November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Aurich

Die Anwesenheit von Juden in Aurich, der Residenzstadt des Fürstentums Ostfrieslands, ist seit 1635 nachweisbar: Die Familie des Hoffaktoren Calman Abraham bildete die Keimzelle für die jüdische Gemeinde in Aurich. 1736 lebten hier 14 Familien.

Spätestens um 1764 lässt sich die Nutzung des jüdischen Friedhofes in Aurich nachweisen. Im September 1811, während der französisch-holländischen Besatzungszeit, konnte die jüdische Gemeinde die Synagoge einweihen, deren Bau mithilfe von Spenden aus der gesamten Stadt finanziert wurde. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts war Aurich Sitz des Landesrabbiners. Die Gemeinde galt als strenggläubig und konservativ. 1910 konnte die jüdische Elementar- und Religionsschule baulich erneuert werden. Jüdische Schüler besuchten auch die weiterführenden Schulen wie Berufsschule und das Gymnasium Ulricianum.

Die Gemeinde umfasste gegen Ende des 19. Jahrhunderts und bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts um die 400 Personen. Jüdische Bürger bildeten ein festes Element im Wirtschaftsleben und waren vornehmlich als Schlachter, Viehhändler, Manufakturwarenhändler und Krämer tätig. Nur wenige jüdische Familien brachten es zu mäßigem wirtschaftlichem Wohlstand, die meisten gehörten zu den „kleinen Leuten“. Die Juden sprachen Hochdeutsch so gut oder so schlecht wie alle anderen Ostfriesen. Sie sprachen das ostfriesische Niederdeutsch, durchsetzt mit Vokabeln des Auricher Judendeutsch und von daher klanglich gefärbt. Untereinander benutzten sie die Auricher „Mauschelsprache“.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein vielfältiges jüdisches Vereinsleben, vor allem im Bereich der Wohltätigkeit. Juden waren aber auch Mitglieder in anderen bürgerlichen Vereinen. 1848 und 1913 erhielt jeweils ein Jude ein Mandat im Stadtrat.

Von den jüdischen Kriegsteilnehmern aus Aurich fielen mindestens 13 Männer im Ersten Weltkrieg.

Die jüdischen Familien wohnten zwar nicht in ghettoähnlicher Abgeschlossenheit, bewohnten aber bevorzugt einige Straßenzüge. Das Zusammenleben der Auricher Juden mit den Bürgern anderer Konfessionen verlief bis in die Zeit der Weimarer Republik, trotz einzelner antisemitischer Vorfälle, weitgehend störungsfrei. 1933 lebten 398 Juden in Aurich, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug 6,5%.

Die reichsweiten Boykottmaßnahmen vom 1. April 1933 trafen auch die Geschäfte der Auricher Juden. Bereits am 29. März 1933 hatten SA-Männer die Synagoge umstellt und die Herausgabe der Schächtmesser erzwungen, um sie auf dem Marktplatz zu verbrennen. Am 30. Mai 1933 schloss man die Juden aus der Schlachterinnung aus. Seit Gründung der Innung 1911 waren sie immer im Vorstand vertreten und stellten auch die meisten Mitglieder (13 von 21).

Diskriminierung, Ausgrenzung und Arisierungsmaßnahmen ließen ab 1934 die Bereitschaft zur Auswanderung ins Ausland ansteigen. Etliche Familien waren deshalb bereits vor dem Novemberpogrom 1938 geflohen, vor allem in die Niederlande (ca. 55 Personen) und in die USA (ca. 26), nach Südamerika (21), Palästina (9), nach Belgien und Frankreich (je 4) sowie nach Australien und Schweden (je 2). Befanden sich 1933 noch 77 Wohnhäuser in jüdischem Besitz, so waren es im Juni 1939 nur noch 28 Wohnhäuser.

In der Wallstraße wohnten viele jüdische Familien, 1930er Jahre. Bildarchiv Bibliothek der Ostfriesischen Landschaft in Aurich

Innenraum der Auricher Synagoge, um 1915. Bildarchiv Bibliothek der Ostfriesischen Landschaft in Aurich, Nachlass Byl

Die Ausschreitungen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden von dem in Emden wohnenden Führer des Auricher SA-Sturmbannes Eltze ausgelöst. Dieser war von der SA-Gruppe Nordsee vermutlich zwischen 23:00 und 24:00 Uhr informiert worden. Wahrscheinlich erhielt er auch über den zweiten Befehlsstrang, nämlich über die Oldenburger Kreisleiter die weiteren Anordnungen.

Eltze setzte daraufhin den NSDAP-Kreisleiter Heinrich Bohnens in Aurich telefonisch davon in Kenntnis, dass er mit weiteren SA-Männern nach Aurich kommen würde, um Aktionen gegen die Juden vorzunehmen. Ebenfalls von Emden aus organisierte Eltze die Beschaffung von Benzin in Aurich. Bohnens informierte daraufhin in Aurich die Feuerwehr, dass eine Übung stattfinden würde deshalb die Feuermeldeanlage still gelegt werden sollte. Auf dem Marktplatz trafen Bohnens und Eltze sowie die Auricher und Emder SA-Trupps zu weiteren Absprachen zusammen. Eltze organisierte die Brandlegung der Synagoge.

Die SA hatte inzwischen das Synagogengelände abgeriegelt. Das Feuer wurde von Eltze und SA-Männern in den frühen Morgenstunden gelegt. Die Feuerwehr durfte nur anrücken, um ein benachbartes Privathaus und auch die jüdische Schule vor dem Übergreifen der Flammen zu schützen. Die Synagoge brannte vollständig nieder.

Gleichzeitig begann die „Aufholung“ der Juden. SA-Posten sperrten sowohl die Ausfahrtstraßen als auch die Straßen ab, in denen viele jüdischen Bürger wohnten. Männer sowie einige Frauen wurden in der Landwirtschaftlichen Halle, auch „Bullenhalle“ genannt, unter Beschimpfungen und Misshandlungen zusammengetrieben. In etliche jüdische Häuser wurde gewaltsam eingebrochen. Scheiben, Türen und Mobiliar wurden zertrümmert, es fielen Schüsse. Geschäftsräume wurden geplündert, ein ärztliches Behandlungszimmer wurde demoliert. Beteiligt waren auch SS-Männer und Mitglieder des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) wie auch SA-Trupps aus den Nachbardörfern Holtrop und Westerende. Ältere, Gebrechliche, Frauen und Kinder wurden aus der Landwirtschaftlichen Halle bald wieder entlassen und nach Hause geschickt.

Die zurückgebliebenen Männer mussten im Vorführraum der Halle bis zum Mittag ausharren, ohne Essen oder Trinken zu bekommen. Die Aufsicht führte u.a. der Österreicher Haas, der ehemalige Leiter der Auricher SA-Schule. Die jüdischen Männer wurden mit Sport- und anderen Exerzierübungen gedemütigt, drangsaliert und gequält: Bockspringen, im Laufschritt Runden drehen, über Anbindevorrichtungen springen. Hierbei tat sich auch der Sportwart der Auricher SA, Wilhelm Bock, hervor.

Gegen Mittag wurden wieder einige von ihnen entlassen, ca. 40-50 Männer wurden aber durch die Straßen auf das Ellernfeld getrieben, einen Sportplatz, der damals gerade von der Stadt drainiert wurde. Vor den Augen neugieriger Zuschauer waren sie dort weiteren Schikanen ausgesetzt: Sie mussten wie schon in der Viehhalle „Sport“ treiben, Gräben ausheben, Drainagerohre hin und her tragen, Sand in Schubkarren fahren. Werner Hoffmann wurde gezwungen zu rufen: „Ich bin ein Rasseschänder“. Einige Auricher wollten helfen und versuchten, den Gedemütigten Wasser zu geben. Gegen 16.00 Uhr wurden die jüdischen Männer in die Viehhalle zurückgeführt. Die Polizei hatte mittlerweile von der Gestapoleitstelle Wilhelmshaven die Anweisung bekommen, die Juden in „Schutzhaft“ zu nehmen und in das Gerichtsgefängnis zu bringen. Einige ältere Männer wurden nach Hause entlassen, so dass gegen 18.00 Uhr noch 42 Männer in das Gefängnis gebracht wurden. Am nächsten Morgen, den 11. November, wurden die jüdischen Männer mit Bussen nach Oldenburg und von dort mit anderen ostfriesischen Juden mit dem Zug in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Im Januar 1939 kehrte der letzte von ihnen wieder nach Aurich zurück.

Joseph von der Wall, ein Norder, der in Aurich geheiratet hatte, wurde in das KZ Buchenwald gebracht und starb dort am 16. Dezember 1938. Der Auricher Heimann Wolff Wolffs (geb. 1884), der sich in Papenburg Arbeit hatte suchen müssen, weil ihm der Gewerbeschein als Viehhändler entzogen worden war, wurde von dort nach Buchenwald gebracht. Der ehemalige Kriegsteilnehmer starb fünf Tage nach seiner Rückkehr am 22. Dezember 1938 an den Folgen der Misshandlungen.

Die Ruine der Auricher Synagoge im November 1938. Bildarchiv Drogerie Maaß

Die Gottesdienste fand nach der Zerstörung der Synagoge in der Wohnung der Lehrerwitwe Amalie Wolff, geb. Fromm statt. Da die jüdische Schule von der SA beschlagnahmt worden war, fand der Unterricht nun in den Privaträumen des letzten Synagogenvorstehers Abraham Wolffs statt.

Nach dem Novemberpogrom versuchten die Familien, die es finanziell noch bewältigen konnten, ins Ausland zu fliehen.

Genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln, oft führten die Fluchtbewegungen über mehrere Stationen und verschiedene Länder. Aufgrund der biographischen Recherchen der Stolperstein-Gruppe Aurich (Stand September 2018) lassen sich aber folgende Tendenzen ausmachen: Ab 1939 versuchten noch ca. 30 Juden in den benachbarten Niederlanden zu überleben, die Flucht in die USA schafften ebenso viele wie vor dem Pogrom (ca. 25), 17 Menschen konnten sich noch nach Palästina retten, neun nach England, vier nach Australien, je eine Person rettete sich nach Italien, in die Schweiz und nach Schweden.

In einer Liste der Stadt Aurich vom 10. Oktober 1939 erfasste die Stadt Aurich noch 156 polizeilich gemeldete Juden in Aurich und 17 in der näheren Umgebung. Aus dieser Liste geht hervor, dass kaum einer der jüdischen Männer noch seinen ehemaligen Beruf ausübte: 25 waren nun als Arbeiter im Straßenbau oder in der Landwirtschaft eingesetzt, 33 wurden als berufslos bezeichnet, zu 15 gab es keine Angaben. 52 Frauen wurden als Hausfrauen oder Hausangestellte bezeichnet. Außerdem lebten noch ein Maler, zwei Kultusbeamte, ein Lehrer, zwei Rentiers, 19 Schulkinder und fünf Kleinkinder in der Stadt.

Anfang 1940 wurden auch die letzten Familien aus Aurich vertrieben. Am 26. Januar 1940 wurde Wolff Benjamin Wolffs von der SS und der Gestapo Wilhelmshaven gezwungen, alle Juden aus Aurich zu evakuieren. Ostfriesland wurde damit früher als andere Regionen „judenfrei“. Hintergrund war der bevorstehende Einmarsch der Wehrmacht in die Niederlande und die vermeintliche Gefahr der Spionage durch die einheimischen Juden in den grenznahen Gebieten.

Am 18. April 1940 meldete der Auricher Landrat an den Regierungspräsidenten, dass „im ländlichen Bezirke des Kreises sowie in der Stadt Aurich […] keine Juden mehr wohnhaft“ seien. Sie waren vor allem nach Berlin (ca. 59) geflohen oder nach Essen, Düsseldorf und Köln (insgesamt 37), nach Hamburg (3) oder Bremen (16). Einige Familien versuchten noch, ihre Kinder in Kinderheimen in Köln und Hildesheim unterzubringen. Die letzten, die Aurich verließen, waren die Alten und Gebrechlichen (19), sie wurden in das jüdische Altersheim in Emden gebracht und im Oktober 1941 nach Litzmannstadt und Theresienstadt deportiert, in den sicheren Tod. Nur acht Menschen gelang 1940 noch die sichere Flucht nach Argentinien.

Insgesamt sind von 403 jüdischen Auricher Bürgern, die zwischen 1933 bis 1940 in Aurich lebten 255 in den Vernichtungslagern ermordet worden, an den Folgen der Haft und auf der Flucht gestorben oder hatten den Freitod gewählt. Überlebt haben die Familien, die rechtzeitig in die USA, nach Südamerika, Palästina, England oder Australien flüchten konnten. Die Flucht in die Niederlande, nach Belgien oder Frankreich bedeutete in den meisten Fällen den sicheren Tod.

Wolff Wolffs (1910-1995) wurde mit seinem Bruder Benno Wolffs (1904-1986) und ihrem Vater, dem Malermeister Abraham Wolffs (1872-1942) mitten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 geweckt. Die Tür ihres Hauses in der Wallstraße wurde eingeschlagen, nur notdürftig bekleidet wurden sie durch die Straßen getrieben und zur Viehhalle gebracht. Dort wurde der Vater geschlagen und beschimpft, bis ein SA-Mann mit den Worten: „Wir wollen jetzt noch keine Leichen haben“ Schlimmeres verhinderte (Bericht Wolff Wolffs, 1966).

Mit ca. 40-50 weiteren jüdischen Männern wurden die Brüder am Vormittag des 10. November auf das Ellernfeld, den städtischen Sportplatz gebracht, wo die Schikanen weitergingen. Benno Wolffs erinnerte sich 1987 in einem Interview: „Wir haben überhaupt geglaubt, dass wir dort erschossen werden sollten. Bei den Kanalisations- und Drainagearbeiten waren ja große Berge Sand aufgeschüttet worden. Die stellten uns dahin, einen nach dem anderen, zum Erschießen! Das war aber Gott sei Dank ja nicht so.“ Stattdessen wurden sie zunächst in die Bullenhalle zurückgebracht und am Abend in das Gerichtsgefängnis überführt. Benno Wolffs: „Es war gerade der Abend des 10. November; Luthers Geburtstag, Kipp-Kapp-Kögel-Abend. [Kipp-Kapp-Kögel: Laterne mit Kerze]. Wir haben die Kinder durch das Gefängnisfenster gehört. Als wir Kinder waren, sind wir ja auch immer mitgegangen. Umgezogen haben wir uns gehabt und das Gesicht ein bisschen schwarz gemacht. Es gab ja immer gute Sachen an diesem Abend! … Wir sind als Jungen später auch mit Scherbellenskoppen [Masken] gegangen. Und nun saßen wir hier im Gefängnis. Ich war 28 Jahre alt. Unsere Kipp-Kapp-Kögel-Abende lagen weit zurück.“

Die beiden Brüder wurden mit den anderen Auricher Juden über Oldenburg in das KZ Sachsenhausen gebracht und um die Jahreswende 1938/39 entlassen. Benno ging im Februar 1939 nach Hamburg, während Wolff in Aurich blieb, um im Malergeschäft seines Vaters zu helfen. Im Januar 1940 wurde er von der Gestapo-Führung in Wilhelmshaven gezwungen, stellvertretend für seinen kranken Vater, den letzten Synagogenvorsteher in Aurich, bis April 1940 für den Wegzug der noch ca. 150 in der Stadt und im Kreis verbliebenen Juden zu sorgen.

Wolff gelang es mit seinem Bruder Benno und dessen Frau mit dem Schiff „Patria“ illegal nach Haifa zu entkommen. Bis 1945 wurden sie im britischen Internierungslager Atlit festgehalten. Benno wanderte 1952 mit seiner Frau in die USA aus, während sich Wolff, seit 1950 verheiratet, in Beit-Jitzchak niederließ.

Ihre Eltern Abraham und Betti, geb. Wallheimer, wurden am 22. Oktober 1941 aus dem jüdischen Altersheim in Emden über Berlin nach Litzmannstadt (Lodz) abtransportiert und im September 1942 in Kulmhof (Chełmno) ermordet. Ihre Schwester Erna (geb. 1905) war schon im Mai 1938 mit ihrem Mann und der kleinen Tochter nach Groningen in die Niederlande geflohen. 1942 wurden die Familie aus dem Lager Westerbork nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

1951 reiste Wolff Wolffs nach Aurich, um mehr über das Schicksal seiner Familie und der jüdischen Mitbürger aus Aurich und Ostfriesland zu erfahren und um Rückerstattungsansprüche für die ehemalige jüdische Gemeinde geltend zu machen. Danach schwor er, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen. Dennoch erklärte er sich ab den 1960er Jahren als erster zögernd dazu bereit, den Lehrer Johannes Diekhoff mit Auricher Schülern in Israel zu treffen, um sie über die Vergangenheit aufzuklären. Er und sein Bruder Benno begannen, ihre Erlebnisse schriftlich festzuhalten. Benno Wolffs gehörte mit seiner Frau Irma im Mai 1992 zu den 50 Gästen – Auricher jüdische Bürger und ihre Familien –, die an der Begegnungswoche auf Einladung der Stadt Aurich, der Kirchengemeinde Wallinghausen, der Dorfgemeinschaft Egels-Popens und der Deutsch Israelischen Gesellschaft teilnahmen.

Kennkarte Wolff Wolffs (1904 Aurich – 1987 Beit-Jitzchak, Israel). Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Aurich

Die Brüder Bendit (geb. 1860), Herz (geb. 1863) und Ruben (geb. 1868) Samson wohnten im November 1938 gemeinsam in der Zingelstraße. Ihren Haushalt führte ein Hausmädchen. Bendit hatte nie geheiratet, die beiden anderen waren Witwer.

In der Nacht der Nacht vom 9. auf den 10. November brachen SA-Männer in ihre Wohnung ein, Bendit, noch im Schlafanzug, öffnete ihnen. Das Hausmädchen hielt sich im Obergeschoss versteckt. Zu den Eindringlingen gehörte auch der SS-Mann Georg Lang. Zunächst wurden alle drei alten Männer gezwungen, sich zur Landwirtschaftlichen Halle zu begeben. Nur der älteste, Bendit, durfte laut der Haushälterin bald wieder umkehren. Herz und Ruben Samson aber wurden in die Halle gebracht und dort bis zum Abend festgehalten. Das Aufholkommando durchsuchte das gesamte Haus, nahm Wäsche und Möbel mit.

Bendit, Herz und Ruben Samson waren wie schon ihr Vater Joseph Hartog Samson und auch der jüngste Bruder Abraham (geb. 1870) erfolgreiche Schlachter und Viehhändler. Ihr Schlachtbetrieb gehörte zu den größten der Region. 1938 endete die Geschichte der Firma mit der Zwangsauflösung.

Eine Flucht ins Ausland war für die Brüder keine Option mehr. Als Ostfriesland im Frühjahr 1940 „aus militärischen und staatspolizeilichen Gründen“ „judenfrei“ werden sollte, entschieden sie sich gegen das jüdische Altersheim in Emden und zogen Anfang März nach Dortmund. Dort hielt sich ihr Bruder Abraham (geb. 1870) schon seit Ende 1939 auf, er war mit seiner Ehefrau bei seiner Tochter untergekommen.

Im Juli 1942 wurden Bendit, Ruben, Herz nach Theresienstadt deportiert und von dort zwei Monate später nach Treblinka. Hier verlieren sich ihre Spuren. Abraham wurde mit seiner Ehefrau Hedwig im Oktober 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert.

Auch die Söhne von Ruben und deren Ehefrauen werden im Holocaust ermordet. Nur die drei Enkelkinder von Ruben überlebten in den Niederlanden und in den USA.

 

Bendit Samson, Schlachter und Viehhändler (1860 Aurich-1942 Treblinka). Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Aurich

Der Arzt Dr. Manfred Louis Hoffmann (geb. 1907) wohnte mit seiner Ehefrau Rosi Ronsheim (geb. 1911) in der Wallstraße 20, wo er auch seine Praxis führte. 1926 hatte er als Jahrgangsbester sein Abitur am Auricher Gymnasium abgelegt. Im September 1938 erkannte man ihm, wie allen jüdischen Ärzten, die Approbation ab. Schon vorher hatte er viele nichtjüdische Patienten verloren, die ihn aus Angst vor Denunziation nicht mehr aufsuchten. Er musste weite Fahrten in Ostfriesland und bis ins Emsland unternehmen, um seine jüdischen Patienten aufzusuchen.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 stürmten SA-Leute in seine Wohnung, zerstörten Türen, Fenster und die Praxiseinrichtung. Eine Pistolenkugel soll über dem Bett in der Wand eingeschlagen sein. Man beschlagnahmte sein Auto, ein Fahrrad und einen Fotoapparat im Wert von insgesamt 1.800 RM sowie Bargeld.

Bei seiner Ankunft in der Landwirtschaftlichen Viehhalle erhielt er von einem Wachposten, dem später angeklagten SS Mitglied Georg Lang, einen Tritt. Manfred Hoffmann musste bis zur Erschöpfung an den entwürdigenden „Sport“- Übungen unter Führung des SA-Sportwartes Wilhelm Bock in der Halle mitmachen, und auch auf dem Ellernfeld war er weiteren Torturen ausgesetzt.

Manfred Hoffmann wurde mit den anderen jüdischen Männern aus Aurich am 11. November 1938 über Oldenburg in das KZ Sachsenhausen gebracht. Von den schweren körperlichen und seelischen Misshandlungen in Sachsenhausen, so schilderte es später sein Cousin Werner Hoffmann, hat er sich nicht mehr erholt.

Mit seiner Ehefrau, seinen Eltern und der Familie seines Bruders floh Dr. Manfred Hoffmann am 9. März 1939 über Hamburg in die USA. Er lebte und praktizierte in Chicago unter schwierigen Bedingungen und starb früh im Alter von 55 Jahren am 16. November 1962.

Dr. Manfred Louis Hoffmann, praktischer Arzt, (1907 Aurich – 1962 Chicago). Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Aurich

Der Lehrer Moritz Lachmann wurde am 18. Mai 1874 in Schwersenz im Kreis Posen geboren. Seine erste Stelle trat er in Bunde in Ostfriesland an, wo er von 1895 bis 1897 als Religionslehrer, Vorbeter und Schächter tätig war. Dann wechselte er nach Wittmund und unterrichtete dort fast 30 Jahre in der jüdischen Schule. Nebenher übte er dort auch Funktionen als Kultusbeamter und Schächter aus. Wegen Schülermangels wurde er in den vorzeitigen Ruhestand versetzt und zog 1926 mit seiner Familie nach Aurich. Dort fand er an der jüdischen Schule eine neue Anstellung und übernahm auch wieder die Aufgaben eines Kultusbeamten. Um 1930 wurde er Mitglied im Auricher Männergesangverein „Frisia“.

Er wohnte mit seiner Frau Friederike Hess in der oberen Etage der jüdischen Schule in der Kirchstraße, direkt neben der Synagoge. In der Pogromnacht wurde er unter Drohungen und Beschimpfungen aus seiner Wohnung geholt und in die Landwirtschaftliche Halle gebracht. Dem Bericht von Wolff Wolffs zufolge, hinterlegt in Yad Vashem, „gab man [ihm] in der Halle ein Gebetbuch in die Hand, schlug die erste Seite auf und befahl ihm dieses Gebet auf deutsch vorzulesen. Er tat dieses und begann wortgetreu mit den Worten: Gross ist der lebendige Gott. Daraufhin bekam der alte Mann Ohrfeigen, so dass er sofort umfiel. Die Nazis höhnten dann noch und sagten: ‚Das Schwein lügt, die Übersetzung lautet, du sollst alle christlichen Mädchen schänden.‘ In dieser Art ging es die ganze Nacht weiter.“

Da die SA das Gebäude der jüdischen Volksschule beschlagnahmt hatte, musste das Ehepaar vorübergehend bei Joseph Hess, einem Bruder von Friederike, wohnen. Am 23. Februar 1939 verließ das Ehepaar Aurich, sie zogen in das jüdische Altersheim in Emden. Ihre Söhne Henry, Jakob und Siegbert hatten Aurich schon Anfang der 1930er Jahre verlassen und konnten rechtzeitig in die USA emigrieren.

Am 23. Oktober 1941 wurden Moritz und Friederike Lachmann mit 120 weiteren Juden aus dem Altersheim über Berlin in das Ghetto Litzmannstadt deportiert. Den Tod seiner Ehefrau Friederike im Januar 1942 konnte Moritz Lachmann noch seinen Kindern in den USA mitteilen, er selbst starb am 12. August 1942.

Die Deportation der letzten Juden aus dem jüdischen Altersheim in Emden am 21.10.1941, im Vordergrund rechts Abraham Wolffs, der letzte Synagogenvorsteher in Aurich (1872 Aurich 1942 Kulmhof / Chelmno), rechts dahinter Rieke Lachmann, die Ehefrau des Lehrers Moritz Lachmann aus Aurich. Ostfriesische Tageszeitung vom 11.02.1942; Stadtarchiv Emden

Als NSDAP Kreisleiter in Aurich war Heinrich Bohnens mit verantwortlich für den Synagogenbrand und die Verfolgung der Auricher Juden in der Pogromnacht.

Er war an der Organisation und Durchführung des Synagogenbrandes zwar nicht aktiv beteiligt, unterstützte die Taten aber – so ließ er die Feueralarmanlage für eine angebliche Feuerwehrübung ausschalten. Im Synagogenbrandprozess 1948 wurde er als „nationalsozialistischer Aktivist“ bezeichnet, der sich unterstützend an der Aufholung der Juden beteiligt habe. Bezeichnenderweise belastete Bohnens – wie auch die anderen Angeklagten – den im Krieg gefallenen SA Sturmbannführer Eltze als Haupttäter und Anführer. Bohnens war in der Nacht vom 9. / 10. November von dem damals in Emden wohnenden Eltze angerufen und über die anstehenden Aktionen gegen die Juden informiert worden. Eine Mitschuld wies er stets zurück und zeigte weder Bedauern noch Einsicht.

Heinrich Bohnens wurde am 14. Januar 1891 in Hopels, Kreis Wittmund, als siebtes Kind eines Gast- und Landwirtes geboren. Im Ersten Weltkrieg diente er als Soldat hinter der Front. Nach dem Krieg ließ er sich in Friedeburg als Schuhmachermeister nieder.

1923 schloss er sich der deutschvölkischen Bewegung an, wurde 1928 Mitglied der NSDAP und SA und gleichzeitig Ortsgruppen- sowie Bezirksleiter. 1929 wurde er in Friedeburg zum Gemeindevorsteher gewählt. Im Juli 1932 kandidierte er äußerst erfolgreich für den Reichstag, dem er mit einer kurzen Unterbrechung bis zum Ende der NS-Zeit angehörte. Im Februar 1933 wurde er als Kreisleiter in Wittmund eingesetzt und ab 1934 in Aurich, wo er auch zum Präsidenten der Handwerkskammer in Aurich gewählt wurde. Vermutlich stellte man ihn aufgrund seiner vielfältigen Funktionen 1939 vom Militärdienst frei.

Am 11. Mai 1945 verhafteten ihn die Alliierten. Wegen seiner Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation wurde er am 20. August 1948 zu vier Jahren Gefängnis und 500 DM Geldstrafe verurteilt. Vier Monate später verurteilte ihn die Staatsanwaltschaft Aurich im Synagogenbrandprozess zu weiteren drei Jahren Zuchthaus wegen Brandstiftung, Landfriedensbruch, schwerer Freiheitsberaubung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Beide Strafen wurden zu einer Gesamtstrafe von viereinhalb Jahren Zuchthaus zusammengezogen. Die bürgerlichen Ehrenrechte wurden ihm auf vier Jahre aberkannt. Im Oktober 1950 entließ man ihn vorzeitig aus der Haft. Er blieb arbeitslos. Im Februar 1951 wurde er im Entnazifizierungsverfahren in die Kategorie III eingestuft. Im März 1951 zog er mit seiner Frau nach Brake bei Bielefeld, wo er am 5. November 1952 an den Folgen eines Verkehrsunfalls starb.

 

Heinrich Bohnens (1891 Hopels – 1952 Brake), Schuhmachermeister, NSDAP Kreisleiter in Aurich, aus: Kreistag des Kreises Aurich der NSDAP am 11. und 12. Juni 1938 in Aurich, hg. von der Kreisleitung der NSDAP in Aurich, verantw. für den Inhalt: Wilh. Kranz, Aurich 1938. Bibliothek der Ostfriesischen Landschaft in Aurich

Wilhelm Bock war am 10. November 1938 an Hausdurchsuchungen bei den Familien Wallheimer und Valk beteiligt. Im Bekleidungsgeschäft der Firma H. C. Knurr beschlagnahmte er Geld aus der Ladenkasse (2.000-3.000 RM). Eine besondere Rolle nahm er in seiner Funktion als SA-Sportwart wahr, als er in der Landwirtschaftlichen Halle die männlichen Auricher Juden in entwürdigender Weise „Sport“ treiben ließ. Später gab er vor Gericht an, er hätte auf Befehl des Sturmbannführers Eltze gehandelt und die „Lockerungsübungen, Dauerlauf, Drittenabschlagen und Bockspringen“ durchführen lassen, weil die Juden doch „gefroren“ hätten.

Wilhelm Bock wurde 27. Dezember 1897 in Hamburg geboren. Die Familie, sein Vater war Gärtner, zog bald nach Aurich um, wo Bock eine Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten absolvierte. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich bei der Marine und wurde 1919 entlassen – dekoriert mit dem Ehrenkreuz für Frontkämpfer. In Aurich arbeitete er zunächst kurze Zeit beim Infanterieregiment 29. Von 1920 bis 1930 war er als Büroangestellter bei der Ostfriesischen Landschaftlichen Brandkasse tätig und wurde dann als Kassierer bei der Kreissparkasse Aurich angestellt.

1939 wurde er erneut zur Marineflak eingezogen und geriet 1945 als Oberfeldfeldwebel in britische Gefangenschaft. Ab 1947 arbeitete er bei seinem Vater in einer Gärtnerei in Aurich.

Er war verheiratet und hatte drei Kinder, ein Sohn fiel im Krieg.

1933 war er der SA-Reserve beigetreten und wurde am 01. Mai 1937 in die NSDAP aufgenommen, wo er allerdings keine Funktionen ausübte. In der SA war er als Sportwart tätig, 1938 im Dienstrang eines Scharführers. In der Folge brachte er es noch zum Truppführer.

Er wurde bei der Entnazifizierung in Kategorie III, d.h. als „Minderbelasteter“ (Bewährungsgruppe) eingestuft.

Das Schwurgericht Aurich verurteilte ihn im Februar 1950 zu zehn Monaten Gefängnis wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schwerem Landfriedensbruch, gemeinschaftlicher schwerer Freiheitsberaubung und gefährlicher Körperverletzung. In der Urteilsbegründung hieß es, er habe aus einem „falsch verstandenen soldatischen Gehorsam heraus die Durchführung der ihm erteilten Befehle zu seiner eigenen Sache gemacht“. Das Gericht erkannte an, dass „er sich als alter Soldat verpflichtet fühlte, Befehle seiner Vorgesetzten auch auszuführen“. Man rechnete ihm an, dass er ein „offenes Geständnis abgelegt“ habe, was auf „innere Einkehr“ schließen lasse. Aufgrund des Straffreiheitsgesetztes von 1949 wurde die Strafvollstreckung im Dezember 1950 aufgehoben.

Tjarko Gerdes gehörte zu der Führergruppe auf dem Auricher Marktplatz, die die „Aufholung“ der Juden koordinierte und vorantrieb. Er hatte zu der Zeit den Rang eines SA Obersturmführer z.b.V. der Standarte Emden inne. Auf seine Anordnung hin wurden Juden aus ihren Wohnungen geholt und in die Landwirtschaftliche Halle gebracht. Ihm konnte 1950 nachgewiesen werden, dass er selber aktiv an der Festnahme der Brüder Jakob und Willi Wolff in Ostgroßefehn beteiligt gewesen war. Zusätzlich wurde er der „räuberischen Erpressung“ angeklagt: Er hatte in den Tagen nach der Pogromnacht bei Benjamin Wolff einen Schreibtisch beschlagnahmt, den er in das neu eingerichtete SA-Büro in der jüdischen Volksschule bringen ließ.

Gerdes, geboren 1906 in Bangstede, war Sohn eines Landwirts. Er galt als „Alter Kämpfer“, da er bereits 1928 in die NSDAP und 1931 in die SA eingetreten war. Ab 1934/35 arbeitete er als Angestellter bei der Kreisbauernschaft Aurich und anschließend bis 1943 bei der Viehverwertungsgenossenschaft Aurich. 1938 war er Ratsherr der Stadt Aurich. Als Obergefreiter wurde er im Krieg in den Niederlanden und Italien eingesetzt. Bis 1948 befand er sich in französischer Kriegsgefangenschaft. 1942 soll er auf eigenen Wunsch aus der SA ausgetreten sein.

Er wurde 1950 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit Landfriedensbruch, gemeinschaftlicher schwerer Freiheitsberaubung und räuberischer Erpressung. Die Strafvollstreckung wurde zwar nicht ausgesetzt, sein Anwalt erreichte allerdings einen Strafaufschub bis Ende 1951, so dass er erst im Januar 1952 die Strafe antreten musste. Im April 1952 wurde er bereits wieder entlassen und die restlichen neun Monate Haft wurden in eine Geldstrafe von 1.200 DM umgewandelt. Sein Entnazifizierungsverfahren endete mit der Einstufung in Kategorie III (Bewährungsgruppe). Tjarko Gerdes bewirtschaftete in der Folge einen Bauernhof in Simonswolde, wo er 1967 starb.

Der SS-Mann Georg Lang war an der „Aufholung“ der alten und gebrechlichen Brüder Bendit (81 Jahre), Herz (79 Jahre) und Ruben Samson (74 Jahre) beteiligt. Im Strafprozess 1950 gab er an, auf Befehl des Kreisleiters Heinrich Bohnen gehandelt zu haben. Da sich die Alten noch im Schlafanzug befanden, ließ er nachfragen, ob diese zur Halle gebracht werden sollten. Er erfuhr, dass diese von der „Aktion“ nicht betroffen wären, brachte aber nur Bendit Samson wieder zurück. Das Haus der Samsons wurde durchsucht, Wäsche und Möbel wurden abtransportiert. Georg Lang war im weiteren Verlauf auch an der Bewachung der Juden in der Landwirtschaftlichen Halle beteiligt, obwohl die SS bei dem Novemberpogrom offiziell nicht eingesetzt wurde. Als der Arzt Dr. Manfred Hoffmann in die Halle geführt wurde, soll er diesen mit einem Tritt misshandelt haben.

Georg Lang, Sohn eines Brauers, wurde 1910 in Aurich geboren. Er besuchte die Volksschule, machte eine Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten und arbeitete in einem Schuhgeschäft. 1933 trat er der Allgemeinen SS bei und übernahm die Funktion des Sportwarts, 1938 war er Scharführer. 1937/38 trat er auch in die NSDAP ein. 1939 wurde er zur Waffen-SS eingezogen und war in Italien, Ungarn und Polen im Einsatz. Bis 1947 befand er sich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. In der Nachkriegszeit arbeitete er wieder als Schuhverkäufer.

Er wurde zu einer Gefängnisstrafe von acht Monaten verurteilt, wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit, schwerem Landfriedensbruch, Freiheitsberaubung und gefährlicher Körperverletzung. Aufgrund des Straffreiheitsgesetzes von 1949 wurde seine Strafe 1950 zur Bewährung ausgesetzt. Bei Strafhöhen zwischen sechs Monaten und einem Jahr Freiheitsentzug konnte die Vollstreckung der Freiheitsstrafe ausgesetzt und in eine Bewährungsstrafe umgewandelt werden. Voraussetzung war, dass der Täter nicht „aus Grausamkeit, aus ehrloser Gesinnung oder aus Gewinnsucht“ gehandelt hatte. Das wurde Georg Lang zugestanden.

Anna Nannen war die einzige Frau, die 1949 in Aurich vor Gericht gestellt wurde. Ihr Verhalten in der Pogromnacht spiegelt den alltäglichen Antisemitismus wieder.

 

Anna Nannen wurde 1901 in Walle als Tochter eines Landwirts geboren. Sie besuchte die Volksschule und arbeitete bis zu ihrer Heirat mit 21 Jahren als Köchin. Ihr Mann war Filmvorführer und später beim Wehrbezirkskommando tätig. Er war Mitglied in der NSDAP und im NSKK und starb 1942, sie selber wurde kein Mitglied in der NSDP. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor.

Anna Nannen wohnte in der Wallstraße, in der viele jüdische Familien lebten. In den Morgenstunden des 10. November schloss sie sich den „Aktionsteilnehmern“, den Aufholtrupps an, die nach den Brüdern Fritz (1907-1945) und Josef (1911- 1945?) Seckels suchten, die mit ihrer Familie in der Marktstraße, in ihrer direkten Nachbarschaft, lebten.

Sie soll die Männer noch angefeuert haben, indem sie rief: „Na sucht man, die sind noch drin!“ Fritz und Josef Seckels wurden bald darauf auf dem Dachboden ihres Hauses gefunden und zur Viehauktionshalle gebracht.

Wie fast alle Angeklagten leugnete sie 1950 vor Gericht, an der Aufholung der Juden beteiligt gewesen zu sein. Sie konnte aufgrund von Zeugenaussagen überführt werden. Diese Zeugen gaben auch an, dass sie früher schon vor Juden ausgespuckt und dazu gesagt haben soll: „So wollen wir es haben.“

Das Gericht erkannte an, dass sie der Menschenmenge vor dem Haus der Seckels „in dem Bewusstsein und mit dem Willen angehörte, dass es aus ihr heraus zu einer gewaltsamen Festnahme der beiden Seckels“ kommen würde. Sie habe die Festnahme „wissentlich“ gefördert und die Menge „dadurch in ihrem Täterwillen bestärkt.“

Die Anklage lautete auf „Beihilfe zu schwerer Freiheitsberaubung“. Da ihre Strafe bei sechs Monaten Gefängnis lag – wie auch bei weiteren neun Angeklagten – und sie damit unter das Amnestiegesetz fiel, wurde das Verfahren 1950 eingestellt.

Im Prozess um den Synagogenbrand in Aurich wurden im Dezember 1948 vier Männer vor dem Schwurgericht des Landgerichts Aurich wegen Brandstiftung, Landfriedensbruchs, schwerer Freiheitsberaubung und Verbrechens gegen die Menschlichkeit angeklagt: der NSDAP-Kreisleiter Heinrich Bohnens, der Maler Hermann Theesfeld, der Kaufmann Karl Rector und der Regierungsobersekretär Harm Flügge. Letzterer wurde wie Bohnens wegen seiner „Zugehörigkeit zum Korps der politischen Leiter“ in Internierungshaft genommen. Er blieb dort bis zum 19. Juni 1948, eine aktive Beteiligung an der Brandstiftung wurde ihm nicht nachgewiesen.

Bohnens, dem man nicht die aktive Teilnahme an der Brandstiftung nachweisen konnte, wurde zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren verurteilt, zudem wurden ihm die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von vier Jahren aberkannt. Theesfeld erhielt eine Gefängnisstrafe von einem Jahr und Rector von zehn Monaten. Bohnens wurde 1950 vorzeitig entlassen. Als Initiator und Organisator wurde ein Verstorbener genannt: Sowohl für die Brandlegung wie auch die Aufholung und Misshandlung der Juden wurde der SA-Sturmbannführer Georg Eltze verantwortlich gemacht. Er war wie der SA-Mann Haas, dem besonders brutales Vorgehen zugeschrieben wurde, im Krieg gefallen.

In einem zweiten Prozess 1949/1950 wurde wegen der Ausschreitungen in der Pogromnacht Anklage gegen 28 weitere Personen, darunter eine Frau, erhoben, die des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, Landfriedensbruchs und der Freiheitsberaubung angeklagt wurden. Obwohl viele Auricher die Nacht und den kommenden Tag miterlebt hatten, fanden sich kaum Zeugen, die bereit waren, auszusagen. Einige Zeugen zogen, als es ernst wurde, ihre früheren Aussagen wieder zurück. Die große Mehrheit der angeklagten SA Männer behauptete, sich nicht an die Ereignisse erinnern zu können, dass sie geschlafen hätten, gar nicht in Aurich anwesend gewesen seien oder dass sie nur mit der Absperrung der Straßen beauftragt worden seien.

Am 16. Februar 1950 erfolgte die Urteilsverkündung: Elf der Angeklagten erhielten Freiheitsstrafen zwischen sieben Monaten und einem Jahr Gefängnis, zehn Verfahren wurden aufgrund des Straffreiheitsgesetztes von 1949 eingestellt, sieben wegen mangels an Beweisen eingestellt. Keiner der elf Verurteilten musste die Haft vollständig verbüßen.

Bericht in den Ostfriesische Nachrichten vom 17.02.1950 über die verhängten Strafen im Synagogenbrandprozess: „Gefängnisstrafen im Kristallnachtprozeß – Auch ein Befehl keine Entschuldigung – Wenig Bereitschaft zur Wahrheit“. Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Aurich

Nach 1945 erinnerte nur noch wenig an das jüdische Leben in Aurich und an die vertriebenen und ermordeten Mitbürger. Nur der 1764 angelegte jüdische Friedhof an der Von-Jhering-Straße blieb bis heute erhalten.

Mitte der 1960er Jahre versuchte Johannes Diekhoff, damals Lehrer an der IGS Aurich-West, erstmals mit seinen SchülerInnen, Kontakt zu den vertriebenen jüdischen Aurichern in Israel, besonders zu Wolff Wolffs, aufzunehmen. Gut zehn Jahre später initiierte er eine öffentliche Spurensuche mit SchülerInnen nach den ehemaligen jüdischen Bewohnern in Aurich. Es entstanden eine erste Dokumentation und eine Ausstellung zur Geschichte der Auricher Judengemeinde.

Ab 1981 hat Wolfgang Freitag, Nachfolger von Diekhoff als Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) Ostfriesland, regelmäßig Besuche in Israel vorbereitet und durchgeführt. 1984 besuchten erstmals ehemalige Auricher Bürger aus Israel ihre Geburtsstadt, und im Frühjahr 1992 fand ein auch von großem öffentlichem Interesse begleiteter, offizieller mehrtägiger Besuch ehemaliger Auricher Juden und ihrer Angehörigen aus verschiedenen Ländern statt. Von 1983 bis 2007 organisierte die DIG regelmäßig Jugendaustausche für Auricher Schulen.

Seit Oktober 1987 unterhält der Landkreis Aurich eine offizielle Partnerschaft mit der Stadt Bat-Yam bei Tel-Aviv.

1980 gründete sich ein Arbeitskreis zur „Geschichte der Jüdischen Gemeinden in Ostfriesland“ bei der Ostfriesischen Landschaft in Aurich. Anlässlich des 50. Jahrestages des Novemberpogroms erarbeitete der Arbeitskreis 1988 eine Ausstellung mit einem Begleitband über „Das Ende der Juden in Ostfriesland“. Seit 1998 hat die Ausstellung „gedemütigt – verfolgt – getötet. Das Leben der Auricher Juden“ im Historischen Museum Aurich einen festen Platz im Schaubereich.

 

Die Gedenkstelen am Hohen Wall mit den Namen der ermordeten Auricher Juden sowie die Säule mit einer Nachbildung der Synagoge wurden 2002 aufgestellt. An die einstige jüdische Schule erinnert eine Gedenktafel am Hause der Ärztekammer in der Kirchstraße.

2012 wurde zusätzlich eine Gedenkplatte (Granitplatte) vor dem Sozialgericht in das Pflaster eingebettet. Ein Pfeil zeigt in Richtung der ehemaligen Synagoge. Die Abraham-Wolffs-Straße erinnert an den letzten Vorsteher der jüdischen Gemeinde.

Im Jahr 2010 begannen die Vorbereitungen zur Verlegung von Stolpersteinen, unterstützt von der Stadt Aurich. Der stellvertretende Vorsitzende der DIG-Ostfriesland, Günther Lübbers, ermöglichte Kontakte zu Überlebenden und deren Nachkommen in Israel, den USA, den Niederlanden und Großbritannien, so dass bei den Verlegungen auch immer wieder ehemalige Auricher MitbürgerInnen und ihre Nachkommen aus aller Welt teilnehmen. Von Anfang an wurden SchülerInnen und KonfirmandInnen bei den Recherche- und Verlegearbeiten einbezogen. Am 8. November 2011 konnte der erste dieser Gedenksteine in Aurich verlegt werden. Ende 2021, so ist es geplant, werden knapp über 400 Stolpersteine an die jüdische Bevölkerung Aurichs erinnern.

Der jüdische Friedhof in Aurich an der Emder Straße. Foto: Günther Lübbers

Peter Bahlmann, Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Wiederaufbau der Justiz und frühe NS-Prozesse im Nordwesten Deutschlands, Dissertation an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Oldenburg 2008, in: Emder Jahrbuch für historische Landeskunde Ostfrieslands, Verlag der Ostfriesischen Landschaft, Aurich: Teil 1 Bd. 91 (2011), S. 105-163; Teil 2: Bd. 92 (2012), S. 185-199; Teil 3: Bd. 93 (2013), S. 35-117; online unter: http://oops.uni-oldenburg.de/1015/1/bahver08.pdf

Bernd Volker Brahms, Stolperstein Geschichten – Spurensuche gegen das Vergessen. Aurich, hrsg. vom Ulrich Völkel Eckhaus Verlag Weimar 2018.

Johannes Diekhoff, Die Auricher Judengemeinde von 1930 bis 1940, in: Herbert Reyer (Hg.), Aurich im Nationalsozialismus (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands 69), Aurich 21993, S. 247-299.

Inge Lüpke-Müller, Artikel Heinrich Bohnens, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland; online unter: https://www.ostfriesischelandschaft.de/fileadmin/user_upload/BIBLIOTHEK/BLO/Bohnens.pdf.

Herbert Reyer, Aurichs Weg ins „Dritte Reich“, in: Ders. (Hg.), Aurich im Nationalsozialismus (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands 69), Aurich 1993 (2. Aufl.), S. 19-90.

Herbert Reyer, Artikel Aurich, in: Herbert Obenaus (Hg.) in Zusammenarb. mit David Bankier und Daniel Fraenkel, Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bände, Göttingen 2005, S. 1-28; online unter: http://www.unics.uni-hannover.de/hdb-synagogen-nds/Aurich.pdf

Rolf Uphoff, Reise ohne Wiederkehr, Wege in das Grauen – die Deportation der letzten jüdischen Bürger Emdens, Nordens und Aurichs, Emden 2011.

Sandra Weferling, u.a. (Bearb.), Judenverfolgung im Nationalsozialismus am Beispiel Aurichs / Materialkoffer und Unterrichtskiste Stolpersteine, hg. vom Regionalen Pädagogischen Zentrum Aurich, Ostfriesische Landschaft, 2015.

https://stolpersteineaurich.wordpress.com; Homepage des Projekts „Stolpersteine – Im Gedenken an Aurichs Opfer des Nationalsozialismus“

http://www.alemannia-judaica.de/aurich_synagoge.htm; Alemania Judaica: Artikel Aurich