November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Stade

Juden sind in Stade erstmals für 1349 nachzuweisen. Die kleine jüdische Siedlung löst sich aber schnell auf. Eine dauerhafte Niederlassung beginnt 1704, als der schwedische Generalgouverneur einen „Hofjuden“ annimmt, Leffmann Isaac aus Hamburg. Eine geordnete Jüdische Gemeinde entsteht seit 1812, in den letzten Jahren der Französischen Herrschaft. Ein Synagogenraum wird angemietet, zeitweilig auch ein Religions-Lehrer beschäftigt.1855 umfasst die Gemeinde 55 Seelen.

Die älteren Familien ziehen noch vor 1900 fort bzw. emigrieren. Neu nach Stade kommen drei Bankiersfamilien, die verschwägerten Familien Leeser und Friedlaender noch vor 1900 sowie die Familie Heidemann, die 1922 aus Halberstadt zuzieht. Außerdem lassen sich zwei Viehhändler in Stade nieder. 1914 gehören der Stader Gemeinde lediglich 12 Seelen an. Nach dem Ersten Weltkrieg wächst sie wieder auf 17-18 Seelen.

Antisemitische Propaganda ist in Stade seit 1893 nachweisbar; größeren Umfang gewinnt die Deutsch-Völkische Bewegung in den 1920er Jahren. Dennoch sind die wenigen jüdischen Familien zumindest scheinbar integriert.

Am 1. April 1933, dem Tag des „Abwehrboykotts“, stehen Posten der SA vor Läden von Einzelhandelsketten und vor dem Bankgeschäft von Friedlaender & Wertheim in der Großen Schmiedestraße. Die 18jährige Lotte Friedlaender verlässt Ostern 1933 ohne Abschluss das Lyzeum, ihr 15jähriger Bruder Fritz 1935 das Gymnasium, um sich auf die Auswanderung nach Südamerika vorzubereiten, Ruth Heidemann 1936 das Lyzeum.

Pastor Johann Gerhard Behrens mit dem Schild „Ich bin ein Judenknecht“ (Fotomontage Stadtarchiv Stade/Jürgen Bohmbach)

Die am 16. September 1935 inszenierte öffentliche Verhöhnung des zur Bekenntnisbewegung gehörenden Pastors Johannes Behrens, der mit dem Schild „Ich bin ein Judenknecht“ durch die Straßen der Stadt geführt, getreten, mit Wasser übergossen und bespuckt wird, verstört große Teile der Bevölkerung und erregt internationale Aufmerksamkeit. Wenig später werden an den Ortseingängen Schilder mit der Beschriftung aufgestellt „Juden sind in Stade nicht erwünscht“.

Das Bankhaus Ahron Leeser vor 1900. (Stadtarchiv Stade)

Am 9. November 1938 findet auch in Stade auf dem Schwarzen Berg eine Gedenkfeier zur Erinnerung an den Putsch vom November 1923 statt. Der NS-Kreisleiter Willy Milewski geht in seiner Rede auf den Tod Ernst vom Raths ein: Niemand könne dem deutschen Volk zumuten, dass es dem „jüdischen Gesindel“ gegenüber ruhig bleibe. Das „Stader Tageblatt“ berichtet am 10. November 1938, „bei jüdischen Geschäftsräumen und Wohnungen“ seien die Fensterscheiben eingeworfen worden.

Am 10. November 1938 morgens früh um vier Uhr weckt der jüdische Bankier Elieser Gotthelf Friedlaender, Vorsteher der kleinen Jüdischen Gemeinde der Stadt, seinen christlichen Lehrling. In seinem Geschäft, dem 1923 gegründeten Bankhaus Friedländer & Wertheim Große Schmiedestraße 6, sei alles kurz und klein geschlagen. Im Haus liegt ein riesiger Eisenknüppel, mit dem alle Fenster zerschlagen worden sind. Friedlaender und sein Lehrling holen Bettlaken aus dem Wohnhaus Im Neuwerk 9, um die Fenster im Geschäft abzuhängen. Viele Menschen, mindestens 80-100 Leute, stehen auf der Straße und bewerfen den Lehrling, der versucht die Tücher aufzuhängen.

Auch die Wohnung der Friedlaenders Im Neuwerk 9 wird im Erdgeschoss verwüstet. Friedlaender kann nach der Pogromnacht nur noch geschützt durch seinen Lehrling, beschimpft und bespuckt von Stader Bürgern, zur Arbeit gehen. Nach Zeitzeugenberichten werden auch die übrigen Juden angegriffen und belästigt.

In das Stader Gefängnis werden am 10. November 1938 vier Stader Juden von der Gestapo eingeliefert: der Bankier Moritz Wertheim, der Viehhändler Otto Davids, der Bankier Adolf Heidemann und der Viehhändler Joseph Nathan, der 1935 aus Bremervörde nach Stade gezogen war. Alle werden am folgenden Tag wieder entlassen.

Friedlaender und Wertheim, die schon das ganze Jahr 1938 hindurch versucht hatten ihr Unternehmen zu verkaufen, wickeln nun die letzten Geschäfte ab, das Bankhaus wird von ihrem Prokuristen Kurt Wahrmann übernommen. Friedlaender verkauft sein Haus wenige Tage nach dem Pogrom und bereitet die Emigration vor. Neben der so genannten Judenvermögensabgabe von 2.850 RM hat er 2.350 RM für die Mitnahme von Umzugsgut und die Auswandererabgabe an den Jüdischen Religionsverband zu bezahlen sowie Schmuck und Silbersachen abzuliefern. Am 23. April 1939 verlässt das Ehepaar Deutschland von Hamburg aus Richtung England, wohin ihre Tochter Lotte bereits 1935 ausgewandert war.

Moritz Wertheim emigriert in die Niederlande, wo er im Krieg verhaftet, 1943 über Westerbork nach Sobibor deportiert und dort ermordet wird.

Adolf und Therese Heidemann hoffen vergeblich auf eine Emigration in die USA und ziehen im Mai 1939 nach Hamburg. Ihrer Tochter Ruth gelingt noch im August 1939 die Flucht nach England. Die beiden Töchter der Witwe Frieda Freudenstein, Thea und Wera hatten Stade schon vorher verlassen.

Von den im März 1939 in Stade lebenden 15 Juden überleben den Holocaust also nur drei. Drei Juden sterben eines natürlichen Todes; neun werden meist über Bremen oder Hamburg deportiert und ermordet. Ebenfalls ermordet werden der  in die Niederlande geflohene Fritz Friedlaender und die 84jährige, als Jüdin bezeichnete christliche Schneiderin Johanna Schragenheim, die am 22. Juli 1942 von zwei Gestapoleuten aus ihrem Zimmer in der Salzstraße 16 abgeholt und nach Bremen transportiert wird. Von dort wird sie mit anderen Bremer Juden über Hannover nach Theresienstadt deportiert, wo sie zwei Monate später stirbt.

Im Sommer 1940 wird auf Anordnung des nationalsozialistischen Bürgermeisters Carl Nörtemann der Jüdische Friedhof geschändet. Die Grabsteine werden auf den Bauhof transportiert, der Friedhof wird eingeebnet und zumindest teilweise bepflanzt.

Der Pass von Annchen und Gotthelf Friedlaender. (Familienpapiere Friedlaender)

Elieser Gotthelf wurde am 19. April 1878 in Stade als Kind des Bankangestellten Joel Friedlaender geboren. Gotthelf besuchte das Athenaeum, ging aber 1896 nach der Mittleren Reife ab und lernte im Bankgeschäft von Ahron Leeser – dem Arbeitgeber und Schwager seines Vaters – später Hannoversche Bank. Ab 1906 arbeitete er in Bankgeschäften in Lippstadt, Hannover, Harburg, Prenzlau und Cuxhaven.

Am 26. Mai 1914 heiratete er in Berlin Johanna Anna Brasch („Annchen“), die am 26. Juli 1891 geborene, in Berlin lebende Tochter der schon verstorbenen Siegfried Brasch und Golda Neufeld. Am 2. April 1915 wurde die Tochter Lotte Golda in Cuxhaven geboren. Im Oktober 1919 zog Gotthelf als Leiter der neuen Filiale des Hamburger Bankhauses Calmann wieder nach Stade, wo das zweite Kind, der Sohn Fritz, am 3. Februar 1920 geboren wurde.

Gotthelf übernahm zum 1. Juli 1923, in der Inflation, mit seinem Partner Moritz Wertheim die Filiale als neues Bankhaus Friedlaender & Wertheim, zunächst im Haus Große Schmiedestraße 14 („Klubhaus“), ab 1931 Große Schmiedestraße 6. Nach der Pogromnacht löste er das Unternehmen auf und zog im April 1939 zu seiner gerade eben, im Februar 1939 verheirateten Tochter Lotte Ney nach London. Am 6. April 1939 wurde der Reisepass für das Ehepaar ausgestellt, am 23. April 1939 reisten Anna und Gotthelf Friedlaender aus Deutschland aus.

Am 18. April 1959 starb Gotthelf Friedlaender, zwanzig Jahre später, 1979, seine Frau Anna.

 

 

Das Ehepaar Friedlaender auf dem Schiff nach England. (Familienpapiere Friedlaender)

Adolf Heidemann stammte aus einer alteingesessenen Kaufmannsfamilie in Osterholz. 1887 geboren, diente er als Soldat im Ersten Weltkrieg, wo er verwundet wurde. Das Bankgewerbe lernte er in Halberstadt bei einer kleinen jüdischen Privatbank, dem Bankhaus Silbermann. Selbst orthodox, heiratete er in Halberstadt Therese Senior, die aus einer streng orthodoxen Familie stammte. 1920 wurde in Halberstadt die einzige Tochter Ruth geboren.

1922 erhielt Adolf Heidemann eine neue Stelle als Geschäftsführer einer kleinen Bank in Stade, und die Familie zog in das große gutbürgerliche Haus Bungenstraße 19 mit zahlreichen Zimmern. Die Tochter Ruth besuchte das Oberlyzeum. In religiöser Hinsicht war es für die Eltern eine große Umstellung, da es in Stade keine Synagoge gab und hier nur fünf jüdische Familien lebten. Die Mutter, Therese, war sehr musikalisch, hatte in Leipzig Gesangsunterricht erhalten und fuhr öfter zu Konzerten nach Hamburg. Therese und Adolf waren patriotisch, er besuchte vor dem Schabbat immer das Kriegerdenkmal auf dem Garnisonfriedhof.

1932 zog die Familie in eine große Mietwohnung an der Bremervörder Straße 31. Adolf Heidemann betrieb nun ein selbständiges Versicherungs- und Bankgeschäft. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten und der „Boykott-Tag“ am 1. April 1933 waren für die Familie, vor allem die Tochter ein tiefer Einschnitt. Ruth war auf der Schule isoliert, verließ diese 1936 und besuchte ein Jahr lang ein jüdisches Internat in Wolfratshausen.

Nach der Pogromnacht 1938 bereiteten Therese und Adolf Heidemann ihre Emigration in die USA vor, wo Verwandte lebten. Im Mai 1939 zog die Familie nach Hamburg.

Es gelang nur noch Ruth, im August 1939 nach London auszuwandern. Ihre Eltern warteten in Hamburg vergeblich auf die Visa für die USA. Am 6. Dezember 1941 wurden sie von Hamburg aus nach Riga deportiert, wo sie vermutlich gleich nach der Ankunft erschossen wurden. Therese und Adolf Heidemann waren 50 bzw. 54 Jahre alt.

Das Ehepaar Heidemann in den 1920er Jahren. (Stadtarchiv Stade)

Carl Nörtemann, Jurist, geboren 1891 in Eberstadt, Weltkriegsteilnehmer, 1918 Dr. iur., 1935 Dr.rer.pol. NS-Parteigenosse. Von 1925 bis 1938 ist er Bürgermeister in Dannenberg/Elbe. Er wird am 1. April 1938 als Bürgermeister in Stade als Nachfolger des konservativen Dr. Arthur Meyer eingesetzt. Unter seiner Verwaltungsleitung werden die örtlichen Kriegsvorbereitungen weitergeführt.

Über die Anordnungen der Partei hinaus ordnet Nörtemann 1940 die Einebnung des kleinen jüdischen Friedhofes an, dessen Grabsteine demoliert und auf den Bauhof gebracht werden. Ende 1942 wird Nörtemann, 51jährig, zum Kriegsdienst einberufen. Nach Kriegsende wird er verhaftet und erst 1947 aus der Internierung entlassen. 1955-58 ist er CDU-Bezirksvorsitzender, von 1956 bis 1964 CDU-Ratsherr und Mitglied des Verwaltungsausschusses. Nörtemann stirbt 1974.

Carl Nörtemann nach dem 2. Weltkrieg. (Stadtarchiv Stade)

Fast zwei Jahre nach dem Kriegsende, am 2. April 1947, schrieb Gotthelf Friedlaender an die Stadtverwaltung; er habe erfahren, dass der Begräbnisplatz der jüdischen Gemeinde nicht mehr als solcher erkennbar sei. Er bitte dafür zu sorgen, dass der Platz „in irgend einer Weise eingefriedigt ist und als Begräbnisplatz geachtet werden kann.“

Erst 1951 begannen die Verhandlungen der Stadt mit der „Jewish Trust Corporation“, und am 30. Juni 1953 wurde zwischen ihnen ein Vertrag geschlossen, demnach die Stadt die dauerhafte Pflege und Sicherung des Friedhofes übernahm. Heutiger Eigentümer des Jüdischen Friedhofs ist der Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen.

Gedenkarbeit gab es in den ersten Jahrzehnten nur spärlich. Der Friedhof blieb nahezu unbekannt, auch wenn 1981 ein Erinnerungsstein aufgestellt wurde. Erst 1999 wurde auf Initiative des Stader Vorsitzenden der Deutsch-Israelischen Gesellschaft der Zustand des Friedhofs untersucht, der 2001 durch einen Zaun eingegrenzt wurde.

Gleichzeitig, am 27. Januar 2001, wurden Am Sande vor dem ehemaligen Dienstgebäude des Landrats – der alten Artilleriekaserne – zwei Gedenkstelen für die Opfer des Rassenwahns aus den Gemeinden des Landkreises Stade gesetzt, am 27. Januar 2005 ein weiterer Gedenkstein an der Kirche St. Wilhadi aufgestellt, der insbesondere an Menschen erinnert, die im Rahmen der sogenannten Euthanasie, als Zwangsarbeitskräfte oder deren Kinder und als politisch Verfolgte zu Tode gekommen sind. Eine Erweiterung auf der Grundlage langjähriger Forschungen ist beabsichtigt.

Die Gedenkstelen 2005. (Foto: Jürgen Bohmbach)

Erst im Sommer 2009 kam durch Zeitungsberichte die Frage wieder auf, ob auch in Stade Stolpersteine verlegt werden sollten. Es entstand eine lebhafte Diskussion, in der sich die Mehrzahl der Menschen dafür aussprach. Am 19. April 2010 konnten die ersten neun Stolpersteine verlegt werden, weitere zwölf Steine am 21. Februar 2011.

Verlegung der Stolpersteine 2010 (Fotos: Gymnasium Athenaeum / Jürgen Bohmbach)

Der Gedenkstein an der Wilhadikirche 2005 (Foto: Jürgen Bohmbach)

Hartmut Lohmann: „Hier war doch alles nicht so schlimm.“ Der Landkreis Stade in der Zeit des Nationalsozialismus. Stade 1991

Jürgen Bohmbach: „Unser Grundsatz war, Israeliten möglichst fernzuhalten.“ Zur Geschichte der Juden in Stade. Stade 1992

Jürgen Bohmbach: Sie lebten mit uns. Juden im Landkreis Stade vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Stade 2001

Jürgen Bohmbach: Eine Begräbnisstätte auf ewige Zeiten. Der Jüdische Friedhof in Stade. Stade 2002

Heike Schlichting/Jürgen Bohmbach: Alltag und Verfolgung. Der Landkreis Stade in der Zeit des Nationalsozialismus. Band 2. Stade 2003

Volker Friedrich Drecktrah/Jürgen Bohmbach (Hg.): Justiz im Nationalsozialismus im Landgerichtsbezirk Stade. Vorträge und Materialien. Stade 2004

Hansestadt Stade (Hg.):. Stolpersteine in Stade. Die Menschen und ihre Geschichte. Stade 2010

Stolpersteine in Stade