November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Bad Harzburg

Anders als in anderen Städten am Harz gab es in Bad Harzburg keine längere jüdische Tradition mit eigenständiger Gemeinde. Jüdisches Leben begann hier mit dem Aufstieg des Ortes zum Kurbad in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bad Harzburg wurde in den Reiseführern ab Ende des 19. Jahrhunderts als teure und „vornehmste Sommerfrische des Harzes“ dargestellt und pflegte dieses Image. Entsprechend war das Publikum bis Anfang des 20. Jahrhunderts vornehmlich gutbürgerlich und städtisch geprägt, auch internationales Publikum kam nach Bad Harzburg.

Selbstverständlicher Teil der Gäste waren auch Menschen jüdischen Glaubens, um die die Hotels auch in jüdischen Zeitschiften warben. Dabei entstand ein Bedarf an Restaurationen und Unterkünften, die ein rituelles Leben ermöglichten. Zunächst wurde dieser nur in der Saison gedeckt, der Halberstädter Richard Meyer mietete jeweils unterschiedliche Häuser für ein koscheres Restaurant. Ab 1893 erhielt Max Hecht die dauerhafte Konzession für eine entsprechende Einrichtung, errichtete das Hotel Parkhaus, das vom neo-orthodoxen Halberstädter Rabbiner Auerbach kontrolliert wurde. 1901 konnte Hecht für sein Hotel eine Synagoge eröffnen, die zum religiösen Mittelpunkt wurde. Später entstanden auch weitere koschere Betriebe, die sich oft nicht sehr lange halten konnten.

 

Gaststätte

Ansichtskarte des Hotels Parkhaus. Sammlung Markus Weber

Mit Beginn der Weimarer Republik verstärkten sich antisemitische Tendenzen, so dass der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens ab 1922 einen Obmann einsetzte, der über antisemitische Strömungen berichten sollte. Stadt- und Kurverwaltung bemühten sich, zumindest während der Saison entsprechende Vorkommnisse einzudämmen. So forderte die Stadt 1930 vergeblich beim Land Braunschweig ein Uniformverbot für das Stadtgebiet und wandte sich 1931 vehement gegen die Einführung des durch die Nationalsozialisten betriebenen Schächtverbots im Lande.

Die Veranstaltung der so genannten Harzburger Front im Oktober 1931 führte zu einem Rückgang jüdischer Gäste, aber auch zu verstärktem Werben um sie. Ab 1933 betrieb die Stadt zunächst noch im Wissen um die ökonomische Bedeutung jüdischer Besucher eine Schaukelpolitik, so konnten auch die jüdischen Häuser noch im offiziellen Stadtprospekt werben. Gerechtfertigt wurde das Vorgehen gegen die jüdischen Bürger auch durch den Harzburger Juristen und Schriftsteller Rudolf Huch, der 1934 eine antisemitische Schrift mit dem Titel „Israel und wir“ herausgab. Ab 1935 verschärfte sich die Stimmung deutlich: Bei einer Kundgebung wurde die Stadt – entgegen der Realität – für „judenfrei“ erklärt. „Arisierungen“ wurden forciert.

Gaststätte

Werbeanzeige für Meyers Restaurant, Der Israelit, 28. Mai 1890. Universitätsbibliothek Universität Frankfurt Compact Memory

Bereits Mitte des Jahres 1938 konnte auch in Bad Harzburg die weitere Radikalisierung der Politik gegen die Juden wahrgenommen werden. Im Juli forderte der Landkreis Wolfenbüttel dazu auf, die verbliebenen „jüdischen Betriebe“ zu erfassen und zu melden, um diese schließlich ausschalten zu können. Im Oktober wurden bei der reichsweiten Aktion gegen polnische Juden, von der auch die Eltern von Herschel Grynszpan betroffen waren, zwei Frauen aus Hannover bzw. Hamburg, die sich zur Kur in Harzburg aufhielten, über die polnische Grenze abgeschoben.

Der Abend des 9. November begann mit einer offiziellen Gedenkfeier an den Marsch auf die Münchener Feldherrnhalle 1923 im fahnen- und blumengeschmückten Kurhaus, wo alle Parteiorganisationen versammelt waren. Die Harzburger Zeitung vom nächsten Tag zeigte sich beeindruckt „vom Gelöbnis der Treue und dem Bekenntnis zum ewigen Deutschland“, das in Reden und Liedern ertönte und von den Teilnehmern als „Verpflichtung mit nach Hause“ genommen wurde: „Unser Dank ist die Tat!“

In der Nacht war dann ein Kommando der Braunschweiger SS-Junkerschule nach Bad Harzburg gekommen. Die Harzburger SA-Leute erhielten ab 4:30 Uhr am 10. November über den Gestapo-Beamten Ebeling den Befehl, sich „in Zivil“ im Badepark zu versammeln. So sollte die staatlich gelenkte Aktion als „Volksaufruhr“ getarnt werden. Vom Badepark aus beteiligten sich die SA-Leute am Überfall auf das Hotel „Ernst August“ von Max Ohrenstein, wo die Braunschweiger SS-Männer bereits das Mobiliar demolierten und aus dem Fenster warfen. Im Beisein des SA-Standortführers Kurt Gödecke nahm der Gestapo-Beamte Ebeling die Bewohner und Gäste des Hauses, unter ihnen eine jüdische Hochzeitsgesellschaft, in Schutzhaft und ließ sie von den SA-Leuten ins nahe gelegene Rathaus abführen. Schon auf dem Weg wurden die Festgenommen geschlagen. Die Misshandlungen wurden dann im Rathaus fortgesetzt.

Gegen 6.00 Uhr wurde ein weiteres Pensionshaus überfallen, die von Anna Cohn, protestantische Ehefrau des jüdischen Arztes Max Cohn, betriebene „Villa Frohsinn“. Die Fensterscheiben wurden eingeworfen, eine Verandatür eingeschlagen. Die SA-Leute drangen durch die inzwischen geöffnete Haustür ein. Der 76-jährige Max Cohn wurde als „Saujude“ beschimpft und schikaniert; an den Folgen starb er einige Zeit später. Außer ihm wurden alle Hausbewohner zum Rathaus gebracht. Am nächsten Morgen warfen Schulkinder Steine ins Haus.

Gebäude Bad Harzburg

Ansichtskarte des Hauses Frohsinn, nach 1932. Sammlung Markus Weber

Bei allen anderen Juden des Ortes wurde eine Razzia durchgeführt, auch deren Wohnungen wurden beschädigt und deren Bewohner verhaftet. Die Frauen und der 78-jährige Hermann Rothgießer wurden schließlich am Morgen des 10. November nach Hause entlassen, während die übrigen Männer im offenen Polizeiomnibus von den Braunschweiger SS-Männern abtransportiert und zunächst in das Strafgefängnis in Wolfenbüttel eingeliefert wurden. Sieben Männer mit Harzburger Wohnsitz finden sich im Gefangenenbuch. Welche weiteren Männer, zum Beispiel Gäste in den überfallenen Häusern, in Bad Harzburg festgenommen wurden, ist nicht geklärt. Am 11. November wurden die Inhaftierten dann in das KZ Buchenwald verbracht.

Buch

Gefangenenbuch des Gefängnisses Wolfenbüttel mit den Namen der verhafteten Juden, 1938. Nds. Landesarchiv, Standort Wolfenbüttel, 43 A Neu Fb. 3 Nr. 5

Mme. de Boer, in Bad Harzburg wohnhafte französische Staatsbürgerin und aufmerksame Beobachterin des Geschehens, notierte zu den Ereignissen in ihrem Tagebuch: „Die Menschen hier verhalten sich apathisch.“

Gaststätte

Ansichtskarte des Hotels Ernst-August, 1925. Sammlung Markus Weber

Die Synagoge des ehemaligen Hotels „Parkhaus“ wurde – entgegen anderslautender Berichte – nicht am 9./10. November 1938 zerstört. Das Hotel war bereits 1933 an einen nicht-jüdischen Besitzer übergegangen und das Synagogengebäude in den Jahren 1935/36 abgerissen worden.

Im Anschluss an das Novemberpogrom starben drei Harzburger Bürger jüdischen Glaubens: Sanitätsrat Dr. Max Cohn starb 15. Dezember nach längerem Leiden an den Folgen der Misshandlungen. Zuvor war schon sein Sohn Herbert Cohn am 30. November den Misshandlungen und Lebensbedingungen im KZ Buchenwald erlegen. Der Bitte der Ehefrau und Mutter, Anna Cohn, beide auf dem protestantischen Friedhof in Harzburg beizusetzen, wurde nicht stattgegeben. Sie wurden unter Bewachung von SS-Leuten auf dem jüdischen Friedhof in Wolfenbüttel bestattet. Der Hotelier Max Ohrenstein starb nach seiner Entlassung aus dem KZ am 26. Dezember im Harzburger Fritz-König-Stift.

Ursula Cohn, Ehefrau von Herbert Cohn, konnte letztlich mit ihrem fünfjährigen Sohn Charlie-Max nach England fliehen. Anna Cohn, obwohl „rein arische Ehefrau“ von Dr. Max Cohn, musste ihre kleine Pension zunächst schließen und zog nach Berlin, kehrte aber wieder zurück und konnte die Villa im Herbst 1940 als Unterkunft für Schülerinnen eines Lehrinstituts wieder eröffnen.

Noch im KZ musste Max Ohrenstein den Verkauf seines Hotels unterschreiben. Die Harzburger Zeitung kommentierte das Ende des letzten jüdischen Hotels am 24. November: „Damit ist aus der Harzburger Verkehrswirtschaft das letzte Überbleibsel geschwunden und ausgetilgt, das uns immer wieder an die heute als ein böser Traum erscheinende Judenschande der Nachkriegsjahre erinnerte.“ Marie Ohrenstein konnte über Leipzig in die USA emigrieren.

Am Ende des Jahres 1938 gab es keinen Betrieb in Bad Harzburg mehr, der jüdische Besitzer hatte. Der seit 1935 forciert betriebene Versuch, die jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus der Wirtschaft und dem Gastgewerbe zu verdrängen und jüdische Gäste aus Bad Harzburg fernzuhalten, war schließlich 1938 gelungen. Nur noch einige ältere Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens blieben über das Jahr 1938 hinaus in Bad Harzburg wohnen. Sie starben noch in Bad Harzburg oder wurden ab 1942 nach Osten deportiert.

Auch für einige nichtjüdische Harzburger Bürger hatten die Ereignisse der Nacht vom 9. zum 10. November unangenehme Folgen. Sie hatten sich darüber in einer Bündheimer Kneipe, einem heutigen Ortsteil von Bad Harzburg, unterhalten und waren vom Parteigenossen Heinrich Brüdern beim Ortsbürgermeister Jäger denunziert worden, weil sie angeblich „für die Juden Partei ergriffen“ und das Geschehen verurteilt hatten. Es wurden Ermittlungen durch das NSDAP-Kreisgericht (für drei NSDAP-Mitglieder) sowie durch die Staatsanwaltschaft auf der Grundlage des Heimtückegesetzes eingeleitet, u.a. gegen den Sozialdemokraten und ehemaligen Bürgermeister von Bündheim, Fritz Ossenkopf. Die Verfahren wurden letztlich eingestellt; es blieb bei Ermahnungen der Beschuldigten, die zu Protokoll gaben, sie hätten nur die Zerstörung der Sachwerte, nicht aber die Verfolgung der Juden als solche kritisiert.

Gastronomie

Der Speisesaal des Hotels Ohrenstein nach der Arisierung, nach 1940. Sammlung Markus Weber

Herbert Cohn, Häftlingsnummer 24068 im KZ Buchenwald, starb mit 38 Jahren am 30. November 1938 um 11.30 Uhr im Konzentrationslager. Herbert Cohn war Sportlehrer und Kaufmann, 1938 in Hildesheim beruflich tätig, seine Familie wohnte aber bei seinen Eltern in Bad Harzburg. Zur Todesursache gibt es unterschiedliche Angaben. Einer Mitteilung des Schutzhaftlagers an die KZ-Kommandantur vom gleichen Tage notiert „akute Herzschwäche im Erregungszustand“ und eine Nachkriegsaufstellung verzeichnet Herzversagen, akute Psychose und Harnvergiftung – ein Zusammenwirken mithin, das bei Betrachtung der Zustände im KZ und bei den körperlichen und seelischen Belastungen nicht verwundern muss. Die Urne mit seiner Asche wurde nach Bad Harzburg überführt.

Bescheid des Finanzamtes Wolfenbüttel über die Judenvermögensabgabe für Max Cohn, 13. Dezember 1938. Nds. Landesarchiv, Standort Wolfenbüttel, 4 Nds., Zg. 41/1992 Nr. 379

Sterbeurkunde des Standesamtes Weimar für Max Cohn, 16. Dezember 1938. Nds. Landesarchiv, Standort Wolfenbüttel, 4 Nds., Zg. 41/1992 Nr. 379

Der 33-jährige Hugo Heilbrunn, in Bad Harzburg im Hotel Ernst August als Hausgehilfe beschäftigt, war von Beruf Viehhändler. Wahrscheinlich war die Beschäftigung im Hotel eine der wenigen verbleibenden Möglichkeiten für ihn, den Lebensunterhalt zu verdienen. Im KZ Buchenwald trug er die Häftlingsnummer 3921. Er wurde sehr spät entlassen, erst am 12. April 1939.

Die Inhaftierung sollte aus Sicht des NS-Staates dazu dienen, sich möglichst bald den Besitz der Juden anzueignen und sie zur Ausreise zu bewegen. So konnte die Entlassung nur dann recht zügig erfolgen, wenn beide Voraussetzungen erfüllt waren. Die Angehörigen zu Hause waren angehalten, die Ausreise zu organisieren, zum Beispiel die Pass- und Visum-Angelegenheiten zu regeln. Seine Braut Selma Berger hatte sich in Köln um die nötigen Ausreisepapiere bemüht; der Effektenkarte aus Buchenwald ist zu entnehmen, dass ihr Hugo Heilbrunns Pass und Zeugnisse am 8. März 1939 zugestellt wurden. Nach der Entlassung aus Buchenwald heirateten Selma Berger und Hugo Heilbrunn am 6. Juni 1939. Sie hatten die Ausreise organisiert – auf unterschiedlichen Wegen wollten sie in die USA reisen und sich in New York treffen. Diese Pläne scheiterten am Krieg und an der verschärften Verfolgung. Selma Heilbrunn hatte ein Flugticket nach New York für Anfang September erhalten, aber der Flug wurde nach Kriegsbeginn gestrichen. Sie wurde 1941 mit anderen Familienmitgliedern nach Litzmannstadt (Łódź) deportiert und 1942 im Vernichtungslager Kulmhof (Chełmno) ermordet. Hugo Heilbrunn erreichte im August Dover und wartete auf die Weiterreise per Schiff, die aber ebenfalls wegen des Kriegsbeginns verhindert wurde. So blieb er zunächst in einem Lager in Sandwich (Kent), das eingerichtet worden war, um jüdische Männer aufzunehmen, die vor der Verfolgung nach dem Novemberpogrom flüchten konnten. 1940 wurde das Lager aufgelöst und er fand, zunächst ohne Geld und Arbeit, Unterkunft in Belsize Park im Nordwesten Londons, wo sich eine deutsche Gemeinschaft etabliert hatte. Er arbeitete dann als Lagerarbeiter in einem Lederwaren-Großhandel eines entfernten Verwandten. In Belsize Park lernte er Grete Feldmann, eine aus Wien geflohene Jüdin, kennen, mit der er 1946 eine neue Familie gründete. Bis zu seinem Tod 1988 reiste Hugo Heilbrunn immer wieder nach Deutschland, ob auch nach Bad Harzburg, weiß sein Sohn nicht.

Der 17-jährige Lehrling Heinz Demant aus dem „Haus Frohsinn“ erhielt in Buchenwald die Häftlingsnummer 24111 und wurde nach gut einem Monat, am 17. Dezember 1938, entlassen. Die Wiedergutmachungsbehörde in Neustadt an der Weinstraße teilte 1962 mit, dass es ihm gelungen war, zunächst am 5. Januar 1939 mit einem Kindertransport nach England auszureisen und anschließend am 18. Dezember 1939 mit dem Schiff Lancanstria allein in die USA weiterzureisen.

Dort zog er in den US-Staat Michigan, erhielt die US-Staatsbürgerschaft, erlernte den Beruf eines Innendekorateurs und heiratete Margaret Demant, geb. Herz. Er starb am 27. März 1983; sein Grab findet sich heute auf dem jüdischen Friedhof „Beth El Memorial Park Cemetery“ in Livonia im US-Staat Michigan.

Kurt Julius Landauer, 53 Jahre alt, Kaufmann von Beruf und Inhaber einer 1852 gegründeten Textilgroßhandlung in Braunschweig, wurde mit der Häftlingsnummer 23925 in Buchenwald geführt. Er war verheiratet mit Gertrud Landauer, Tochter des Braunschweiger Mathematikprofessors Robert Fricke und dessen Frau Leonore. Das Ehepaar Landauer gehörte der lutherischen Kirche an und hatte zwei Kinder, den Sohn Gerd und die Tochter Ellinor. In Bad Harzburg wohnte die Familie seit 1932 dauerhaft in einem Haus am Eichenberg, das Gertrud Landauer zusammen mit ihrem Bruder geerbt hatte. Kurt Landauer unterhielt zur Führung der Geschäfte eine Zweitwohnung in Braunschweig. Vor 1933 war die Textilfirma ein florierendes Unternehmen, der Umsatz war jedoch „durch NS-Verfolgungsmaßnahmen, insbesondere durch den Boykott stark zurückgegangen“, wie sich ein ehemaliger Angestellter der Firma erinnerte.

Am 7. Dezember 1938 wurde Kurt Landauer aus dem Konzentrationslager entlassen. Kurz danach wurde er von den Behörden gezwungen, die Firma zu liquidieren, und lebte seitdem fast ausschließlich in Bad Harzburg. Schon am 31. Dezember 1938 überwies er eine erste Rate der sog. „Judenabgabe“ in Höhe von 2179 RM an das Finanzamt Braunschweig- Stadt. Zu dieser Zahlung waren alle Juden nach der am 14. November 1938 im Reichsgesetzblatt veröffentlichten „Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit“ verpflichtet – zynischer Weise, um für die Schäden des Pogroms vom 9./10. November aufzukommen. Eine zweite Rate von 2200 RM ging am 5. Dezember 1939 an das Finanzamt Wolfenbüttel.

Zunehmend bedurfte seine Mutter, deren Haus in Braunschweig 1942 enteignet worden war und die „unter menschenunwürdigen Bedingungen in Braunschweig, Hagenbrücke, untergebracht“ war, der Hilfe ihres Sohnes. So zog Kurt Landauer zu seiner 83-jährigen Mutter in das „Judenhaus“ Hagenbrücke 6–7. Am 16. März 1943 setzte Kurt Julius Landauer mit Hilfe des Schlafmittels Veronal seinem Leben ein Ende.  Gertrud Landauer berichtete später über die genaueren Umstände des Todes ihres Ehemannes und seiner Mutter: „Im März 1943 sollte meine Schwiegermutter nach Theresienstadt deportiert werden. Um diesem furchtbaren Schicksal zu entgehen, schied sie freiwillig aus dem Leben. Infolge der damals aussichtslosen Lage meines Mannes entschloss er sich zu dem gleichen Schritt.“ Nach seinem Tod war die Familie Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt, da die Ehefrau zwar nicht Jüdin war, aber nach nationalsozialistischem Verständnis in einer „Mischehe“ gelebt hatte und die Kinder somit als „Mischlinge“ galten. Ihr Nachbar am Harzburger Eichenberg erinnerte sich später: „Die in Bad Harzburg zurückbleibende Ehefrau mit ihren beiden Kindern, durch die politischen Maßnahmen verarmt, wurde 1944 einer weiteren quälerischen Ängstigung ausgesetzt, als ihr Sohn Gerd in das Zwangsarbeiterlager Blankenburg-Derenburg eingewiesen wurde.“

Denkmal

Grabstätte der Familie Landauer auf dem jüdischen Friedhof an der Helmstedter Straße, 2018. Foto: Jakob Weber

 

Der Hotelier Max Ohrenstein war 1874 in Berlin geboren worden. Nach verschiedenen Stationen in Berlin erwarb er 1921 gemeinsam mit seiner Ehefrau Marie Ohrenstein das traditionsreiche Hotel „Ernst August“ in Bad Harzburg. 1927 wurde Ohrenstein Vertrauensmann der Harzburger Ortsgruppe des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV). In dieser Funktion wirkte er immer wieder auch politisch und wies die verantwortlichen Politiker der Stadt auf Missstände wie Belästigungen jüdischer Gäste oder andere antisemitische Vorkommnisse hin. So forderte er im Juni 1929 ein Verbot der Betätigung rechtsextremer Parteien und Verbände im Stadtgebiet, um die jüdischen Gäste zu schützen. Die städtischen Vertreter nahmen diese Forderungen durchaus ernst und richteten einen Appell an die Harzburger Bevölkerung, „während der Kurzeit“ störende politische Kundgebungen zu unterlassen, sahen aber keine rechtliche Handhabe eines Verbotes. Allerdings richtete sich die Stadt 1930 an das Land Braunschweig mit einem Antrag, ein Uniformverbot für das Stadtgebiet zu erlassen, was vom sozialdemokratischen Innenminister jedoch abgelehnt wurde.

Auch nach seinem Rücktritt als CV-Obmann nach vorangegangenen internen Querelen 1933 wandte sich Ohrenstein immer wieder an die Stadt, um auf judenfeindliche Zustände – wie die Errichtung von antisemitischen Schildern an den Einfahrtsstraßen und am Bahnhof – hinzuweisen und deren Entfernung zu fordern. In den Jahren 1936/37 versuchte die Harzburger Bank Ohrensteins Hotel wegen der wirtschaftlichen Schieflage zwangsweise zu versteigern, wogegen Ohrenstein vor dem Amtsgericht in Bad Harzburg klagte. Sein Widerspruch wurde mit der Begründung abgewiesen, einer deutschen Genossenschaftsbank könne nach der „volksgemeinschaftlichen Neuordnung“ nicht zugemutet werden, weiterhin an einen „Gemeinschaftsfremden gekettet“ zu bleiben. Dennoch konnte Max Ohrenstein sein Hotel noch bis 1938 halten.

Nach dem Überfall auf sein Hotel am frühen Morgen des 10. November wurde er mit sechs weiteren Personen über das Strafgefängnis Wolfenbüttel ins KZ Buchenwald eingeliefert. Noch während des KZ-Aufenthaltes teilte die Stadtpolizeibehörde Anfang Dezember dem Landkreis mit, dass Max Ohrenstein seinen Hotelbetrieb am 15.11.1938 „abgemeldet und aufgegeben“ habe. Nach seiner Entlassung aus dem KZ begab Ohrenstein sich wegen seines aufgrund der Misshandlungen schlechten körperlichen Zustandes direkt zur Behandlung in das Fritz-Königs-Stift, wo er am 26. Dezember 1938 starb.

Mitteilung des Standesamtes Bad Harzburg über Sterbefälle, darunter Max Ohrenstein, Harzburger Zeitung, 2. Januar 1939. Archiv Goslarsche Zeitung

Bürgermeister Hermann Berndt, Jahrgang 1899, trat 1930 in die NSDAP, wurde bereits 1931 Stadtverordneter und kommissarischer Ortsgruppenleiter der NSDAP. 1933 wurde er zunächst als Staatskommissar in Bad Harzburg eingesetzt, dann Bürgermeister und damit auch Chef der Stadtpolizeibehörde. 1936 ernannte man ihn zum Geschäftsführer der Kurbetriebsgesellschaft und zum ehrenamtlichen Kurdirektor. 1940 wurde er schließlich Bürgermeister auf Lebenszeit. 1942 wurde er hauptamtlicher Kurdirektor und trat in die SS ein, erhielt 1944 den Rang eines Hauptsturmführers.

Berndt bekannte sich im Nachkriegsverfahren als „geborener Antisemit“. In zahlreichen öffentlichen Reden hetzte er gegen Juden und politisch Andersdenkende. 1935 war er verantwortlich für den Ausschluss der Juden aus den öffentlichen Bädern. Als Chef der Stadtpolizeibehörde war er ebenfalls an der Verfolgung Andersdenkender beteiligt.

Am 11. April 1945, dem Tag des Einmarsches der amerikanischen Truppen, übertrug er sein Amt an den Leiter des Reservelazaretts und floh, wurde aber kurze Zeit später gefasst und in das Lager Staumühle bei Paderborn gebracht. Im Januar 1948 fand ein Prozess gegen Berndt vor dem Spruchgericht Hiddesen statt, das in Bad Harzburg tagte. Wegen Willkürhandelns zum Schaden der Harzburger Bürger und Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation wurde er zu fünf Jahren Haft verurteilt. In einer Berufungsverhandlung vor dem Spruchgericht Bielefeld wurde die Strafe in 10 Monate Haft umgewandelt, die durch die Zeit der Internierung als verbüßt galt. Später wurde er als „Mitläufer“ eingestuft.

1952 wurde er mit den meisten Stimmen aller Gewählten für die FDP in den Stadtrat gewählt, gleichzeitig wurde er Kreistagsabgeordneter. Ab 1953 betrieb Berndt seine Wiedereinsetzung als Bürgermeister, was von CDU und SPD abgelehnt wurde. Da er aber seine Pensionsansprüche eingeklagt hatte, wurde er 1957 als Kurdirektor eingesetzt, was er bis 1963 blieb. Hermann Berndt starb im Februar 1964 in Bad Harzburg.

Nach 1945 gab es zwei Gerichtsverfahren, die sich mit den Geschehnissen im November 1938 in Bad Harzburg befassten.

In einem ersten Verfahren am 17. Juni 1948 waren vier beteiligte SA-Männer aus Bad Harzburg vor dem Landgericht Braunschweig angeklagt:

  • der frühere Gerichtsvollzieher Kurt Goedecke, geb. am 13.12.1898 in Braunschweig,
  • der Elektro-Ingenieur Otto Michaelis, geb. am 17.3.1902 in Westerode,
  • der Maurer Wilhelm Petri, geb. am 18.2.1887 in Harlingerode und
  • der Rentner Willi Breustedt, geb. 4.2.1880 in Bad Harzburg.

Alle Beschuldigten bestritten, an den Übergriffen beteiligt gewesen zu sein und äußerten, sie hätten ihr Missfallen dagegen kundgetan. Das Gericht beurteilte dies als „Schutzbehauptungen“ der Angeklagten, kam dennoch zu dem Urteil, dass lediglich der Angeklagte Goedecke der Beteiligung überführt werden könne. So wurden Michaelis, Petri und Breustedt freigesprochen. Kurt Goedecke wurde wegen Landfriedensbruch nach § 125 StGB zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Eine Verurteilung nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 – Verbrechen gegen die Menschlichkeit – wurde verneint. Das Gericht erblickte in den Geschehnissen „keine unmenschlichen Handlungen […], da insoweit nicht einmal erhebliche körperliche oder seelische Misshandlungen vorlagen.“ Auch Vorsatz des Angeklagten Goedecke konnte das Gericht nicht erkennen.

Gegen das Urteil gingen sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft in Revision. In einer Verhandlung am 8. Februar 1949 verwarf der Strafsenat des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone in Köln die Revision des Angeklagten. Der Revision der Staatsanwaltschaft wurde zugestimmt, so dass das Urteil aufgehoben wurde und das Verfahren neu verhandelt werden musste. Das Gericht sah den Tatbestand eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit als gegeben an.

In einer neuen Verhandlung am 18. und 21. Mai 1949 vor dem Landgericht Hildesheim wurde Goedecke wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Tateinheit“ mit Landfriedensbruch und Freiheitsberaubung zu einer Zuchthausstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Das Gericht betonte den Willkürcharakter der Vorgänge und die „kaum zu überbietende seelische Misshandlung und Missachtung der hilflosen Opfer“.

Auch im Verfahren gegen den NSDAP-Ortsgruppenleiter und Bürgermeister Hermann Berndt wurden die Ereignisse im November 1938 zum Gegenstand der Anklage. Das Spruchgericht Hiddesen verurteilte Berndt am 23. Januar 1948 zu fünf Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von 10.000 Reichsmark wegen seiner Mitgliedschaft in der SS und der Kenntnis der verbrecherischen Handlungen der Organisation. In der Begründung wurde auch darauf verwiesen, dass er „geldliche Vorteile“ aus seiner Tätigkeit gezogen habe.

Obwohl Berndt sich am 9./10. November 1938 nicht in Bad Harzburg aufhielt, legte das Gericht ihm zur Last, dass er als für die Stadtpolizeibehörde Verantwortlicher nach der Rückkehr von seiner Reise nichts veranlasste, um die Ereignisse aufzuklären und die unterlassenen „Schutzmaßnahmen“ für die verfolgten Juden zu ahnden.

In einer Sitzung des Spruchgerichts Bielefeld vom 31. August 1949 wurde die Strafe gegen Berndt in eine zehnmonatige Gefängnisstrafe umgewandelt.

In den frühen Jahren der Bundesrepublik waren die gegen die jüdische Bevölkerung gerichteten Verbrechen auch in Bad Harzburg kein Thema öffentlicher Gedenkkultur. Allerdings gab es 1952eine Auseinandersetzung um den Eintritt des ehemaligen Bürgermeisters Berndt in den Rat. SPD und CDU lieferten sich wegen der erheblichen Belastungen Berndts eine scharfe Debatte mit der FDP-Fraktion, der Berndt angehörte.

Trotz der judenfeindlichen Schrift „Israel und wir“ wurde dem Schriftsteller Rudolf Huch 1965 ein Gedenkstein mit einem Bronze-Reliefporträt des Dichters an der nach ihm seit 1932 benannten Straße errichtet. Dort befand sich auch eine Hauptschule, die den Namen von Rudolf Huch trug, bis sie in den 1980er Jahren geschlossen wurde. Offenbar war das Wissen um die Ereignisse im Nationalsozialismus verdrängt.

Das Gedenken an das Novemberpogrom wurde zum ersten Mal zum 50. Jahrestag 1988 begangen. Der Braunschweiger Pfarrer Dietrich Kuessner hatte Recherchen über die Vorgänge im Bereich der Landeskirche angestellt und stellte erste Erkenntnisse in der Bündheimer St. Andreasgemeinde vor. Er hatte auch zu ehemaligen jüdischen Bürgern Harzburgs Kontakt aufgenommen. Von den Kirchen, evangelischer Jugend und dem Arbeitskreis Frieden wurde ein Gang durch die Stadt zu Stätten von nationalsozialistischen Verbrechen organisiert, der ein breites öffentliches Echo fand. Die an diesem Tag initiierte Petition, am Ort der ehemaligen Synagoge einen Gedenkstein zu errichten, wurde von den Vertretern der Stadt abgelehnt.

Am Ort des ehemaligen Hotels von Max Ohrenstein, das inzwischen Teil einer Pharma-Produktionsfirma war, ließen die Firmeninhaber 1995 ein Kunstwerk des Frankfurter Künstlers Peter E. Mossmann errichten. Die Messingröhren der Skulptur zeigen in stilisierter Form die hebräischen Buchstaben des Wortes Schalom. Hintergrund dazu war auch das Wissen, dass Ohrensteins Hotel nach 1945 als jüdisches Erholungsheim genutzt worden war, in dem 1948 die Gründung des Staates Israel gefeiert wurde. Das Kunstwerk steht seit einigen Jahren im unteren Badepark.

1999 ließ die Stadt am Eingang des städtischen Friedhofs eine Gedenktafel mit den Namen der Opfer des Nationalsozialismus anbringen, auf der auch die Namen der jüdischen Opfer verzeichnet sind.

Schild

Gedenktafel auf dem städtischen Friedhof, 2018. Foto: Jakob Weber

Die Chronik der Stadt Bad Harzburg aus dem Jahre 2000 sollte bewusst auch die Harzburger Front und die Zeit des Nationalsozialismus ebenso wie das Schicksal jüdischer Bürger und Bürgerinnen berücksichtigen. Einer der Verfasser, Kurt Neumann, hatte zu weiteren ehemaligen jüdischen Bürgern Kontakt aufgenommen. Der Kontakt zur Familie Boas, die im Stadtteil Bündheim ein Textilgeschäft unterhalten hatte und der teilweise die Auswanderung nach Israel gelungen war, führte 2008 zur Anbringung einer Erinnerungstafel mit den Namen der in den nationalsozialistischen Lagern umgekommenen Familienmitglieder an ihrem 1936 „arisierten“ Haus.

Im Zuge der Erinnerung an die Tagung der sog. Harzburger Front von 1931 beschäftigte sich der Verein Spurensuche Harzregion auch mit der jüdischen Geschichte des Ortes, da die Resolution des Bündnisses der republikfeindlichen Parteien und Organisationen auch eine antisemitische Stoßrichtung hatte. Schon in der 2009 eröffneten Ausstellung wurde dieser Aspekt einbezogen. Als Nachfolgeprojekt konnten im Rahmen von Geschichtstafeln im gesamten Stadtgebiet auch Informationstafeln zur jüdischen Geschichte aufgestellt werden, so z.B. am ehemaligen Hotel Parkhaus mit Synagoge, am Eingang zum Kurpark und vor dem ehemaligen Hotel von Max Ohrenstein.

Bad Harzburg

Informationstafel in der Fußgängerzone vor dem ehemaligen Hotel Parkhaus, 2018. Foto: Markus Weber

Am 9. November 2018 wurde eine Informationstafel zu den Ereignissen während des Novemberpogroms vor dem Schalom-Denkmal im Badepark eingeweiht. Foto: Markus Weber

Skulptur

Denkmal im Badepark, 2018. Foto: Jakob Weber

Bein, Reinhard (Hg.), Juden in Braunschweig 1900 – 1945. Materialien zur Landesgeschichte, Braunschweig, o.J.

Keßler, Katrin / Knufinke, Ulrich (Hg.), Jüdische Kultur und Geschichte in der Region Braunschweig-Wolfsburg, München 2017 (= Merian-Guide).

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