November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Sarstedt

Nachweislich lebten bereits im 14. Jahrhundert Juden in Sarstedt. Doch die erste große Pestwelle („Schwarzer Tod“) in den Jahren 1347 bis 1352, für die man die Juden verantwortlich machte, beendete das jüdische Leben in der Stadt zunächst wieder. Wie an anderen Orten kam es zu Pogromen, und die Juden wurden aus Sarstedt vertrieben.

Mitte des 18. Jahrhunderts lassen sich wieder Juden in Sarstedt nachweisen. Bis ins 19. Jahrhundert gewährte man den Juden den Aufenthalt in der Gemeinde nur durch den Besitz eines kurfürstlichen Schutzbriefes, der sie außerdem dazu berechtigte, ein Gewerbe zu betreiben. Mit der Emanzipation der Juden durch das Gesetz der Rechtsverhältnisse von 1842 waren die Juden berechtigt, frei über die Wahl des Wohnortes und des Berufes zu entscheiden. Politische Rechte wurden ihnen jedoch nicht gewährt, weshalb sie auch keine staatlichen Ämter besetzen durften.

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die jüdische Gemeinde auch als Synagogengemeinde bezeichnet, da es 1815 bereits eine Synagoge gegeben haben soll, die sich jedoch nicht belegen lässt.

Möglicherweise handelt es sich nur um eine kleine Betstube, in der sich die jüdischen Bürger regelmäßig versammelten.

Der älteste Friedhof in der Feldmark „Ostertor“, von dem es keine Spuren mehr gibt, soll im 18. Jahrhundert der Ort für die ersten Bestattungen gewesen sein. Seit 1840/1841 diente der neu eingerichtete Friedhof in der Ostertorstraße als Begräbnisstätte für die jüdischen Bürger Sarstedts. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfuhr die jüdische Gemeinde mit 13 Haushalten und 85 Einwohnern ihren zahlenmäßigen Höhepunkt.

Während der Weimarer Republik war Sarstedt politisch tief gespalten. Trotz einer starken Rechten dominierten die Arbeiterparteien SPD und KPD; Bürgermeister war seit 1926 der Sozialdemokrat Otto Budschig.

Bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 wurde die NSDAP in Sarstedt die stärkste Kraft mit 1215 Stimmen. Die SPD (905 Stimmen) und die KPD (793 Stimmen) waren zusammen allerdings immer noch stärker als Hitlers Gefolgsleute. Diese setzten im November 1933 Friedrich Niemann als Bürgermeister ein.

Zu dieser Zeit lebten in Sarstedt noch etwa 25 Juden. Mit der zunehmenden Ausgrenzung der Juden zerbrach das Miteinander zwischen den Bürgern jüdischer und christlicher Konfession in Sarstedt.

Die Vereinigung der Händler wurde „gleichgeschaltet“, und einige Bürger erhielten anonyme Drohbriefe, in denen sie als „Judenfreunde“ bezeichnet wurden. Mitte der 1930er Jahre versammelten sich regelmäßig SA- und SS Männer vor den Geschäften jüdischer Eigentümer. Diese wanderten überwiegend in größere Städte ab oder emigrierten ins Ausland. 1938 lebten noch fünf Juden in Sarstedt, und es existierte nur noch ein Geschäft mit einem jüdischen Eigentümer.

Sarstedt

Sarstedt – „Städtlein im Stifft Hildesheim“, um 1645. Stadtarchiv Sarstedt

Am Abend des 9. November 1938 erhielten Ortsgruppenleiter Gustav Ziemba und Bürgermeister Friedrich Niemann von der Kreisleitung Hildesheim den Befehl, die SA und SS in Sarstedt zu alarmieren. Deren Mitglieder zogen in der Nacht durch die Stadt, verwüsteten und zerstörten jüdische Wohnungen sowie das einzig noch bestehende jüdische Textilgeschäft der Neubergs – dessen Gründer Karl Neuberg war zwei Monate zuvor, am 4. September 1938, im Alter von 76 Jahren verstorben.

Selbst vor dem jüdischen Friedhof wurde nicht Halt gemacht; die Täter warfen die Grabsteine um.

Pogrom

Verwüstetes Haus der Familie Liebmann in Sarstedt, 1939. Stadtarchiv Sarstedt

Nach den Novemberpogromen intensivierten auch die Sarstedter Juden ihre Bemühungen, ins Ausland zu emigrieren. Doch die einzig belegte Auswanderung ist die von Fritz und Alice Liebmann mit ihrer Tochter am 27. März 1939 nach Brasilien.

1941 verschlechterte sich die Lage der wenigen noch in Sarstedt verbliebenen Juden weiter. Sie wurden von der Gestapo aus ihren Wohnungen geholt und in Baracken in der Giesener Straße zusammengepfercht – darunter der ehemals wohlhabende Kaufmann Robert Neuberg und die in Armut lebende Familie Aschenbrandt.

Anfang 1942 wurden die Sarstedter wie auch die Hildesheimer Juden mit der Straßenbahn nach Ahlem bei Hannover gebracht. Mindestens elf Sarstedter Juden mussten einer Liste der Gedenkstätte Ahlem zufolge in den Zug steigen. Das Gelände der Isarelitischen Gartenbauschule war seit Herbst 1941 Sammelstelle für die Deportation der Juden aus dem Bereich der Gestapo Hannover.

Von dort aus erfolgten Mitte 1942 Deportationen in die Ghettos Theresienstadt und Riga. Unter den Deportierten befanden sich auch die Sarstedter Juden. Der 80jährige William Neuberg hatte kurz vor der Deportation den Freitod gewählt.

Das weitere Schicksal der in die Ghettos verschleppten Sarstedter Juden ist zumeist unbekannt. Familie Aschenbrandt endete nach Recherchen des „Kreis-Anzeigers“ aus den 1980er Jahren im KZ Bergen-Belsen, das sie nicht überlebte. Alle anderen Sarstedter Juden gelten als verschollen oder der Todesort ist unbekannt.

Die Steinstraße, in der viele jüdische Familien gewohnt haben, um 1940. Stadtarchiv Sarstedt

Nach dem Ende des „Dritten Reiches“ wurden die Verantwortlichen der Novemberpogrome 1938 verfolgt und unterschiedlich bestraft. Man geht davon aus, dass der Befehl für die Übergriffe direkt von der Kreisleitung der NSDAP in Hildesheim kam, da Sarstedt zum Kreis Hildesheim gehörte. Die Gestapo rückte aus Hildesheim in Sarstedt an, sicherlich unter Beteiligung von Sarsteder SA- und SS-Leuten. Es gibt keine Berichte über Verhaftungen oder Verurteilungen von Sarstedter SA- und SS-Männern.

Mit den Deportationen nach Ahlem und von dort aus in die Ghettos Riga und Theresienstadt endete 1942 das Leben der jüdischen Gemeinde in der Stadt.

Das Neubergeche Grundstück in der Steinstraße 12, einst das Textilgeschäft der Neubergs, wurde Ende 1942 von der Stadt Sarstedt aufgekauft. Bis heute hat sich an dem Gebäude äußerlich kaum etwas geändert. Zur Erinnerung an die jüdischen Bürger, die in Sarstedt lebten, hat die Stadt zum 50. Jahrestag der Pogromnacht an dem Haus eine Gedenktafel mit folgendem Wortlaut anbringen lassen:

„In diesem Haus lebte bis 1941 die Sarstedter Familie Neuberg.
Ihr und allen ermordeten jüdischen Mitbürgern zum Gedächtnis, allen Lebenden der Stadt zur Mahnung, wurde diese Gedenktafel am 50. Jahrestag der Reichspogromnacht angebracht.
9.11.1988 – Rat der Stadt Sarstedt“.

Der jüdische Friedhof in der Ostertorstraße blieb seit 1938 verwaist, da es zu diesem Zeitpunkt die letzte Bestattung gegeben hat. 1992 übernahmen aufgrund einer Initiative des Rates der Stadt Sarstedt die Orientierungsstufe, die Realschule und das Gymnasium eine Partnerschaft für die Pflege des jüdischen Friedhofs. Heute erinnert eine kleine Bronzetafel am Friedhof an die Geschichte der jüdischen Gemeinde.

Jüdischer Friedhof in Sarstedt, 2018. Foto: Werner Vahlbruch

Am 23. April 2012 wurden in Sarstedt 14 Stolpersteine gesetzt, die an die früheren jüdischen Bewohner, die im Nationalsozialismus ermordet wurden oder ausgewandert sind, erinnern.

Die Stolpersteine, die in den Fußweg vor den letzten freigewählten Wohnstätten eingelassen wurden, holen vor den Häusern Steinstraße 13, Steinstraße 21 und Lappenberg 1 die im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Juden aus der Anonymität heraus und bringen sie dahin zurück, wo sie einst lebten.

Vor dem Haus Steinstraße 13 wurden im April 2012 die ersten Stolpersteine verlegt. Foto: P. Hartmann

Sarstedter Schüler pflegen den jüdischen Friedhof in Sarstedt, um 1990. Foto: Peters

Sarstedt unterm Hakenkreuz. Das Buch zur Serie des Sarstedter Anzeigers, hg. v. Verlag Gebrüder Gerstenberg und Sarstedter Anzeigers, 2008

Vahlbruch, Werner, Juden in Sarstedt – ein Rückblick. Das Gedächtnis eines Volkes ist seine Geschichte, Sarstedt 2003.

Vernetztes Erinnern Hildesheim

Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum: Sarstedt (Niedersachsen)