November­pogrome
Listenansicht aller Städte
1938 in Niedersachsen

Osnabrück

„Und wer sich naht mit platten Füßen,
mit Nase krumm und Haaren kraus,
darf nicht unseren Strand genießen,
der muss hinaus, der muss hinaus!“

Die ostfriesischen Inseln waren in der Weimarer Republik aufgrund ihrer Nähe ein beliebtes Urlaubsziel vieler Osnabrücker Jüdinnen und Juden. Während Norderney als sehr liberal und tolerant galt, grassierte auf Borkum der moderne Antisemitismus so offensichtlich wie an kaum einem anderen Ort. Die obige Strophe ist ein Ausschnitt aus dem sogenannten „Borkum-Lied“ des Kurpfarrers Ludwig Münchmeyer, das gegen Ende der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus eines der Standardlieder vieler Osnabrücker Schulkinder gewesen ist. Dazu stand in einer Osnabrücker Mittelschule 1927 exemplarisch „Gottes Strafgericht über das Judenvolk“ auf dem Lehrplan.

Im Spätmittelalter lebten die Osnabrücker Jüdinnen und Juden in der heutigen Marienstraße (damals Schweinestraße). Wie in anderen Städten des Heiligen Römischen Reiches oblag ihnen auch in Osnabrück der Verleih von Geld, da ihnen auf der einen Seite der Eintritt in die Zünfte verboten war, auf der anderen Seite Christen keine Zinsgeschäfte ausüben durften. Der christliche Antijudaismus mit seinen traditionellen Stereotypen der Brunnenvergiftung, des Hostienfrevels oder des „Wucherjuden“ kulminierte im Zuge der Schwarzen Pest um 1350 auch hier in einem Pogrom, in dem etliche Osnabrücker Jüdinnen und Juden ermordet worden sind. Durch einen Beschluss des Stadtrates durften in der Folge keine weiteren jüdischen Familien aufgenommen werden. So verringerte sich die Zahl der in Osnabrück lebenden Juden Schritt für Schritt, bis ein Erlass des Bischofs Johann von Diepholz vom 20. Oktober 1424 Jüdinnen und Juden der Aufenthalt in Osnabrück vollständig untersagte.

Erst gegen Anfang des 19. Jahrhunderts ist wieder jüdisches Leben in Osnabrück dokumentiert. Die neu entstandene jüdische Gemeinde blieb anlässlich der restriktiven Judengesetzgebung im Königreich Hannover, wie beispielsweise des Ausschlusses von allen Staats- und Gemeindeämtern, aber klein. Erst mit der formellen rechtlichen Gleichstellung im Norddeutschen Bund und kurz darauf im Deutschen Kaiserreich etablierte sich die jüdische Gemeinde zunehmend. Die Anzahl ihrer Mitglieder wuchs stark an, sodass die Gemeinde im Jahr 1880 aus nahezu 400 Mitgliedern bestand, was ungefähr 1,2 Prozent der gesamten Stadtbevölkerung entsprach. Während die absolute Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder im Jahr 1905 auf fast 500 Mitglieder stieg, nahm der relative Anteil von Jüdinnen und Juden in Osnabrück jedoch auf ca. 0,8 Prozent ab.

Aufgrund der immer größer werdenden Gemeinde reichten die bis zu diesem Zeitpunkt für den Gottesdienst benutzten Räume am Barfüßerkloster nicht mehr aus, weshalb sich die Gemeinde für den Bau einer neuen Synagoge entschloss. Die neue Synagoge, deren Baukosten 140.000 Reichsmark betrugen, wurde am 13. September 1906 eingeweiht. Sie stand in der Rolandstraße 3, hatte über 400 Sitzplätze und besaß neben einer großen, grünen Glaskuppel auch eine Orgel. Die Synagoge wurde seitdem zum Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Osnabrück. Der neue Friedhof der jüdischen Gemeinde befand sich ab 1876 vor dem Johannistor an der Magdalenenstraße.

Die jüdische Gemeinde Osnabrück galt als assimiliert, viele ihrer Mitglieder waren fest in das städtische Leben integriert. Simon Wertheim etwa war Bürgervorsteher im Rathaus, Sara Frank von 1914 bis 1920 ein Vorstand des „Vaterländischen Frauenvereins“ und Fritz Berend ab 1926 erster Kapellmeister des Stadttheaters. Parallel hierzu entwickelte sich auch ein intensives jüdisches Vereinsleben in Osnabrück. In erster Linie sind dabei Wohltätigkeitsvereine wie der „Chewra Kadischah“, der „Israelitische Frauenwohltätigkeitsverein“ und die Ortsgruppe des „Esra-Vereins“ zu nennen. Der erste zionistische Verein in Osnabrück entstand jedoch erst im Jahr 1926. Im Anschluss daran wurden auch Ortsgruppen der zionistischen Organisationen „Hechaluz“ und „Makkabi Hazair“ gegründet.

Trotz der hier beschriebenen Assimilierung und Integration in das Osnabrücker Stadtleben zu Zeiten der Weimarer Republik wäre es aber verkehrt, von einer vollkommenen Gleichstellung zu sprechen. Auch in der Weimarer Republik wurden jüdische Bürger weiterhin diskriminiert, es kam zu antisemitischen Übergriffen sowie Vereinsausschlüssen. Im Jahr 1927 schändeten Unbekannte die Synagoge und den jüdischen Friedhof; das Gasthaus „Germania“, dessen Besitzer Mitglied der NSDAP war, entwickelte sich zum zentralen Treffpunkt von Antisemiten. Zudem erschien am 28. April 1929 die erste Auflage des lokalen antisemitischen Hetzblattes „Stadtwächter“, der in den Hochzeiten eine Auflage von 20.000 Stück hatte (Osnabrück hatte zu diesem Zeitpunkt ca. 90.000 Einwohner). Bei den Reichstagswahlen 1930 lag der NSDAP-Stimmenanteil in Osnabrück mit 27,6 % deutlich über dem Reichsdurchschnitt von 18 %. Bei den folgenden Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 sowie am 6. November 1932 lag der Anteil mit 35,8 beziehungsweise 32,9 Prozent jeweils knapp unter dem Reichsdurchschnitt von 37 respektive 33 Prozent.

1933 zählte die jüdische Gemeinde Osnabrück noch 435 Mitglieder, die Anzahl sollte in der Folge aber deutlich sinken.

Wie in den anderen Städten des Deutschen Reiches verliefen die antisemitischen Aktionen in Osnabrück bis zu den Novemberpogromen nicht linear, sondern sprunghaft. Während der ersten Antisemitismus-Welle im Jahr 1933 wurden jüdische Kanzleien, Arztpraxen und über 40 Geschäfte boykottiert. Viele Juden wurden dabei für zwei Tage in „Schutzhaft“ genommen. Die Boykott-Aktionen begannen in Osnabrück bereits am 30. März, demzufolge bereits zwei Tage vor dem reichsweiten „Judenboykott“. Die SA fotografierte diejenigen, die dem Boykott-Aufruf nicht Folge leisteten. Die Fotos wurden im Schaufenster des Geschäftes der Firma Kolkmeyer in der Georgstraße aufgehängt.

Im Zuge des im September 1933 verabschiedeten Reichskulturkammergesetzes wurden viele Juden zudem aus dem öffentlichen Dienst entlassen, darunter der oben erwähnte Fritz Berend.  Zahlreiche weitere Einschränkungen und Verfolgungen folgten. Im November 1935 kam es zu den ersten Enteignungen jüdischer Geschäfte wie des Textilkaufhauses der Familie Alsberg und des Haushaltswarengeschäftes Wertheim. Die bis dato größte jüdische Firma, die Wild- und Geflügelhandlung von Julius Cantor, wurde im Mai 1936 „arisiert“.

In der Folge der Enteignungen und der antisemitischen Propaganda verließen bis zu den Novemberpogromen 1938 mehr als 200 Jüdinnen und Juden Osnabrück, sodass am 26. Oktober 1938 nur noch 182 Gemeindemitglieder in Osnabrück lebten.

Am Abend des 9. November 1938 wurden neue SS-Mitglieder auf dem Marktplatz vereidigt, während die SA eine Feier anlässlich des 15. Jahrestages des Hitler-Ludendorff-Putschversuches in der unweit entfernten Stadthalle abhielt. Im Kontext des Todes von Ernst von Rath und einer Rede von Joseph Goebbels in München, in der er die Zerstörung jüdischer Geschäfte und Synagogen forderte, ging um 23.55 Uhr ein Schreiben der Gestapo Berlin in Osnabrück ein. Hierin wurden „spontane Aktionen“ gegen Juden befohlen. Die SA, die in dieser Nacht die Befehlsgewalt innehatte, wurde in der Stadthalle und in ihren Sturmlokalen informiert und zum Marktplatz geschickt. Um 0.30 Uhr sammelten sich 200 bis 300 SA-Angehörige auf dem Marktplatz. Neben der SA wurden auch dem BDM und der HJ befohlen, an den Pogromen teilzunehmen. Außerdem waren Parteimitglieder der NSDAP sowie die SS an den Ausschreitungen beteiligt, die genauso wie die SA, der BDM und die HJ in zivil auftreten sollten. Hintergrund war die gewollte Darstellung eines „spontanen Volkszornes“.

Gegen 1 Uhr nachts erschien eine Gruppe höher gestellter SA-Mitglieder auf dem Marktplatz und erörterte das geplante Vorgehen. Die SA-Männer wurden aufgeteilt: Während sich der eine Teil auf den Weg zur Synagoge in der Rolandstraße machte, fuhren die Übrigen in Kleingruppen à drei bis zehn Personen zu den Wohnungen der noch in Osnabrück lebenden Jüdinnen und Juden.

An der Synagoge angekommen, steckten die SA-Leute diese in Brand, nachdem sie Torarollen und andere Utensilien für den Gottesdienst auf die Straße geworfen haben. Da sich sowohl die Ordnungspolizei als auch die Feuerwehr zurückhalten sollten, wurde nichts gegen den Brand unternommen. Einzig das benachbarte Gebäude der Bezirksregierung wurde mit Wasser besprüht, weil sich die Akten aufgrund des Brandes der Synagoge erhitzten. Im Laufe der Nacht auf den 10. November wurde außerdem der Friedhof in der Magdalenenstraße geschändet.

Durch die Brandlegung oder andere Aktionen geweckt, sammelten sich viele Menschen auf den Straßen rund um die Synagoge: Augenzeugen berichteten, sie hätten die Straßen noch nie so voll gesehen wie in dieser Nacht. Unter den Schaulustigen herrschte teils Schweigen, teils war aber auch laute Zustimmung zu hören. Aktiver Widerspruch blieb aus.

Am nächsten Morgen führten Lehrer ihre Schulklassen zur rußgeschwärzten Synagoge, die immer noch qualmte.  Am selben Tag wurde von Oberbürgermeister Gaertner der Abriss der Synagoge aus „baupolizeilichen Gründen“ angeordnet; im Februar 1939 wurde sie gesprengt.

Während die Synagoge in Flammen stand und die Osnabrücker Zivilgesellschaft in williger Mittäterschaft agierte oder tatenlos zusah, drangsalierte die zweite Gruppe der SA-Männer Jüdinnen und Juden an ihren Wohnorten: Die Wohnungstüren wurden eingeschlagen, jüdische Männer im Bett mit Gummiknüppeln verprügelt sowie, oft nur mit Unterhose bekleidet, aus den Häusern in die eiskalte Nacht getrieben. Auf der Straße setzten sich die Misshandlungen fort, bis die jüdischen Männer mit Hilfe der Gestapo in Lastwagen gezerrt und direkt zur Gestapo-Stelle in das Osnabrücker Schloss gebracht wurden. Juden, die in der Osnabrücker Innenstadt lebten, wurden unter Tritten und Schlägen von der SA, meist an der brennenden Synagoge vorbei, zum Schloss geführt. Die Opfer berichteten später von Steinwürfen auf sie und Rufen, sie sollten an der nächsten Laterne aufgehängt werden. Insgesamt wurden 80 bis 90 Männer und einige Frauen in der Nacht verhaftet, alle Männer über 55 Jahren und die verhafteten Frauen wurden am nächsten Morgen  wieder freigelassen. NS-Funktionäre sperrten zudem Jüdinnen, deren Wohnungen zentral lagen, in der verwüsteten Wohnung der Familie Flatauer in der Herderstraße ein, die währenddessen ebenso mit Steinen beworfen worden ist. Auch sie durften das Haus morgens wieder verlassen.

Auch die noch existierenden jüdischen Geschäfte in Osnabrück wurden Ziel der antisemitischen Gewaltexzesse der Nacht, die meisten waren am Tag darauf verwüstet oder zerstört. Das auffindbare Geld wurde beschlagnahmt, alle unbeschädigten Waren eingesammelt und zu Sammelstellen transportiert. So plünderte die SA beispielsweise das Warenlager des Textilgeschäfts „Samson David“ an der Ecke Krahnstraße/ Hegerstraße, dessen Waren anschließend zu einem Preis von insgesamt 77.000 Reichsmark zwangsweise verkauft werden mussten. Analog zu anderen Zwangsverkäufen stellte der „erzielte“ Preis auch hier nur einen Bruchteil des eigentlichen Werts dar.

Reichskristallnacht

Die ausgebrannte Synagoge in der Osnabrücker Rolandstraße am 10. November 1938. Medienzentrum Osnabrück, Sammlung Ordelheide

Die meisten verhafteten Osnabrücker Juden wurden anschließend in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Es fanden zwei bis drei Transporte mit je 20 bis 30 Personen statt; im ersten Transport am 11. November 1938 befanden sich 31 Juden aus Osnabrück. Im Gegensatz dazu wurden Adolf Cohen, Philipp Münz und Bruno Hermanns in das Konzentrationslager Sachsenhausen-Oranienburg verschleppt, vermutlich weil sie in  „Misch-Ehen“ lebten.

In den Konzentrationslagern setzten sich die in der „Reichskristallnacht“ erlittenen Demütigungen und Misshandlungen weiter fort, in deren Folgen der 33-jährige Julius Silbermann in Buchenwald starb. Die große Mehrheit kam erst nach mehr als drei Monaten wieder frei. Einzig Personen, die wie Siegfried Katzmann, Adolf Nieporent oder Max Gottschalk Auswanderungspapiere besaßen respektive Anträge gestellt hatten oder aber als deutsche Soldaten im 1. Weltkrieg gekämpft hatten, wurden früher aus den Konzentrationslagern entlassen.

Nach der Ankunft in Osnabrück bemühten sich viele Jüdinnen und Juden um eine Auswanderung. Anlässlich der Zerstörung ihrer wirtschaftlichen Existenz fehlte ihnen oftmals aber schlichtweg das nötige Geld, weswegen nur einigen die Flucht in die Niederlande, das damalige britische Mandatsgebiet Palästina, in die Vereinigten Staaten oder nach Großbritannien gelang. Die noch in Osnabrück lebenden Jüdinnen und Juden mussten wie in anderen Städten in „Judenhäuser“ umziehen und fortan die Vornamen „Sara“ und „Israel“ annehmen. Das größte „Judenhaus“ in Osnabrück befand sich in der Kommenderiestraße 11.

Mit dem Anschein einer Umsiedlung wurden im November 1941 mehrere Osnabrücker Jüdinnen und Juden benachrichtigt, bald nach Riga „umzuziehen“. Am 13. Dezember 1941 wurden sie mit weiteren Jüdinnen und Juden aus den Gestapobezirken Münster und Bielefeld nach Riga deportiert, insgesamt waren es 1.500 Leute. Diese Deportation überlebten nur fünf Jüdinnen und Juden aus Osnabrück. 28 weitere Jüdinnen und Juden wurden im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert, von denen niemand überleben konnte. Im März 1943 wurden sieben weitere Osnabrücker Jüdinnen und Juden, unter ihnen der letzte Gemeindevorsitzende Hermann Heymann, nach Auschwitz deportiert, einzig Frieda Höchster überlebte das größte deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager.

Die zwischenzeitlich innerhalb des Deutschen Reiches umgezogenen oder in die Niederlande emigrierten und dort verhafteten Jüdinnen und Juden mit eingerechnet, wurden  insgesamt 150 Osnabrücker Jüdinnen und Juden während der Zeit des Nationalsozialismus ermordet.

Hermann Heymann wurde am 2. Februar 1894 am Markt 18/19 in der Osnabrücker Altstadt geboren. Er betrieb gemeinsam mit seiner Mutter Pauline Heymann sowie Gustav Hirtz das Kaufhaus „L.Heymann“, das sich ebenfalls am Markt befand. Infolge des Zwangsverkaufes des Geschäftes und des erzwungenen Auszuges aus der gemeinsamen Wohnung nahm sich seine Frau Berta Heymann 1938 das Leben. Wie die anderen Juden aus Osnabrück wurde auch Hermann Heymann in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 verhaftet und nach Buchenwald deportiert, von wo er erst im April 1939 wieder entlassen wurde. Zusammen mit seinen Eltern, seiner neuen Frau Marie sowie ihren Eltern musste er im April 1941 in das „Judenhaus“ in der Kommenderiestraße 11 ziehen. Von 1940 bis zu seiner Deportation 1943 nach Auschwitz war Hermann Heymann der letzte Vorsteher der jüdischen Gemeinde Osnabrück. Marie und Hermann Heymann wurden nach dem Krieg für tot erklärt.

Max Gottschalk wurde am 18. Oktober 1904 als dritter Sohn von Frieda und Moses Abraham Gottschalk in Osnabrück geboren, Ruth Voss zehn Jahre später im Jahre 1915 in Wilhelmshaven. Max stieg später in das Viehhandelsgeschäft seines Vaters ein.

Kurz nachdem Ruth Voss im Jahre 1936 zur Unterstützung ihrer Großeltern aus Wilhelmshaven nach Osnabrück in den Kamp 16 gezogen war, lernten sich beide kennen. Zwei Jahre später verstarb  Ruths Großmutter und ihr Großvater wanderte in die Niederlande aus, woraufhin sich Ruth Voss und Max Gottschalk auch angesichts der sich immer weiter verstärkenden antisemitischen Gesetzgebung entschlossen auszuwandern. Glücklicherweise wohnte ein Großonkel von Ruth Voss in New Jersey, der für die seit dem 26. August 1938 verheirateten Ruth und Max Gottschalk sowie für Ruths Schwester Lore Einwanderungspapiere besorgen konnte. Nach einem Termin am 7. November 1938 im amerikanischen Konsulat in Hamburg reiste Max Gottschalk am 9. November kurzfristig nach Osnabrück, mit dem Ziel, sich von seinen Eltern zu verabschieden. In der Nacht wurde er mit seinen zwei Brüdern und seinem Vater, der in die kalte Haase geworfen worden war, im Haus seiner Eltern verhaftet, misshandelt und am 11. November nach Buchenwald deportiert. Einzig Max‘ Vater Moses Abraham wurde aufgrund seines Alters nicht nach Buchenwald gebracht.

Während Max in Buchenwald inhaftiert war, reiste Ruth Gottschalk am 12. November nach Osnabrück. Nachdem sie die ersten beiden Tage nichts über den Verbleib ihres Mannes erfahren konnte, wurde sie am Montag, den 14. November 1938, in der Zentrale der Gestapo im Osnabrücker Schloss verhört. Da sie die geforderten Papiere vom Finanzamt und der Bank vorzeigen sowie nachweisen konnte, dass Max Gottschalk Auswanderungspapiere besaß, wurde er gegen zusätzliches Bargeld noch am gleichen Tag aus Buchenwald entlassen. Auch seine Brüder Emil und Siegfried wurden aufgrund ihrer Teilnahme am 1. Weltkrieg bereits nach wenigen Wochen wieder freigelassen. Ruth reiste sofort nach Weimar, wo sie sich mit Max Gottschalk traf und beide nach Hamburg zu Ruths Eltern weiterreisen konnten. Anfang Dezember 1938 konnten Max und Ruth Gottschalk sowie Lore Voss von den Niederlanden aus in die Vereinigten Staaten emigrieren, zwei Jahre später folgte Siegfried Gottschalk. Emil Gottschalk wurde im Zuge des ersten Transportes aus Osnabrück im Dezember 1941 nach Riga deportiert und nach Kriegsende „für tot erklärt“, Frieda und Moses Abraham Gottschalk wurden im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet.

Erwin Kolkmeyer wurde 1899 geboren und besaß in der Georgstraße ein Uhrengeschäft. Er trat im Jahr 1929 der NSDAP bei, war bis 1931 Mitglied der SA sowie kurzzeitig in der SS tätig. Zwischen 1934 und 1945 war Kolkmeyer NSDAP-Ortsgruppenleiter der Altstadt sowie ab 1937 Mitglied des Rates der Stadt Osnabrück. Neben diesen Tätigkeiten war Kolkmeyer aufgrund seiner – im Vergleich zu anderen Parteifunktionären und Bewohnern der Stadt – noch aktiver praktizierten Verfolgung von Jüdinnen und Juden berüchtigt: Fotos von Personen, die trotz des Boykott-Aufrufes in jüdischen Läden einkauften, wurden in einem Schaufenster seines Geschäftes ausgestellt; ein schon 1935 ausgewanderter Jude stellte fest, „dass er der größte Nazi war in Osnabrück“. Nachdem Kolkmeyer in der Nacht auf den 10. November 1938 sowohl auf dem Marktplatz als auch bei den späteren Ausschreitungen in Zivilkleidung gesehen wurde, winkte er am nächsten Vormittag aus der Synagoge kommend den anwesenden Schulklassen zu.

Noch bevor die anrückende britische Armee Osnabrück erreichte, verließ Kolkmeyer die Stadt und konnte untertauchen. Erst 1947 wurde er in Heilbronn gefasst und verhaftet. Während der Untersuchungshaft versuchte Kolkmeyer einem Bericht der Osnabrücker Kriegschronik zufolge Selbstmord zu begehen, was jedoch scheiterte. Im Anschluss des Prozesses wegen seiner Stellung als NSDAP-Ortsgruppenleiter wurde er vom Schwurgericht Recklinghausen im Mai 1948 zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt.

Nationalsozialisten

Erwin Kolkmeyer (schwarze Uniform) bei einer Parade der SA, Datum unbekannt. Medienzentrum Osnabrück, Sammlung Ordelheide

Im Dezember 1949 fand in Osnabrück der „Synagogenbrandprozess“ statt, in dem insgesamt neun Personen angeklagt wurden, für die Brandstiftung und Zerstörung der Synagoge, die Plünderungen am nächsten Tag sowie für die Verhaftungen der Osnabrücker Juden maßgeblich verantwortlich zu sein. Unter ihnen waren neben dem ehemaligen Kreisleiter Wilhelm Münzer und dem ehemaligen Polizeidezernenten Rudolf Arnoldi auch Erwin Kolkmeyer, dessen Beteiligung an den Novemberpogromen von mehreren Zeugen bestätigt wurde. Im Verlaufe des Prozesses argumentierte dieser wie folgt: „Ich war erschüttert von dieser Tat, schließlich war es doch eine Kirche“. Seine Anwesenheit im Inneren der Synagoge begründete er damit, er habe „die auf einer goldenen Tafel angebrachten 10 Gebote“ betrachten wollen.

Der Prozess war geprägt von sich zurückhaltenden Zeugen, die nachweislich per Post und Telefon bedroht worden sind, weswegen das Gericht nur wenige Anklagepunkte nachweisen konnte. Schließlich wurde der Kreisleiter Wilhelm Münzer freigesprochen, Rudolf Arnoldi zu neun und Erwin Kolkmeyer zu zehn Monaten Haft verurteilt. Die weiteren Angeklagten, namentlich der ehemalige SA-Scharführer Heinz Kellermann, der ehemalige Leiter der SD-Außenstelle Walter Meyer, der ehemalige SA-Truppführer Heinz Knopf und Karl Wachsmann, der die Deportation nach Buchenwald geleitet hatte, wurden ebenfalls zu kurzen Haftstrafen zwischen vier und zehn Monaten verurteilt. Zwei weitere ehemalige SA-Männer mussten für drei Monate ins Gefängnis.

Nach dem 2. Weltkrieg entstand bereits im Jahr 1945 wieder eine Synagogengemeinde, die von Ewald Aul mitbegründet wurde. Ewald Aul war einer von fünf überlebenden Osnabrücker Juden und später 25 Jahre lang Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Die Gemeinde erhielt im September 1945 einen Hetzbrief, der einen Ausschnitt des „Borkumliedes“ beinhaltete. Kurz darauf wurden die Fenster der ehemaligen jüdischen Schule, die übergangsweise als Synagoge benutzt worden war, durch Steine eingeschlagen. Am 17. Dezember 1945 wurden neu-aufgestellte jüdische Grabsteine umgeworfen und beschädigt. Die jüdische Gemeinde Osnabrück entschloss sich Ende der 1960er Jahre, eine neue Synagoge und ein neues Gemeindehaus „In der Barlage“ im Stadtteil Weststadt zu errichten, wo sich die jüdische Gemeinde bis heute befindet. Zu diesem Zeitpunkt hatte die jüdische Gemeinde 64 Mitglieder. Ende des 20. Jahrhunderts vergrößerte sich die Gemeinde aufgrund vermehrter jüdischer Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion rapide, sodass die Gemeinde heute mehr als 1000 Mitglieder zählt.

Bis in die 1990er Jahre fand ein öffentliches Gedenken an die Opfer der Novemberpogrome in nur sehr begrenztem Umfang statt – wie in anderen deutschen Kommunen auch. 1980 wurden in zwei Metern Höhe drei kleine Gedenktafeln an der Seitenwand des Gebäudes der ehemaligen Bezirksregierung angebracht worden, wobei die mittlere Tafel die ehemalige Synagoge darstellt. Ein Abschnitt der Rolandstraße wurde zudem in die Alte-Synagogen-Straße umbenannt. Seit 2004 erinnert zusätzlich ein Mahnmal an die ehemalige Synagoge, auf deren Gelände sich heute ein Parkplatz befindet. Das Mahnmal wurde von der Stadt Osnabrück unter Mitwirken mehrerer Initiativen geplant und errichtet. Auf vier Tafeln werden die Ereignisse im November 1938 geschildert und kontextualisiert. Des Weiteren wurde eine zusätzliche Tafel an der Seitenwand des Gebäudes der ehemaligen Bezirksregierung angebracht, die die Gedenktafeln von 1980 kritisch beleuchtet.

Im Rahmen einer zentralen Gedenkveranstaltung wird jährlich auf Initiative des Büros für Friedenskultur der Stadt Osnabrück an die Novemberpogrome 1938 erinnert. Seit 2001 werden die Gedenkfeiern von unterschiedlichen Osnabrücker Schulen ausgerichtet. Im selben Jahr wurde am 9. November die „Gedenkstätte Gestapokeller“ im Osnabrücker Schloss eröffnet, die neben der Dauerausstellung auch immer wieder Sonderausstellungen zu verschiedensten Themen rund um den Nationalsozialismus und den Holocaust beherbergt.

Die Gedenkstätte Gestapokeller im Osnabrücker Schloss, 2018. Foto: Paul Kreimeyer

Darüber hinaus werden in Osnabrück seit dem 15. November 2007 Stolpersteine verlegt, die an Bürgerinnen und Bürger erinnern, welche im Nationalsozialismus aus ideologischen Motiven ermordet worden sind.

 

Erinnerungskultur

Drei Gedenktafeln aus dem Jahr 1980 an der Seitenwand der heutigen Polizeidirektion Osnabrück in der Alten-Synagogen-Straße, 2018. Foto: Paul Kreimeyer

Abendgymnasium Osnabrück (Hg.), Die Novemberpogrome 1938 in Osnabrück. Brandstiftung. Plünderung. Verfolgung, Bohmte 2002.

Avraham, Tamar / Fraenkel, Daniel, Osnabrück, in: Herbert Obenaus (Hg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Band 2, Göttingen 2005, S. 1196 – 1220.

Gander, Michael, Günstige Geschäfte. Interessen am Osnabrücker Synagogengrundstück. Gestapo, Oberbürgermeister und Regierungspräsident, in:  Heese, Thorsten (Hg.), Topografien des Terrors. Nationalsozialismus in Osnabrück, Bramsche 2015, S. 278 – 287.

Junk, Peter/ Sellmeyer, Martina, Stationen auf dem Weg nach Auschwitz. Entrechtung, Vertreibung, Vernichtung. Juden in Osnabrück 1900 – 1945, Bramsche 1989.

Kühling, Karl, Osnabrück 1933 – 1945. Stadt im Dritten Reich, Osnabrück 1980.

Sellmeyer, Martina, „Man hat immer Angst gehabt…“. Die Vernichtung der jüdischen Gemeinde, in:  Heese, Thorsten (Hg.), Topografien des Terrors. Nationalsozialismus in Osnabrück, Bramsche 2015, S. 266 – 277.

Weitkamp, Sebastian, Osnabrücker, Uhrmacher, Nationalsozialist. Ortsgruppenleiter Erwin Kolkmeyer, in: Heese, Thorsten (Hg.), Topografien des Terrors. Nationalsozialismus in Osnabrück, Bramsche 2015, S. 396 – 411.

Stadt Osnabrück: Stolpersteine in Osnabrück

Stadt Osnabrück: Veranstaltungen zum 9. November 2018