Hemmendorf
Vorgeschichte
In dem verkehrsgünstig liegenden Ort war die Zahl der jüdischen Einwohner mit etwa vier Prozent stets recht hoch. Hausbesitz war selten und wurde von der Regierung für Juden erschwert. Ihre eigene Synagoge musste die Gemeinde aufgeben, als die Regierung 1844 Salzhemmendorf als Ort einer zentralen Synagoge und Schule bestimmte. Ein Friedhof befindet sich außerhalb des Ortes in Richtung Salzhemmendorf.
Um 1900 lebten drei jüdische Familien in Hemmendorf, alle in eigenen Häusern an der Hauptstraße, alle Kaufleute.
Max Catzenstein betrieb einen Handel mit Textilien. Nach seinem Tod 1931 verpachtete seine Frau Emilie den Laden. Die Familie war recht wohlhabend. Der gesellschaftliche Kontakt zu den Bewohnern war wenig ausgeprägt. Die inzwischen erwachsenen Kinder hatten den Ort verlassen.
Die Familie Zeckendorf lebte seit vier Generation im Ort. Karl (geb. 1884) übernahm als ältester von fünf Geschwistern das Haus und den Laden mit „Kolonialwaren“ und Textilien. Er war ein kleiner, stämmiger Mann, der mit Fahrrad samt Anhänger über Land fuhr. Mit seiner Frau Frieda (geb. 1889) hatte er eine Tochter, die 1925 geborene Hannelore, auffallend dunkelhaarig wie die Mutter.
Dazu lebten in Hemmendorf zwei unverheiratete Schwestern von Karl, Margarete (geb. 1886) und Thekla (geb. 1890). Thekla war bis 1938 Kontoristin bei der Wesermühle gewesen. Eine weitere Schwester wohnte in Köln. Das fünfte der Geschwister Zeckendorf, Julius Zeckendorf, war im Ersten Weltkrieg gefallen.
Die Familie Adolf Plaut kam 1889 nach Hemmendorf und kaufte damals das Haus 38. Nach dem Tod von Adolf Plaut führte seine Witwe Karoline (geb. 1859) mit der unverheirateten Tochter Klara (geb. 1890) das Textilgeschäft weiter. Die jüngere Tochter Frieda heiratete nach Hannover.
Bereits in der Weimarer Zeit war in Hemmendorf der rechtsstehende antisemitische Tannenbergbund stark vertreten. Mit dem Bauern Karl Voges, geb. 1880 in Sarstedt, wurde im Februar 1934 ein überzeugter Nationalsozialist Gemeindevorsteher.
In den Jahren 1933 bis 1938 machten die Hemmendorfer Juden keine erkennbaren Anstrengungen, auszuwandern. Eine Auswanderung war mit erheblichen Problemen verbunden, die nur in Hannover mit Hilfe von Reisebüros und Rechtsanwälten zu lösen waren.
Die Ereignisse im November 1938
Laut Zeitzeugen wurden in der Nacht des 9. November 1938 sowohl bei der Familie Plaut wie bei der Familie Zeckendorf die Fensterscheiben eingeworfen; bei Zeckendorf lagen die Stoffproben auf der Straße. Zwei Mitglieder der Familie Voges sollen maßgeblich beteiligt gewesen sein. Eine Zeitzeugin:
„Andere Beteiligte, die man später fragte, ob sie das nötig hätten, so etwas mitzumachen, sollen gesagt haben, sie wären in der Nacht plötzlich rausgeholt, ohne zu wissen, was los war und überhaupt hinterher erst hätten sie begriffen, was da geschehen ist.“
Der 54-jährige Karl Zeckendorf wurde festgenommen und in das KZ Buchenwald deportiert. Karl starb wenige Tage nach seiner Einlieferung am 21. November 1938, laut Totenschein an „Herzschwäche bei allgemeiner Sepsis“, eine Folge der entsetzlichen Zustände, die dort herrschten. Die Ehefrau soll die Urne aus Buchenwald abgeholt haben.
Bürgermeister Voges nutzte die Nacht dazu, sich persönlich zu bereichern. Er nahm den Hemmendorfer Juden ihre Wertsachen ab, einschließlich der Eheringe. Irgendwie war das den Behörden bekannt geworden. Die Zollfahndungsstelle Hannover wies Voges an, die „sichergestellten“ Gold- und Silbersachen ihren Besitzern wieder auszuhändigen.
Auch der Friedhof wurde am 9. November 1938 zerstört. Wesentlich beteiligt waren die beiden führenden Nationalsozialisten des Dorfes, darunter Heinz Voges, Sohn des Bürgermeisters Karl Voges. Die Steine sollen anschließend bei der Kirche gelegen haben.
Folgen
Nun lebten nur noch jüdische Frauen im Ort. Am 29. Dezember 1938 wurde Caroline Plaut unter Begleitung ihrer Tochter Klara in das jüdische Krankenhaus in Hannover eingeliefert. Bürgermeister Voges nutzte den Umstand, dass das Haus leer stand, zu einem neuerlichen Raub. Schuldverschreibungen des Deutschen Reiches, Zertifikate der Berliner Hypothekenbank sowie Gold- und Silbersachen wanderten in seinen Besitz. Auch diese Gegenstände musste Voges ein halbes Jahr später auf Weisung der Zollfahndung Hannover zurück erstatten.
Binnen kurzem wurde der jüdische Haus- und Grundbesitz „arisiert“. Das Haus Katzenstein wurde noch 1938 von Bürgermeister Voges gekauft. Er soll damals gleich eingezogen sein. Das Plautsche Haus fand ebenso wie das Zeckendorfsche Haus 1939 einen neuen Besitzer. Der ursprünglich vereinbarte Preis war vom Regierungspräsidenten „als hoch zu beanstandet“ und auf 10.000 RM gesenkt worden. Ein notariell zugesichertes Wohnrecht wurde nicht genehmigt.
Der Kaufpreis ging grundsätzlich auf ein Sperrkonto. Ausgezahlt wurden nur kleine monatliche Beträge, die kaum ermöglichten, das Leben zu fristen. Es ist auch nicht klar, wo die jüdischen Menschen gewohnt haben, nachdem sie ihre Häuser hatten verlassen müssen. Im Frühjahr 1939 – noch lebten Juden in Hemmendorf – gab Bürgermeister Voges den jüdischen Friedhof zur Nutzung als Garten frei.
Am 2. August 1939 – wenige Wochen vor Ausbruch des 2. Weltkrieges – gelang der 78 Jahre alten Emilie Catzenstein die Flucht zu ihrer Tochter Aenny nach Brüssel.
Ende März 1942 wurden die Hemmendorfer Juden deportiert: Klara Plaut, 52 Jahre alt (ihre 83-jährige Mutter war im Januar 1942 im israelitischen Krankenhaus in Hannover gestorben), Margarete Zeckendorf, 65 Jahre alt, und ihre Schwester Thekla Zeckendorf, 61 Jahre alt.
In einem Bollerwagen brachten die Drei ihr Gepäck zum befohlenen Sammelplatz am Rathaus. Dort mussten sie einen LKW besteigen, der auf seiner Runde durch die Dörfer weitere Juden einlud und sie nach Hameln brachte. Der Weg führte sie über Hannover-Ahlem in das völlig überfüllte Ghetto Warschau. Dort verlieren sich ihre Spuren. Das Vermögen der Deportierten galt als „beim Grenzübertritt dem Deutschen Reich verfallen“.
Voges trug unter dem 28. März 1942 drei Namen in das Einwohnermeldebuch ein mit dem Zusatz „zum Osten abgemeldet“. Anschließend wurde der Hausrat der Deportierten öffentlich versteigert. Es gibt Anlass zu vermuten, dass der überwiegende Teil vorher verschwunden war.
Biografie - Hannelore Zeckendorf
Eine Schulfreundin von Hannelore Zeckendorf (geb. 1925) beschreibt sie als „ein hübsches, liebes Mädchen mit einer freundlichen Persönlichkeit, immer fröhlich. Niemals habe sie Dinge für sich allein haben wollen, und immer haben wir uns vertragen und verstanden.“
Das Schicksal des Mädchens hat die Menschen in Hemmendorf noch lange nach dem Krieg beschäftigt. Die Schulfreundin glaubte, dass Hannelore nach England auswandern konnte und dort leben würde. Sie habe immer gehofft, etwas von ihr zu hören und die Hoffnung auch noch nicht aufgegeben. Auch andere in Hemmendorf glaubten dies.
Eine andere Zeitzeugin meint, dass Hannelore zu ihrer Tante nach Köln gegangen sei, weil sie dort zur Schule gehen konnte, ohne belästigt zu werden. Ein Ereignis erschüttert sie bis heute: Ein Puppenspieler führte den Kindern im Dorf ein Märchen vor. Punkt 20 Uhr habe der Dorfpolizist Hannelore nach Hause geschickt. Für Juden galt eine Ausgangssperre. Hannelore soll sehr geweint haben.
Tatsächlich war Hannelore 1937 zu ihrer Tante nach Köln gegangen, hauptsächlich wohl, um den Peinigungen zu entgehen, denen sie in der Schule ausgesetzt war.
Nachdem sie das Haus verkauft hatte, versuchte Hannelores Mutter, Hemmendorf zu verlassen. Auf den Dörfern traf der Judenhass die Menschen viel direkter als in den Städten. 1940 war sie für einen Monat in Hannover gemeldet, kam aber unverrichteter Dinge zurück. Vier Monate hielt sie sich in Peine auf, kam aber wieder zurück. Im April 1941 gelang der Umzug nach Göttingen. Dort wurde sie in der Theaterstraße 26 mit dem Beruf „Hausgehilfin“ gemeldet.
Wenig später gibt es wieder eine Spur von Hannelore. Das inzwischen 16 Jahre alte Mädchen war – von Köln – nach Göttingen gezogen. Seit Mai 1941 wohnte Hannelore als „Hausangestellte“ in der Weender Landstraße 26, einem jüdischen Altersheim, das die Göttinger Stadtverwaltung nun als „Judenhaus“ eingerichtet hatte. Dorthin musste auch ihre Mutter ziehen.
Köln hatte Hannelore verlassen müssen, weil ihre Tante, Selma Grüneberg, bereits im Oktober 1941 ins Ghetto Łódź deportiert worden war. Dort ist ihr Tod für den 4. Mai 1942 bezeugt.
Am 26. März 1942 wurden Mutter und Tochter aus Göttingen deportiert, mit demselben Transport, wie die übrigen Hemmendorfer Juden auch. Sie müssen sich in Ahlem oder spätestens im Ghetto Warschau wieder gesehen haben.
Justizielle Ahndung
Die Hausverkäufe wurden gerichtlich überprüft. In zwei Fällen kam es zu Nachzahlungen. Arthur Catzenstein kam persönlich nach Hemmendorf und setzte die Rückgabe des Hauses durch. Der ehemaligen Bürgermeister Voges soll ein lebenslanges Wohnrecht erhalten haben, das er auch genutzt hat.
Die Wiedergutmachungsverfahren zogen sich jahrelang hin. Wie sollten Deportation und Mord „entschädigt“ werden? Ein Beispiel: Für den Tod von Hannelore zahlte die Bundesrepublik Deutschland den Hinterbliebenen 1543 DM. Maßgeblich waren ihr Alter und ihre letzte berufliche Tätigkeit. Als jugendliche ungelernte Hausangestellte hatte sie nur ein Taschengeld verdient.
Spuren und Gedenken
Der Friedhof wurde etliche Jahre nach Kriegsende an den Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen zurückerstattet. Grabsteine fanden sich nicht mehr an, aber die Einfassung durch aufrecht stehende Sandsteinplatten konnte wieder aufgerichtet werden.
In den 1960er Jahren hat der Landesverband einen Gedenkstein mit Davidstern und Inschrift aufstellen lassen. Der Friedhof ist nun das letzte Zeugnis des 250 Jahre langen jüdischen Lebens im Ort Hemmendorf.
Ein Vortrag von Bernhard Gelderblom am 10. November 2009 gab den ersten Anstoß zu einer Beschäftigung mit dem Thema „Jüdisches Leben in Hemmendorf“. Es folgte 2011 die Aufstellung einer Erinnerungstafel auf dem Friedhof. Am 19. April 2016 legte Gunter Demnig Stolpersteine.
Weiterführende Literatur und Links
Gelderblom, Bernhard, Salzhemmendorf, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bde., Göttingen 2005, S. 1336-1344.
Ders., Die Juden in den Dörfern des Fleckens Salzhemmendorf, Holzminden 2013, S. 117-161.
Der jüdische Friedhof Hemmendorf