Polle
Vorgeschichte
Die ersten Juden in Polle, einer kleinen hannoverschen Exklave inmitten braunschweigischer und lippischer Gebiete, sind für das Jahr 1671 nachweisbar. 1825 lebten fünf jüdische Familien im Ort. Hausbesitz war selten und sollte die Ausnahme bleiben.
Das Steueraufkommen der jüdischen Familien war gering. Von sechs jüdischen Familien, die 1856 in Polle wohnten, zahlten drei keine Steuern, waren also arm. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts blieb die Rechtsstellung der Poller Juden schlecht.
Die volle Gleichberechtigung brachte das Jahr 1867 mit dem Ende des Königreiches Hannover und der von Preußen beeinflussten großzügigen Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes. Mit diesem Datum beginnt der Aufstieg der Poller Juden.
1873 finden sich fünf Hausbesitzer, später vier. Es gab in Polle mindestens zwei offene Ladengeschäfte. Die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren die Blütezeit der jüdischen Gemeinde Polle.
Ein gemieteter Betsaal in einem Hinterhaus ist seit 1843 in Polle nachweisbar. 1872 wurde ein Jude Schützenkönig, ein Hinweis darauf, dass das Zusammenleben von Christen und Juden in Polle harmonisch verlief.
Die Landflucht setzte in Polle, das keinen Bahnanschluss bekam und verkehrstechnisch sehr ungünstig lag, sehr früh ein. Seit 1912 lebte nur noch eine Familie am Ort, die Familie Max Nachmann. Ohne eine formelle Auflösung war die jüdische Gemeinde erloschen.
Die Ereignisse im November 1938
Am 9. oder 10. November 1938 versammelten sich Poller Bürger vor dem Nachmannschen Wohn- und Geschäftshaus in der Burgstraße 27, zertrümmerten mit Steinen die Fensterscheiben der im ersten Stock liegenden Wohnung und verwüsteten diese. Unter den Steinewerfern sollen zahlreiche Kinder gewesen sein; wer am besten warf, bekam einen Bonbon.
Am 10. November 1938 gegen 9 Uhr morgens lieferten Poller SA-Männer die Eheleute Max und Minna Nachmann in das Gefängnis Bodenwerder ein. Als Grund war „Schutzhaft“ angegeben. Bei ihrer Einlieferung hatte man ihnen verschiedene Gegenstände abgenommen (u. a. Bargeld, eine Taschenuhr mit Kette, drei Schlüssel).
Die Anordnung kräftige und gesunde Männer zu verschleppen, hatte die Poller SA in ihrem Übereifer übersehen. Max Nachmann war damals 73 Jahre alt und schwer krank. Frauen sollten gar nicht festgenommen werden.
Am nächsten Tage wurden die beiden wieder frei gelassen und konnten nach Polle zurückkehren. Auch die beschlagnahmten Gegenstände wurden ihnen wieder ausgehändigt.
Auf dem jüdischen Friedhof, der in extremer Lage auf dem Birkenberg hoch über dem Ort liegt, sollen 40 – 50 Grabsteine gestanden haben. Die Einfriedung des Grundstücks bestand aus aufrecht stehenden großen Sandsteinplatten. Einige Tage nach dem 10. November 1938 wurde der Friedhof von der örtlichen SA zerstört, die zahlreichen Steine abgefahren und weiterverwendet. Über ihren Verbleib ist nichts bekannt.
Folgen
Die Eheleute Nachmann sollen es in der Folge sehr schwer gehabt haben, ihre täglichen Einkäufe zu erledigen. Sie haben ärmlich und völlig zurückgezogen gelebt. Aber sie hatten auch zu dieser Zeit noch Freunde, die halfen.
Nach dem Tod von Max Nachmann 1940 zog Julius Rothenberg, der jüngere Bruder von Minna Nachmann, aus Dassel nach Polle zu seiner Schwester. Das Amtsgericht Bad Pyrmont hatte ihn zu ihrem Pfleger eingesetzt.
Minna Nachmann und ihr Bruder Julius Rothenberg wurden einige Tage vor dem 24. Juli 1942 auf Anordnung des Landrats von Hameln-Pyrmont aus Polle nach Hannover-Ahlem verschleppt. Laut Augenzeugen wurden mit einem PKW abgeholt.
Die neunundsiebzigjährige Minna starb wenige Tage nach ihrer Ankunft am 3. August 1942 in Theresienstadt, ihr sechs Jahre jüngerer Bruder wenige Monate später am 25. Dezember 1942.
Möbel, Bilder und Hausrat der letzten jüdischen Familie des Ortes wurden öffentlich versteigert, das Geld an das Finanzamt Hameln abgeführt.
Biografie - Max Nachmann
Die Familie Nachmann ist wahrscheinlich die älteste jüdische Familie Polles. Die „Manufaktur- und Modewarenhandlung Nachmann Meyer Nachmann“ übernahm der 1865 geborene Max Nachmann von seinem Vater. Um 1900 baute er das Haus in der Burgstraße 27 als Wohn- und Geschäftshaus.
Max Nachmann war mit Minna Rothenberg aus Dassel verheiratet. Zwei Töchter waren früh verstorben. Sohn Robert (geb. 1896) verließ Polle und etablierte sich in Oerlinghausen mit einem Produktengeschäft.
Die Familie lebte bescheiden. Minna Nachmann hat nicht koscher gekocht. Für ihren Mann war es selbstverständlich, das Geschäft am Sabbat zu öffnen. Weihnachten feierte die Familie zusammen mit befreundeten christlichen Familien des Ortes. Bis 1933 sollen Nachmanns im Bewusstsein des Ortes gar nicht als Juden präsent gewesen sein.
Das Kleidergeschäft ging gut und war wegen der Qualität seiner Waren bekannt. Max Nachmann pflegte mit seinem Musterkoffer auch über die Dörfer zu ziehen. „Schammel“ genannt, sprach er mit den Leuten auf den Dörfern „platt“ und betätigte sich auch als Heiratsvermittler.
Bereits 1922 nahm Max Nachmann seinen Angestellten Wilhelm Klages als Teilhaber auf. 1935 wurde Klages Alleininhaber. Dieser Wechsel sollte das Geschäft vor den üblichen Boykotten schützen.
Der 1935 bereits schwer kranke, 70 Jahre alte Max Nachmann wollte weiter verkaufen. Um nicht gesehen zu werden und um niemanden zu kompromittieren, kam er nach Einbruch der Dunkelheit in die Häuser. Als er denunziert und in Bodenwerder über Nacht eingesperrt wurde und am nächsten Tag die vierzehn Kilometer nach Polle zu Fuß laufen sollte, fanden sich Leute, die dem alten Manne halfen.
Das Geld aus dem Grundstücksverkauf an Max Klages unterlag der Devisenüberwachung durch das Finanzamt, musste auf ein Sperrkonto gehen, aus dem monatlich 300 RM zum Lebensunterhalt ausgezahlt wurden.
1940 erkrankte Max Nachmann so schwer, dass er für eine Operation in das israelitische Krankenhaus in Hannover gehen musste. Dort starb er am 21. April 1940. Max Nachmann wurde auf dem jüdischen Friedhof in Hannover-Bothfeld begraben. Sein Grab hat keinen Stein erhalten.
Justizielle Ahndung
Robert Nachmann, der Sohn der Eheleute Nachmann, ist nach dem Kriege nie nach Polle zurückgekommen. Er strengte jedoch gegen Wilhelm Klages einen Prozess auf Wiedergutmachung an, und Klages musste Geld nachzahlen.
Eine juristische Aufarbeitung hat es darüber hinaus nicht gegeben.
Spuren und Gedenken
An das jüdische Leben in Polle erinnert allein der kleine jüdische Friedhof. Das Gelände ist von einem Jägerzaun umfasst und von Birken sowie einer mächtigen Eiche bestanden. Es ist ohne Grabsteine, und auch Reste von Grabfeldern sind nicht erkennbar. Das Grundstück ist im Besitz der politischen Gemeinde Polle, die auch für die Pflege verantwortlich ist.
Auf dem Grundstück steht ein Gedenkstein, wie ihn der Landesverband der jüdischen Gemeinden in Hannover in den sechziger Jahren auch auf anderen „abgeräumten“ Friedhöfen der Umgebung gesetzt hat. Neben einer hebräischsprachigen Inschrift finden sich zwei deutschsprachige Inschriften.
Das 2003 erschienene Buch von Bernhard Gelderblom, Jüdisches Leben im mittleren Weserraum zwischen Hehlen und Polle, widmet Polle auf den Seiten 251-273 eine Darstellung.
Eine Wirkung auf die Erinnerungskultur des Ortes zeigte Bernhard Gelderbloms Vortrag zum Jüdischen Leben in Polle am 25. September 2018. Verabredet wurde u.a. Informationstafel am jüdischen Friedhof aufzustellen und fremdverwendete Grabplatten auf den Friedhof zurückzustellen.
Weiterführende Literatur und Links
Bernhard Gelderblom, Jüdisches Leben im mittleren Weserraum zwischen Hehlen und Polle. Von den Anfängen im 14. Jahrhundert bis zu seiner Vernichtung in der nationalsozialistischen Zeit. Ein Gedenkbuch, Holzminden 2003, S. 251-273
Bernhard Gelderblom, Ortsartikel Polle, in Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bände, Göttingen 2005, S. 1288-1291