich eine Existenz in Emmen (Niederlande) auf.
Biografie - SA-Oberscharführer Friedrich Haake, Führer des SA-Sturms Neustadtgödens
Friedrich Haake wurde 1898 geboren. Den Ersten Weltkrieg erlebte er als Infanterist und erlitt eine Verwundung, was zu einer Lähmung der rechten Hand führte. Für seine Verdienste im Krieg bekam er das EK II. Klasse verliehen. 1922 trat Haake in den Stahlhelm ein und wurde 1933 Mitglied in der am 12. Februar 1932 formal gegründeten Ortsgruppe der NSDAP Gödens-Neustadtgödens.
Beschäftigt war Haake als Arbeiter auf der Kriegsmarinewerft in Wilhelmshaven. 1934/35 stieg er zum SA-Scharführer-Verwaltungsführer auf und hatte 1938 als SA-Oberscharführer die Leitung über den SA Sturm in Neustadtgödens.
In der Nacht zum 10. November informierte ihn der Truppführer Hermann Wehlau über den Befehl der Standarte Emden. Die Informationen über Haake während des Pogroms sind sehr widersprüchlich, was wohl auf die sich nicht gegenseitig belastenden Zeugenaussagen der Täter zurückgeht. So soll Haake eine Inbrandsetzung der Synagoge abgelehnt haben. In Neustadtgödens angekommen, versuchte er eine Rücknahme des Niederbrennungsbefehls in Emden zu erlangen. Jedoch hatte er keinen Anschluss bekommen. Dann ging er mit Wehlau zum Alarmplatz der SA, den Schulhof. Er verabredete mit Wehlau, dass dieser die Festnahme der Juden in Neustadtgödens, Haake mit einem Teil der SA-Männer die Festnahme der im Horster Grashaus lebenden Juden durchzuführen hatte. Zudem erklärte er Wehlau, dass er es auf seine Kappe nehmen würde, die Synagoge nicht abzubrennen. Er betonte nachdrücklich, dass die Festnahmen unter allen Umständen schonend durchgeführt und Beschimpfungen, Misshandlungen, Plünderungen oder sonstige Ausschreitungen unbedingt vermieden werden müssten. Im Horster Grashaus kam es aber nach Aussage von Robert de Taube sehr wohl zu Misshandlungen und Plünderungen.
1946 wurde Haake zunächst im Entnazifizierungsverfahren in Gruppe III (Minderbelastete) eingestuft. In dem von Robert de Taube 1948 angestrebten Prozess um die Geschehnisse der Pogromnacht wurde er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen in Tateinheit mit schweren Landfriedensbruch (§ 125 Abs. 2 StGB) und gemeinschaftlicher schwerer Freiheitsberaubung (§ 259 Abs. 2 StGB) zu neun Monaten Gefängnisstrafe verurteilt. Die dabei dargestellte Sichtweise und die Urteilsverkündung folgte im Wesentlichen den Argumenten der Verteidigung. Die wenigen jüdischen Zeugen hatten Angst vor weiteren Repressionen.
Spuren und Gedenken
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten nur wenige Juden zurück. Die Erinnerung an ihr Schicksal blieb zunächst unaufgearbeitet, zumal einige der führenden Protagonisten der NS-Zeit vor Ort kaum ein Interesse daran gehabt haben dürften. Die ohnehin schon geringen Haftstrafen im Prozess von 1948 wurden über das „Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit“ vom 31. Dezember 1949 aufgehoben. Diese Amnestie erließ alle Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten. Strafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr konnte in eine Bewährungsstrafe umgewandelt werden, was in Ostfriesland mit einer Ausnahme immer geschah.
Die bis zum Kriegsende unzerstörte Synagoge wurde 1946 zunächst in ein Wohnhaus umgewandelt. Seit 1962 war in dem Gebäude die örtliche Feuerwehr untergebracht. Dazu brach man die kunstvolle Ostseite durch zwei LKW-Garagentore auf und zog eine Zwischendecke aus Beton ein, so dass ein 1. Stock nutzbar wurde. Von der originalen Bausubstanz im Inneren blieb nichts erhalten. Erst in den 1980er Jahren begann man sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Nachdem ein neues Feuerwehrgebäude errichtet wurde, ließ die Gemeinde Sande (Neustadtgödens gehört seit 1972 zum Landkreis Friesland) das Gebäude von 1986 – 1988 mit beachtlichen öffentlichen Zuschüssen von außen rekonstruieren, innen umstrukturieren und als Baudenkmal ausweisen. Allerdings verkaufte die Gemeinde 2002 die Immobilie an einen Privatmann. 2015 schließlich konnte der Zweckverband Schloss- und Heimatmuseum Jever das Erdgeschoss, über dem sich eine Ferienwohnung befindet, von den Eigentümern anmieten. Hier ist eine Ausstellung über die ehemalige Synagoge und über die Geschichte der Juden aus Neustadtgödens untergebracht.
Die ehemalige Synagoge ist Bestandteil des Projekts „Erinnerungsorte im Landkreis Friesland“. Über diese Erinnerungsorte informiert das Internetportal www.erinnerungsorte-friesland.de.
Auf dem Horster Grashaus gibt es eine Gedenktafel, die an die Familie de Taube erinnert.
Weiterführende Literatur und Links
Peter Bahlmann, Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Wiederaufbau der Justiz und frühe NS-Prozesse im Oberlandesgerichtsbezirk Oldenburg. 4 Teile, in: Emder Jahrbuch 2011 -2014; online: http://oops.uni-oldenburg.de/1015/1/bahver08.pdf.
Enno Hegenscheid/Achim Knöfel, Die Juden in Neustadtgödens: Das Entstehen der Synagogengemeinde, ihr Leben und Wirken, der Aufstieg und Untergang, Neustadtgödens 1988 (Am Schwarzen Brack Nr. 5).
Hartmut Peters, Sande-Neustadtgödens: Die Synagoge von 1852 und die jüdische Gemeinde in der NS-Zeit, www.groeschlerhaus.eu
Robert de Taube, Mein Erlebnis während der Hitlerzeit von 1932-1945 von der Vertreibung als Pächter meines Vaters Samuel de Taube (Gutsbesitzer des Gutes Horster Grashaus bei Wilhelmshaven) bis zur Wiedererlangung und Kampf um das Gut Horster Grashaus, mschr., 37 S., 1977.