Stadthagen
Vorgeschichte
Die ersten Erwähnungen über Juden in Stadthagen gibt es bereits aus dem 15. Jahrhundert. Im Jahr 1848 wurden sie schließlich durch Emanzipationsgesetze den Christen rechtlich gleichgestellt.
Nachdem lange Zeit ausschließlich Beträume in Wohnhäusern eingerichtet waren, wurde die neue Synagoge am 5. Mai 1858 durch Dr. Hermann Joel auf dem Hinterhof der Niedernstraße 19 eingeweiht.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 gab es auch in Stadthagen immer wieder Aktionen und Anfeindungen gegenüber Juden. Zu diesem Zeitpunkt lebten unter den ca. 8.000 Einwohnern der Stadt 58 Juden und eine „Halbjüdin“.
Der antisemitische Hass konzentrierte sich in den folgenden Jahren vermehrt auch auf die Geschäftsleute Elias Lion und Moritz Trautmann, die zusammen Inhaber des damals größten Kaufhauses der Region waren. So wurde im Jahr 1934 etwa eine Tränengasbombe in das Geschäft geworfen, oder eine Trauerkarte mit Kranz an Trautmann zugestellt, mit dem Inhalt: „Jude Moritz Trautmann, bereite dich vor, der Tod naht!“. Zu dem bis dahin schwersten Angriff kam es jedoch am Abend des 30. Januar 1935, als der Sohn Moritz Trautmanns und zwei Begleiter auf dem Heimweg von zwei SA-Männern, einem SS-Mann und einem NSDAP-Parteimitglied heftig zusammengeschlagen wurden. Nach einem längeren Verfahren wurden die Täter jedoch am Ende lediglich zu einer Geldstrafe von jeweils 100 RM verurteilt.
Durch die zunehmende Feindseligkeit verließen bis 1938 bereits 14 Juden die Stadt.
Die Ereignisse im November 1938
Am Morgen des 10. November 1938, gegen 6:00 Uhr, ging bei der Stadthäger Polizei ein Funkspruch der Gestapo aus Bielefeld ein: „Es ist die Festnahme männlicher Juden von nicht zu hohem Alter und die vermögend sind, durchzuführen“. Bereits am Vormittag desselben Tages wurden daraufhinacht Juden in Stadthagen festgenommen, auf dem Marktplatz zusammengetrieben und im örtlichen Amtsgerichtsgefängnis inhaftiert. Von dort wurden sie schließlich über Bielefeld in das Konzentrationslager Buchenwald überführt. Die Verhafteten waren die Kauffrau Clara Asch, der Viehhändler Wilhelm Rosenfeld, die beiden Schlachter Alfred Katz und der jugendliche Horst Silberbach, der Mitinhaber des Kaufhauses Lion Moritz Trautmann sowie dessen Angestellte Fritz Weinberg, Rudolf Weinberg und Herbert Jonas. Elias Lion hielt sich zu dieser Zeit in Hameln auf und wurde dort ebenfalls verhaftet. Die Festnahmen in Stadthagen wurden dabei durch den NSDAP-Kreisleiter Schmidt, den SS-Sturmführer Kraus und den SA-Sturmführer Roesener aus Bückeburg, einen weiteren SA-Angehörigen, sowie zwei Polizisten aus Stadthagen durchgeführt. Warum Clara Asch entgegen der Anweisung als einzige Frau ebenfalls verhaftet wurde, ist nicht bekannt.
Während in der Nacht vom 9. auf den 10. November im ganzen Reichsgebiet Synagogen in Brand gesetzt wurden, geschah dies in Stadthagen erst zwei Nächte später.
Unbekannte Täter verschafften sich Zugang durch ein Fenster des verschlossenen Gebäudes und legten auf der Bima Feuer. Der Brand konnte von der Feuerwehr relativ schnell wieder gelöscht werden, wodurch Brandschäden nur an der Bima und den Sitzbänken verursacht wurden. Ob der Brand nach dem Versäumnis noch nachträglich von der Schaumburg-Lippischen SS in Absprache mit der Feuerwehr gelegt wurde, oder ob auswärtige SA-Angehörige das Feuer entzündeten, ist unklar.
Außerdem wurden bei der Aktion eine Thora-Rolle und vier Thora-Wimpel aus der Synagoge entfernt, die wahrscheinlich zunächst zur Polizeidienststelle in Stadthagen gebracht wurden. Der weitere Verbleib der Gegenstände ist ebenfalls bis heute nicht geklärt.
Folgen
Bis zum 10. Dezember 1938 wurden Moritz Trautmann, Elias Lion, Alfred Katz und Wilhelm Rosenfeld aus verschiedenen Gründen wieder aus dem KZ Buchenwald entlassen. Da sie bereits im Besitz von Ausreisepapieren waren, wurden auch die übrigen inhaftierten Juden in der Folgezeit, mit einer Frist zur Ausreise, wieder freigelassen.
Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 gelang noch 17 weiteren Stadthäger Juden die Auswanderung aus dem Deutschen Reich. Darunter auch Moritz Trautmann und seiner Familie. Bis 1941 starben drei Juden noch eines natürlichen Todes und entgingen somit den Deportationen, die in dieser Zeit einsetzten. Zwischen dem 13. Dezember 1941 und dem 28. Juli 1942 wurden 24 Juden aus Stadthagen verschleppt, von denen 23 nicht wieder zurückkehrten. Elias Lion wurde am 30. März 1942 ebenfalls in das Ghetto Warschau deportiert. Sein weiteres Schicksal ist, wie das von vielen anderen, unbekannt. Von den 1933 in der Stadt lebenden 59 Juden, überlebte lediglich eine Frau die NS-Zeit in Stadthagen. Sie war am 28. Juli 1942 ebenfalls zur Deportation vorgesehen, welche aus unbekannten Gründen nicht durchgeführt wurde.
Biografie - Elias Lion
Der aus einer Obernkirchener Kaufmannsfamilie stammende Elias Lion wurde am 2. Dezember 1879 geboren. Der Vater Philipp Lion kaufte 1903 ein Warenlager aus einer Konkursmasse auf und eröffnete im ehemaligen Postgebäude in Stadthagen ein Manufakturwarenhandel. Bereits 1905 überschrieb er das Geschäft an seinen Sohn.
Der Kaufmann Moritz Trautmann aus Nordhorn heiratete die jüngste Schwester Elias Lions und stieg als Teilhaber in die Firma seines Schwagers mit ein. Unter der Leitung der beiden Veteranen des 1. Weltkrieges konnte sich das Kaufhaus Lion in den 1920er Jahren zum größten Kaufhaus in Schaumburg-Lippe entwickeln.
Mit der Machtübernahme der Nazis 1933 verschärfte sich allerdings auch die Lage für die jüdischen Unternehmer. Durch die vermehrten Angriffe auf das Kaufhaus und die Familien von Lion und Trautmann in den Folgejahren, sahen sich die beiden Inhaber gezwungen das Geschäft zu verkaufen. Um das Kaufhaus nicht NS-Freundlichen Unternehmern aus Stadthagen überlassen zu müssen, begannen ab November 1938 Verhandlungen mit einem „Strohmann“ des Mindener Kaufhausbesitzers Hermann Hagemeyer. Nach der Freilassung aus dem KZ Buchenwald aufgrund der laufenden „Arisierungsverhandlungen“ gelang Moritz Trautmann mit seiner Familie Ende 1939 die Flucht nach Chile. Da er Frontkämpfer im 1. Weltkrieg war, wurde Elias Lion im Dezember 1938 ebenfalls wieder auf freien Fuß gesetzt. Alle folgenden Auswanderungsversuche scheiterten jedoch. Am 30. März 1942 wurde er in das Ghetto Warschau deportiert.
Spuren und Gedenken
Der Anfang des 19. Jahrhunderts angelegte jüdische Friedhof in der Seilerstraße besteht bis heute. Lange Zeit waren die 1941 verstorbenen Juden die letzten, die hier beerdigt wurden.
Von 2011 bis 2015 wurden in Stadthagen Stolpersteine verlegt, die an die verdrängten und deportierten Juden Stadthagens erinnern sollen.
Das Gebäude der ehemaligen Synagoge musste im Jahr 1942 durch die Reichsvereinigung der Juden an einen Kaufmann verkauft werden, der eine Zwischendecke einziehen ließ und es fortan als Warenlager nutzte. Nach einem weiteren Verkauf in den 1970er Jahren, wurde das mittlerweile ungenutzte Gebäude schließlich von dem 2008 gegründeten „Förderverein ehemalige Synagoge Stadthagen e.V.“ gemietet und renoviert. Die Außenfassade wurde, soweit möglich, in das ursprüngliche Ansehen als Synagoge zurückversetzt. Seither dient das Gebäude als Gedenkstätte. Der Innenraum wird im Obergeschoss als Lernort für Schülergruppen und im unteren Bereich für Veranstaltungen des Erinnerns und Gedenkens genutzt.
Weiterführende Literatur und Links
Rolf de Groot, Wer waren die jüdischen Opfer? in: Schaumburger Landschaft (Hg.). Wege zur Erinnerung. Bielefeld 2008. S. 31-42
Jürgen Lingner, Erinnerungsorte in Stadthagen. in: Schaumburger Landschaft (Hg.). Wege zur Erinnerung. Bielefeld 2008. S. 69-84
Frank Werner, Die kleinen Wächter der „Volksgemeinschaft“. in: Frank Werner (Hg.). Schaumburger Nationalsozialisten – Täter, Komplizen, Profiteure. Bielefeld 2009. S. 521-583
Friedrich Bartels, Juden in Stadthagen. 1996 (Ms)
Gerd Steinwascher, Judenverfolgung in Schaumburg 1933-1945. Bückeburg 1988
Dieter Brosius, Die Schaumburg-Lippischen Juden 1848-1945. in: Schaumburg-Lippische Mitteilungen 21 (1971). S. 59-98
Hans-Heinrich Hasselmeier, Die Stellung der Juden in Schaumburg-Lippe – von 1648 bis zur Emanzipation. in: Schaumburger Studien 19. Bückeburg 1967
Förderverein ehemalige Synagoge Stadthagen e.V.
Juden in Stadthagen – vom späten Mittelalter bis in die Gegenwart
Jürgen Lingner, Zur Geschichte der Synagoge in Stadthagen, 2008
Jürgen Lingner, Zur Geschichte der Juden in Schaumburg