Salzhemmendorf
Vorgeschichte
Erste Nachrichten über Juden in Salzhemmendorf gehen auf das 17. Jahrhundert zurück. Im 19. Jahrhundert lebten durchschnittlich fünf bis sechs Familien am Ort, davon waren drei bis vier im Besitz eines Hauses. Die Gemeinde verfügte über ein Synagogengebäude, das zugleich als Schule und Lehrerwohnung diente.
Als wegen der starken Landflucht die Schule 1903 geschlossen wurde und die Lehrerwohnung leer stand, mietete die Familie des Schlachters Davidsohn – die letzte in Salzhemmendorf verbliebene jüdische Familie – das Synagogengebäude. Gottesdienst wurde weiter gehalten; aber nebenan wurde unter der Woche Fleisch verkauft.
Robert Davidsohn übernahm nach seiner Entlassung aus dem Heer 1919 die Schlachterei und den Viehhandel des Vaters. Zeitzeugen beschreiben ihn als typischen „Landjuden“: Er schlachtete vor allem Ziegen und Schweine, zog über Land in die benachbarten Dörfer, das Zugseil der Ziegen um den Bauch gebunden, kaufte und verkaufte. Alles sei recht bescheiden zugegangen. Robert wird als klein, gesetzt und von breiter Figur beschrieben. Er sei beliebt, ein „feiner Kerl“ und im Dorf integriert gewesen. 1930 baute er auf dem Hof des Grundstücks ein modernes Schlachthaus.
Erich, das einzige Kind der Eheleute, wurde 1922 in Hannover geboren. Außerdem lebte seit 1927 die Tochter von Elfriede Davidsohns Schwester, Juliane Guttmann, im Haushalt, die zwei Jahre jünger als Erich war.
Seit 1935 bemühten sich Davidsohns um die Auswanderung. Robert plante eine Ansiedlung als Landwirt in Argentinien. Um dafür eine Zulassung zu bekommen, musste die Familie spezielle Kenntnisse nachweisen. Ihren Sohn schickten die Eltern deswegen für drei Monate auf ein Hachschara-Lager in Schlesien.
1913 zog die Familie Heilbronn aus dem nahen Wallensen zu. Die Familie war wohlhabend und gesellschaftlich integriert („Sie hatten guten Verkehr, alles nur mit der Obrigkeit“). Sohn Moritz war Mitglied im Salzhemmendorfer Männergesangsverein „Harmonia“.
1922 kauften Vater Carl und Sohn Moritz Heilbronn ein fast 2000 qm großes Grundstück und errichteten darauf ein stattliches Wohn- und Geschäftshaus. Wegen der beginnenden Industrialisierung in Salzhemmendorf konnte sich das Manufakturwarengeschäft gut entwickeln.
Moritz fuhr auch mit dem Auto über Land, um Kunden in ihren Häusern aufzusuchen. Umsatzeinbußen durch die Boykotte versuchte er durch vermehrte Direktverkäufe zu kompensieren.
1935 starb Moritz im Stadtkrankenhaus in Hannover an akutem Herztod. Laut Aussage seiner Witwe Gertrud „… überstand (er) nicht die Verfolgung der damaligen Regierung mit den damit verbundenen Nöten und Sorgen“. Auch Zeitzeugen betonen, er sei aus Gram wegen der Vernichtung seines Geschäftes gestorben.
Gertrud Heilbronn versuchte nach dem Tod ihres Mannes vergeblich, das Geschäft weiter zu führen. 1937 ordnete das Amtsgericht Lauenstein die Zwangsversteigerung an. Die Kreissparkasse ersteigerte das Grundstück für 24.000 RM. Gertrud Heilbronn zog anschließend zu ihrer Mutter nach Clausthal-Zellerfeld.
Die Ereignisse im November 1938
Am 12. Oktober 1938 schlossen die Behörden das Geschäft von Robert Davidsohn. Am 10. November 1938 um 5 oder 6 Uhr morgens zerschlug SA die Fensterscheiben des Synagogenraumes und zertrümmerte die Inneneinrichtung. Nach Aussagen von Zeitzeugen waren örtliche SA-Männer die Täter; andere nennen die SS aus Lauenstein.
Robert Davidsohn wurde am folgenden Tage zusammen mit dem 16-jährigen Erich zuerst in das Zuchthaus Hameln und dann in das KZ Buchenwald verschleppt. Robert erhielt im KZ zahlreiche Schläge auf den Kopf und Tritte in die Leisten und beklagte später einen doppelten Leistenbruch und Hörschäden.
Weil sie sich im Ort „stark angefeindet“ fühlte, ging Elfriede Davidsohn mit der 14-jährigen Adoptivtochter Juliane nach Hannover zu ihrer Schwester. Eine befreundete Familie brachte die beiden zum Bahnhof nach Voldagsen.
Der Friedhof, ein langgezogener, von einer Hecke umgebener Geländestreifen am südöstlichen Ortsrande, wurde ebenfalls am 9. November 1938 zerstört.
Folgen
Wegen eines Zahlungsbefehls des Landwirts Heinrich Schäfer, dem Robert 1.000 RM schuldete, verschaffte sich Bürgermeister Heinrich Eickhoff in der Zeit der Abwesenheit der Familie Davidsohn Zugang zum Haus. Teile der Fleischerei ließ er pfänden und anschließend versteigern. Nach Aussagen von Elfriede Davidson wurden aber auch Teile ihrer Aussteuer gepfändet. Ob es darüber hinaus – wie Davidsohns glaubten – einen Einbruch und eine Plünderung der Einrichtung gegeben hat, wird sich nicht mehr klären lassen.
Das Haus verkaufte Elfriede Davidsohn als Bevollmächtigte der israelitischen Gemeinde an den Landwirt Konrad Mäkeler. Der Synagogenraum soll ihm als Schweinestall gedient haben. Aus dem Holz der zerschlagenen Synagogenbänke hätten Mäkelers eine neue Bank gebaut, die sie „Judenbank“ nannten.
Robert Davidsohn wurde am 12. oder 13. Dezember 1938 – eine Woche nach seinem Sohn – aus dem KZ Buchenwald entlassen. Die Familie zog nach Hannover zur Schwester von Elfriede Davidsohn. Einige Möbel und Kleidung hatte sie aus Salzhemmendorf mitnehmen können.
Beide Männer mussten Zwangsarbeit leisten. Robert intensivierte nun seine Bemühungen um Auswanderung. Am 16. Juni 1939 – wenige Wochen vor Hitlers Überfall auf Polen – schifften sich Robert und Elfriede Davidsohn sowie Juliane Guttmann in Hamburg zur Fahrt nach Buenos Aires ein. Im Gepäck führten sie die wertvolle Thorarolle der Salzhemmendorfer Synagoge mit. In Argentinien erhielten Davidsohns ein Stück unbestelltes Land mit einem Wohnhaus sowie ein Pferd und eine Kuh. Die Anfänge waren hart.
Gertrud Heilbronn gelang sehr spät die Ausreise. Anfang Mai 1941 fuhr sie per Bahn von Berlin nach Lissabon. Dort musste sie zwei Wochen warten. Da das Schiff wegen des Krieges eine andere Route einschlagen musste, dauerte die Fahrt mit der portugiesischen „Guinèe“ von Lissabon nach New York drei Wochen. Am 21. April 1941 erreichte sie schließlich New York.
Biografie - Erich Davidsohn
Dass Erich Davidsohn als Jude in Deutschland unerwünscht war, bekam er zu spüren, als er Ostern 1935 eine Lehrstelle suchte. Er schreibt:
„Ich war auf einige Wochen bei einem Baumeister in Salzhemmendorf, aber es wurde Druck auf ihn ausgeübt, mich zu entlassen.Da ich keine Auswahl hatte, ging ich in die Lehre bei meinem Vater […] . Diese Ausbildung dauerte aber nicht lange, denn im Jahr 1938 wurde das Geschäft geschlossen.“
Die Kreisberufsschule schloss Erich 1936 vom Besuch aus. Dafür war eigens die Satzung der Schule geändert worden. Der § 1 Ziffer 1 der Kreisberufsschulsatzung erhielt 1936 den Wortlaut:
„Zum Besuche der für den Bezirk des Kreises Hameln-Pyrmont errichteten Berufsschulen sind verpflichtet: Alle […] reichsangehörigen Jugendlichen deutschen oder artverwandten Blutes […] unter 18 Jahren. Hameln, den 11. September 1936, Lambert. Landrat.“
In Erichs Erinnerungen liest sich der Ablauf der Ereignisse des 9. November folgendermaßen:
„On the morning […] at approx. 6 am about 4 men in brown SA-uniforms and the local policeman came into the synagogue and the 4 men smashed the benches and threw the books about – but didn’t touch the Ark or the curtain in front of it [= den Thoraschrein]. The policeman stood by, but did not touch anything. The big fellows didn’t have much trouble breaking the benches which were old and fragile.
[…] Nothing else in the house was touched and my parents thought that this was because of the policeman’s influence, who told us to stay indoors.“
Über den Aufenthalt im KZ Buchenwald schreibt er:
„We were separated in our own compound which consisted of 5 huge huts each accommodating 2000 men. In the huts was a shelving system for use as beds, into which we crawled – about 8 shelves [= Regal] each about 27 inches high and we could not sit up in them. […]
The first food was brought the next morning. It consisted of one army loaf [= Laib Brot] between 6 to 8 of us and one cup of liquid which was called coffee. Lunchtime we got some sort of broth [= Brühe] which was made from either fish or meat. Those who were very frum were told by the Rabbi’s to eat whatever was given – some did and some only ate the breads. […]
During the day we had to leave the huts and either stand in line and not move or sit all day cross-legged and not move – a very subtle living torture. There were daily beatings whenever guards felt like it. Bloody heads were common. Lots of men, in particular the older ones, died under those conditions. There were quite a few doctors and they did what they could. In fact, they did an appendix operation and the man survived! There were too many incidents to recall. Of course, we saw lots of men dying. There were gruesome incidents which I don’t want to recall here.“
Möglicherweise wegen seines jugendlichen Alters konnte Erich das KZ Buchenwald verhältnismäßig früh verlassen. Seine Entlassung schildert Erich folgendermaßen:
„After the first week names were called and releases started. On the morning of 6 December my name was called. You had to rush to the gate or miss being released. A quick farewell with my father and I was away. We had to stand in line near the offices all day and not move. No food was given and, worst of all, we couldn’t go to the toilet. We were then given money for the rail fare and were bussed to the station. Several of us got on the train direct to Hanover and we arrived in the middle of the night. The other people on the train kept well away from us, possibly because they knew who we were and where we had been. And, of course, we were very dirty and literally stank. […]
My mother had gone to the local Gestapo every day asking for my father’s and my release. After the welcoming was over I had a little food and drink. The dirty clothes came off and into a bath and some sleep. Next day we had to report to the Gestapo and my mother and I had to sign that I was hale [= gesund] and hearty.“
Überraschend gelang Erich am 6. Februar 1939 die Auswanderung nach England. Seine Mutter hatte ihn, während er im KZ Buchenwald einsaß, dafür angemeldet.
Nach der Landung in Harwich kam Erich in das Kitchener Camp. Das Arbeitsamt vermittelte ihn als Landarbeiter und er musste gegen Kost und Logis arbeiten. Nur unregelmäßig erreichten ihn Briefe seiner Eltern aus Argentinien. Er hat sie nie wieder gesehen.
Justizielle Ahndung
Vor dem Wiedergutmachungsgericht beim Landgericht Hannover kam es 1950 bis 1953 zu einem gerichtlichen Verfahren „Heilbronn gegen Kreissparkasse Hameln“. Die Jewish Trust Corporation hatte einen Rückerstattungsanspruch angemeldet. Der Ausgang des Verfahrens war nicht in Erfahrung zu bringen. Die Kreissparkasse durfte das Haus behalten.
Auch Davidsohns versuchten, Entschädigungsleistungen zu bekommen. In den mehrere Jahre dauernden Auseinandersetzungen betonte die Gemeinde Salzhemmendorf, die als Zeugin gehört wurde, beharrlich, Roberts Laden sei klein und „primitiv“ gewesen. Bis 1930 habe er nur mit Schrott, Ziegen und Ziegenlämmern gehandelt. Danach habe er höchstens ein Schwein pro Woche und ein Großtier alle sechs Wochen geschlachtet. Die Schäden des 9. November 1938 hätten sich auf den Synagogenraum beschränkt, und bei der Zwangsvollstreckung seien nur Fleischereigegenstände, nicht aber Privateigentum versteigert worden.
Es will aus heutiger Sicht nicht einleuchten, warum es Davidsohns von der Gemeinde Salzhemmendorf so schwer gemacht wurde, wenigstens die materiellen Schäden, die sie erlitten hatten, erstattet zu bekommen.
Die Wiedergutmachungskammer erkannte schließlich auf eine einmalige Zahlung an Robert in Höhe von 4.222,80 DM für „Schäden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen“. Seit 1956 erhielt Robert außerdem eine Rente in Höhe von monatlich 270 DM.
Spuren und Gedenken
Nach 1945 wurden 17 Steine des Friedhofs, die sich erhalten hatten, wieder aufgestellt. 1955 wurden sie erneut umgekippt. Seitdem sind sie in Beton eingegossen, was in mehreren Fällen dazu geführt hat, dass Teile der Inschriften nicht mehr lesbar sind. Leere Grabfelder, aber auch sonstige Lücken weisen darauf hin, dass nicht wenige Steine vom ursprünglichen Bestand fehlen.
Heute ist der Friedhof im Besitz des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen. Mit seinem vergleichsweise reichen Bestand an Steinen ist er einer der wertvollsten Zeugnisse der jüdischen Friedhofskultur im Landkreis Hameln-Pyrmont.
Im Jahre 2009 verabredete die Gemeinde Salzhemmendorf mit Bernhard Gelderblom Recherchen zum jüdischen Leben in den Gemeinden des Fleckens Salzhemmendorf. In jedem Ort des Fleckens, in dem es jüdisches Leben gegeben hatte, also in Duingen, Wallensen, Lauenstein und in Salzhemmendorf, sollte Gelderblom einen Vortrag halten. Die Gemeinde wollte ihrerseits die Einwohnermeldelisten und die Standesamtsunterlagen durchsehen und eine Publikation bezuschussen.
Über seine Ergebnisse für Salzhemmendorf berichtete Bernhard Gelderblom am 9. April 2010 in einem Vortrag. Das war der Start für eine reflektierte Erinnerungskultur im Ort.
Als erstes wurde eine Tafel am Rathaus angebracht, die daran erinnert, dass die jüdische Familie Heilbronn das Haus erbaut und als Kaufhaus genutzt hat. Im Wege eines Grundstückstausches war das Haus 1966 von Kreissparkasse an den Landkreis Hameln-Pyrmont gekommen und anschließend an den Flecken verkauft worden. Seitdem wurde es als Rathaus genutzt.
Eine Informationstafel am jüdischen Friedhof wurde am 15. Juni 2012 unter reger Beteiligung der örtlichen Schule eingeweiht. Die Gemeinde Salzhemmendorf erklärte sich zur Pflege des Friedhofs bereit.
Im Jahre 2013 wurde die Publikation von Bernhard Gelderblom „Die Juden in den Dörfern des Fleckens Salzhemmendorf“ in Salzhemmendorf vorgestellt.
Die Gedenktafel für die ehemalige Synagoge wurde am 23. Januar 2015 vor dem Haus in der Kampstraße eingeweiht.
Am 19. April 2016 legte Gunter Demnig in Erinnerung an die Familien Heilbronn und Davidsohn Stolpersteine. Zer Verlegung waren Angehörige der Familie Davidsohn aus Großbritannien nach Salzhemmendorf gekommen.
Weiterführende Literatur und Links
Gelderblom, Bernhard, Salzhemmendorf, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bde., Göttingen 2005, S. 1336-1344.
Ders., Die Juden in den Dörfern des Fleckens Salzhemmendorf, Holzminden 2013, 78-115.