Braunschweig
Vorgeschichte
Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts (1282 erstmals urkundlich erwähnt) leben Juden in der Stadt Braunschweig. Rechtlich standen sie unter dem Schutz des Herzogs von Braunschweig und mussten dafür Schutzgeld entrichten. Die Juden lebten größtenteils in der Neustädter „Joddenstraße“ und wurden wirtschaftlich als Konkurrenz zu den in Braunschweig stark vertretenen handwerklichen Gilden wahrgenommen. Spätestens mit der Pest von 1350 griff der Antijudaismus um sich, die Juden wurden als „Brunnenvergifter“ verfolgt, Pogrome wurden verübt und ab 1435 die Kennzeichnung der Kleidung vorgeschrieben.
1546 kam es zur Vertreibung der Juden aus Braunschweig in Folge eines Ratsbeschlusses. Diese Vertreibung kann im Kontext der sich auch in Braunschweig vollziehenden Reformation gesehen werden, da sich bei diesen Entscheidungen auch auf die judenfeindlichen Schriften Martin Luthers bezogen wurde.
Die Neugründung der Gemeinde erfolgte 1707 um den sogenannten Hofjuden Alexander David aus Halberstadt. Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, gewährte den Juden zum Ende des 18. Jahrhunderts mehr Rechte, sodass die jüdische Gemeinde eine Synagoge im Hof des Hauses Kohlmarkt 12 einrichten konnte. 1797 wurde der Rat der Stadt vom Herzog zur Genehmigung eines jüdischen Friedhofs in der Stadt gedrängt. Am 23. September 1875 wurde die Synagoge in der Braunschweiger Altstadt eröffnet. Diese ersetzte die Synagoge am Kohlmarkt 12 und bestand bis zu ihrem Abriss 1940 als Folge der schweren Schäden vom November 1938.
In Braunschweig bestand schon seit September 1930 eine Koalitionsregierung unter Beteiligung der NSDAP. Unter Innenminister Dietrich Klagges (NSDAP), der ab 1933 Ministerpräsident des Landes Braunschweig wurde, nahm die Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung zu. Schon am 11. März 1933 kam es in Braunschweig zum von der NS-Propaganda so genannten „Warenhaussturm“ – ähnlich dem reichsweiten „Judenboykott“ vom 1. April 1933. Bei den Übergriffen am 11. März wurden die Kaufhäuser Adolf Frank, Hamburger&Littauer und Karstadt stark beschädigt. Diese wurden in den Folgejahren „arisiert“. Bemerkenswert ist, dass es der Inhaberfamilie Forstenzer/Frank gelang, das Kaufhaus Adolf Frank bis August 1938 zu betreiben.
Die jüdische Gemeinde umfasste bei der Volkszählung im März 1933 noch 682 Juden. Für die Nationalsozialisten galten jedoch 1150 Personen als „Glaubens-“ und „Rassejuden“. Dies schloss unter Anderem zum Christentum konvertierte Juden mit ein. Bis zum Mai 1939 nahm die Zahl der von den Nazis als Juden gezählten Menschen durch Ab- und Auswanderung, Vertreibung und Deportation auf 226 Personen ab.
Die Ereignisse im November 1938
Vom 12. bis 20. März 1938 erschien eine Artikelserie in der Braunschweiger Tageszeitung, dem NSDAP-Parteiblatt im Braunschweiger Land, mit dem Titel „700 Jahre Juden in Braunschweig“. Dies war nicht die erste antijüdische Kampagne. Sie war Ausdruck der antisemitischen Grundstimmung und Propaganda und heizte die Stimmung gegen die Juden weiter auf. Die erste Massenverhaftung von Juden im Braunschweiger Land fand am 28. Oktober im Rahmen der „Polenaktion“ statt: insgesamt 74 Bürger, davon 69 aus der Stadt Braunschweig und 11 Kinder unter 15 Jahren wurden verhaftet und mit einem Transport nach Neu-Bentschen an die polnische Grenze verbracht.
Am 8. November erschien in der Braunschweiger Lokalpresse ein Bericht über das Pariser Grynszpan-Attentat, der die nationalsozialistische Erzählung wiedergab. Am 9. November 1938 versammelten sich die Nationalsozialisten, vor allem SS und SA, auf dem „Franzschen Feld“ (auch SA-Feld genannt), einer NS-Weihestätte unterhalb des Nussberges, um dem Hitlerputsch von 1923 zu gedenken. Danach ging man zum Feiern in die Kneipen und Wirtshäuser der Stadt.
Friedrich Jeckeln, Polizei- und SS-Führer im SS-Oberabschnitt Mitte, der auch das Braunschweiger Land umfasste, befand sich auf dem Weg nach Hannover, um dort die Zerstörung der Synagoge zu überwachen. In Braunschweig tat Dr. jur. Otto Diederichs, Oberregierungsrat im Innenministerium, seinen Dienst und veranlasste in Absprache mit dem Ministerpräsidenten Dietrich Klagges die Postierung von Schutzpolizisten vor jüdischen Geschäften, sodass SS und SA erkennen konnten, wo diese waren. Für Jeckeln kamen die Schreiben aus der Gestapo-Zentrale in Berlin zu spät. Er hatte schon vorher in vorauseilendem Gehorsam die Zerstörung der Synagogen angeordnet.
Im weiteren Verlauf der Nacht wurden die wenigen noch nicht „arisierten“ jüdischen Geschäfte sowie zahlreiche Privatwohnungen (beispielsweise die der Familie Forstenzer) verwüstet. Zusätzlich wurden in der Nacht und am Folgetag im Land Braunschweig 149 Juden verhaftet, davon 71 aus der Stadt Braunschweig. Diese wurden in das KZ Buchenwald gebracht und dort bis mindestens Dezember 1938, teils auch noch länger, festgehalten.
Auch die Synagoge in der Alten Knochenhauerstraße wurde zerstört, die Inneneinrichtung zertrümmert und das Gebäude teilweise gesprengt. Eine marmorne Erinnerungstafel, die der im Ersten Weltkrieg für das Deutsche Kaiserreich gefallenen Braunschweiger Juden gedachte, wurde ebenfalls zerschmettert. Es gibt nicht viele Zeugenaussagen zur Zerstörung der Synagoge, doch diesen wenigen zufolge wurden auch die Thorarollen und das hölzerne Gestühl auf dem nicht weit entfernten Eiermarkt verbrannt. Die in den umgebenden Fachwerkhäusern wohnende Bevölkerung sorgte sich um ein Ausbreiten des Feuers und verhinderte so, ganz auf den Eigenschutz bedacht, die weitere Inbrandsetzung der Trümmer durch SA und SS. Es liegt nahe, dass sich unter den Angreifern auch Teilnehmer der SS-Lehrgänge der SS-Junkerschule befanden. Diese befand sich seit 1935 im Braunschweiger Residenzschloss mitten in der Innenstadt.
Folgen
Die zerstörte Synagoge wurde 1940 zusammen mit dem angrenzenden unzerstörten Gemeindehaus und dem Gesamtgrundstück der jüdischen Gemeinde von der Stadt Braunschweig für 1200 RM abgekauft und dann abgetragen (das unzerstörte Gemeindehaus steht noch heute). Ein Teilgrundstück wurde 1943 für 13.200 RM an das Reich verkauft. Auf dem Gelände der zerstörten Synagoge wurde ein Luftschutzbunker errichtet, der bis heute an dieser Stelle steht (in den 1980ern wurde der Bunker nach einer Instandsetzung wieder als Zivilschutzbunker genutzt).
Im Dezember 1938 wurden die meisten der in das KZ Buchenwald gebrachten Juden, soweit sie nicht gestorben waren, unter der Auflage freigelassen, umgehend zu emigrieren und ihre Geschäfte aufzugeben. Nicht wenige blieben jedoch weiterhin in Buchenwald. In einem Bericht des Innenministeriums an Ministerpräsident Dietrich Klagges vom 15. Dezember 1938 heißt es:
„Anlässlich der Judenaktion vom 9. und 10. November d.Js. sind von der Staatspolizeistelle Braunschweig 149 Juden festgenommen, die fast sämtlich einem Konzentrationslager zugeführt worden sind. Gestorben bzw. zur Entlassung gekommen sind 106 Juden, so dass z. Zt. sich noch 43 Juden im Konzentrationslager befinden; (…) Von den anlässlich der Judenaktion festgenommenen Juden beabsichtigen 29 Juden auszuwandern (…). Ich habe wiederholt feststellen können, dass der Wille zur Geschäftsaufgabe oder auch zur Auswanderung bei den hiesigen Juden verhältnismäßig groß ist.“ (Niedersächsisches Landesarchiv-Standort Wolfenbüttel 12 A Neu 13, Nr. 16059).
Justizielle Ahndung
Nach 1945 gab es im Rahmen diverser Entnazifizierungsprozesse einige Spruchkammerverfahren und Gerichtsprozesse gegen bekannte Täter im Braunschweiger Raum, die auch an den Novemberpogromen 1938 beteiligt waren. So standen beispielsweise Dietrich Klagges und Dr. jur. Otto Diederichs als NS-Verbrecher vor Gericht. In keinem der Verfahren spielten jedoch die Ereignisse im November 1938 eine Rolle. So gibt es keine Aktenüberlieferung aus der Stadt Braunschweig über Ermittlungen oder Gerichtsverfahren, die explizit im Zusammenhang mit den Novemberpogromen 1938 stehen. In angrenzenden Landkreisen und Gemeinden wie beispielsweise in Peine oder Bad Harzburg ist dies mitunter anders.
Biografien - Familie Baron
Friederike Baron, geborene Eisner (1866 in Wielun/Polen geboren) war mit dem Kaufmann Isidor Baron (1859 ebenfalls in Polen geboren) seit 1881 verheiratet. Sie hatten vier Töchter, Amalie (geboren 1882 in Wielun/Polen), Luise (geboren 1883 in Wielun/Polen), Bertha (Geburtsdaten unbekannt), verheiratete Weglein, und Gertrud (geboren 1897 in Braunschweig), verheiratete Gruenberg. 1892 zogen Friederike und Isidor nach Braunschweig. Während des ersten Weltkrieges unterlagen sie der Meldepflicht als „feindliche Ausländer“. Erst 1928 erfolgte die Einbürgerung der Familie Baron. Doch die Nationalsozialisten widerriefen im Juli 1933 alle erst nach 1918 erfolgten Einbürgerungen, was die Familie Baron staatenlos werden ließ (somit waren sie von der sogenannten „Polenaktion“ im Oktober 1938 nicht betroffen, denn Staatenlose waren von der Ausweisung polnischer Juden ausgenommen).
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Friederike war gelernte Schneiderin, führte jedoch seit 1900 das einzige jüdische Restaurant Braunschweigs, zuletzt in der Steinstraße 2, gleichzeitig Wohnhaus der Familie Baron und in Nachbarschaft zur Braunschweiger Synagoge. Amalie und Luise halfen ihr beim Betrieb des Lokals, das Treffpunkt der jüdischen Leopold-Zunz-Loge war. Nach dem Tod der Mutter 1936 führten die Töchter das Restaurant weiter. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde das Restaurant von der SS zerstört und die Einrichtung sowie das Porzellan zerschlagen. Amalie Baron wurde, als sie sich Berichten zufolge den 25 bis 30 SS-Männern in den Weg stellte, so stark verletzt, dass ihr im Krankenhaus der rechte Arm amputiert werden musste.
Amalie und Luise wurden am 31. März 1942 ins Warschauer Ghetto deportiert und kamen dort oder in einem Konzentrationslager um. Sie wurden mit Datum des 8. Mai 1945 (Kriegsende) für tot erklärt. Die vierte Tochter, Gertrud, war in Braunschweig als Einkäuferin tätig. Ihr gelang im Mai 1939 die Emigration über Antwerpen in die USA.
Isidor Baron verstarb 1941 noch in Braunschweig. Zu dieser Zeit wohnte die Familie Baron bereits nicht mehr in der Steinstraße, sondern in einem „Judenhaus“ in der Ferdinandstraße 9, da sie nach der Geschäftsaufgabe nach den Novemberpogromen kein Einkommen mehr hatten und die Miete nicht mehr zahlen konnten. Wie aus einem Brief der Eigentümer, der Lagerhausgesellschaft Gerloff, hervorgeht, nutzte die Gestapo das Haus in der Steinstraße 2 als Büroräume, nachdem die Barons gezwungen waren, in das Judenhaus umzuziehen.
Das Haus Steinstraße 2 brannte im Zweiten Weltkrieg aus und wurde 1958 abgerissen. Heute steht dort ein Parkhaus. Seit einigen Jahren erinnern Stolpersteine an die Familie Baron. Das Ehepaar Friederike und Isidor Baron ist auf dem jüdischen Friedhof in Braunschweig begraben.
Biografien - Ehepaar Forstenzer
Gustav-Elias Forstenzer (geboren 1888 in Berlin) war mit Lucie-Sara Forstenzer, geborene Frank, Tochter des Braunschweiger Kaufhausbesitzers Adolf Frank, verheiratet. Forstenzer war Kaufmann, Handelsrichter und Präsident der jüdischen Leoplold-Zunz-Loge sowie im Vorstand der jüdischen Gemeinde Braunschweig. Der erste Sohn Claus Forstenzer kam 1919 zur Welt, die Zwillingsbrüder Martin und Peter folgten 1921. Die Familie Forstenzer wohnte in der Lützowstraße 6. Auch Gustav-Elias Forstenzer wurde 1933 aufgrund der Reichsverordnung die Staatsbürgerschaft wieder entzogen, da seine Eltern aus Galizien kamen und er erst 1921 die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatte, trotz Geburt in Berlin.
Nachdem der Schwiegervater und Kaufmann Adolf Frank verstorben war, übernahm Gustav zusammen mit seinem Schwager Herbert Frank das Kaufhaus Adolf Frank in der Schuhstraße 24-28. Dieses konnten sie erstaunlich lange führen, bis es im August 1938 an den Kaufmann Karl Stöber verkauft und damit „arisiert“ wurde.
In der Pogromnacht wurden Gustav-Elias Forstenzer und die beiden Zwillingssöhne Martin und Peter von zwei SS-Männern verhaftet und in das KZ Buchenwald eingewiesen. Dort wurden sie bis Anfang Dezember 1938 festgehalten. Die Wohnung in der Lützowstraße 6 wurde von SA-Männern nach der Verhaftung zerstört. Am 9. Dezember 1938 gelang der Familie Forstenzer die Emigration in die USA. Diese war Auflage für die Entlassung aus dem KZ Buchenwald gewesen.
Dietrich Klagges, Ministerpräsident des Landes Braunschweig von 1933 bis 1945
Als nationalsozialistischer Ministerpräsident des Landes Braunschweig von 1933 bis 1945 und als Lehrer und völkischer Ideologe war Klagges eine Schlüsselfigur für die NS-Herrschaft im Braunschweiger Land. Klagges nahm als Kriegsfreiwilliger am 1. Weltkrieg teil und wurde 1915 schwer verwundet. Nach langem Krankenhausaufenthalt, den er zur politischen Lektüre nutzte, wurde Klagges 1916 aus dem Militärdienst entlassen.1918 trat er in Schleswig-Holstein (wo Klagges zu der Zeit als Lehrer tätig war) in die DNVP ein und wechselte nach einer Reichstagskandidatur auf Platz drei für die DFP (Deutschvölkische Freiheitspartei) 1925 in die NSDAP. Schon vor seinem Wechsel publizierte er völkisch-rassistische und antimarxistische Texte.
Nach erfolgreicher Bewerbung auf eine Konrektorenstelle in Benneckenstein (Harz) war er von 1928 bis 1930 Ortsgruppenleiter der NSDAP. Nachdem er am 15. September 1931 zum Volksbildungs- und Innenminister in Braunschweig ernannt worden war, half er, die NS-Herrschaft im Braunschweiger Land, die zweite (nach der thüringischen Baum-Frick-Regierung) Landesregierung unter Beteiligung der NSDAP, aufzubauen. Er war einer der wenigen NS-Funktionäre, die schon vor 1933 ihre Ideen praktisch umsetzen konnten. Unter anderem verschaffte er dem damals staatenlosen Adolf Hitler die deutsche Staatsbürgerschaft, indem er ihn als Referenten anstellte.
Braunschweig wurde so schon früh zur „NS-Musterstadt“. In den 1930er Jahren machte sich Klagges einen Namen mit seinem Werk „Geschichtsunterricht als nationalpolitische Erziehung“ und wurde führender Geschichtsdidaktiker des Nationalsozialismus. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 wurde er Ministerpräsident des Landes Braunschweig. Zeitweise war er auch als Gauleiter für den NS-Gau Südhannover-Braunschweig im Gespräch. Er blieb jedoch bis 1945 Ministerpräsident und tat sich vor allem in den Bereichen Gewinnung kriegswichtiger Rohstoffe sowie nationalsozialistischer Bildungspolitik auch reichsweit hervor. Klagges selbst sah sich als Sozial- und Wirtschaftspolitiker in der NSDAP.
Schon vor 1933 beantragte er beim Reichsinnenministerium die Einrichtung einer braunschweigischen „Hilfspolizei“, die jedoch erst nach der Machtübergabe von Göring zugelassen und aus SS- und SA-Einheiten zusammengestellt wurde. Klagges berief 1933 weiterhin Friedrich Jeckeln, der für seine Brutalität bekannt war, als Chef der Landespolizei und schuf so die Voraussetzungen für die Ereignisse im November 1938. Bei den Novemberpogromen war es auch Klagges als oberster Dienstherr der Braunschweiger Behörden, der als nationalsozialistischer Entscheider im Hintergrund zu den Verfolgungsaktionen gegen Juden maßgeblich beitrug.
Am 12. April 1945 wurde Klagges von amerikanischen Truppen verhaftet. Aufgrund seiner Zugehörigkeit zur SS wurde er von einem amerikanischen Militär-Spruchgericht zu sechs Jahren Haft verurteilt. 1950 verurteilte ihn das Braunschweiger Landgericht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslangen Haftstrafe. In einem Revisionsverfahren wurde dieses Urteil jedoch in 15 Jahre Zuchthaus umgewandelt. Schon 1957 wurde Klagges jedoch aus der Haft entlassen und lebte bis zu seinem Tod 1971 in Bad Harzburg. Er blieb der NS-Ideologie bis zu seinem Tode treu und war einer der wenigen, die entsprechende Schriften auch noch zu bundesrepublikanischen Zeiten erfolgreich publizierten.
Otto Diederichs, Oberregierungsrat
Otto Diederichs kam als „Buchhalter und Administrator“ der politischen Verfolgung im Land Braunschweig ebenfalls eine wichtige Bedeutung zu. Er wurde am 17. April 1904 in Danndorf, Kreis Helmstedt geboren und machte Abitur. Nach dem Jurastudium promovierte Diederichs 1930 in Jena und legte die große juristische Staatsprüfung am Oberlandesgericht Braunschweig ein Jahr später ab. Der spätere braunschweigische Justizminister Friedrich Alpers riet Diederichs, in die NSDAP einzutreten, da dies der Karriere förderlich sein könne. Dieser Empfehlung folgte Diederichs 1932 und trat auch der SA bei. Er wurde sodann am 1. Februar 1932 als Regierungsassessor bei der Kreisdirektion Braunschweig-Land eingestellt und war schon dort mit Polizeiangelegenheiten befasst.
Nachdem Dietrich Klagges 1933 das Landespolizeiamt eingerichtet hatte, dessen Chef Friedrich Jeckeln wurde, wurde Diederichs im September von Jeckeln zum Hilfsreferenten berufen. Daraufhin trat Diederichs auf Anraten Jeckelns auch der SS bei. 1934 wurde Diederichs von Klagges zum Regierungsrat befördert und in der neu eingerichteten politischen Polizei, dessen Leiter Jeckeln wurde, zu dessen Stellvertreter ernannt. In den ersten beiden Jahren des Bestehens des Landespolizeiamtes war Diederichs der einzige Jurist in der Behörde. Ihm kam damit eine gewichtige Funktion zwischen Politik und Behörden zu. Beispielsweise entwarf er das „Gesetz über die braunschweigische Politische Polizei“ sowie weitere Erlasse, Anordnungen und Verfügungen.
1937 wurde er zum Oberregierungsrat befördert und war bis zu seinem Eintritt in die Wehrmacht als Polizeiverwaltungsjurist beschäftigt. In diesen Funktionen ordnete Diederichs schon seit seinem Wechsel ins Innenministerium 1933 „Schutzhaftmaßnahmen“ an. Er war, als stellvertretender Chef der politischen Polizei und als Oberregierungsrat, die für das Land Braunschweig zuständige zentrale Stelle in „Schutzhaftangelegenheiten“ und setzte Anordnungen der Reichsbehörden um. Ab dem Frühjahr 1935 wurden hier außerdem die Transporte in Konzentrationslager koordiniert. Diederichs selbst verhandelte mit dem preußischen Innenministerium über die Unterbringung braunschweigischer „Schutzhäftlinge“ in preußischen Konzentrationslagern.
Am 9. November 1938 war Diederich im Dienstgebäude des Oberabschnitts der SS, dem ehemaligen braunschweigischen Landtagsgebäude. Er veranlasste in Absprache mit Klagges die Postierung von Schutzpolizisten vor jüdischen Geschäften, sodass SS und SA erkennen konnten, wo die Geschäfte waren. Außerdem instruierte er die Polizei im Braunschweiger Land zur Zurückhaltung, um SS und SA nicht im Wege zu stehen. Bei Diederichs liefen in dieser Nacht die Fäden zusammen. Er koordinierte die Einsätze der Polizei im Land Braunschweig und ordnete Verhaftungen an.
1940 meldete er sich zur Wehrmacht, doch nach nur einem Jahr schied er dort aus, da er vom Reichsinnenminister als „unabkömmlich“ bezeichnet wurde. Noch 1941 wurde er zum Regierungsdirektor befördert. Danach wurde er ab 1942 Chef und Befehlshaber der Ordnungspolizei „Ostland“ in Riga und folgte somit seinem früheren Chef Jeckeln, der schon seit 1941 dort Chef der Polizei und SS war. Bis 1943 tat er unter Jeckeln in Riga seinen Dienst und wirkte so vermutlich an der Liquidierung des Rigaer Ghettos mit. 1943 wurde er zum Ministerialrat befördert und im Dezember in das Hauptamt Ordnungspolizei im Reichsinnenministerium beordert. Dort blieb er bis zum Kriegsende und wurde, im Rang eines SS-Oberführers (vergleichbar mit einem Oberst der Wehrmacht), von amerikanischen Truppen verhaftet.
Besonders interessant am Beispiel Otto Diederichs ist der unterschiedliche Umgang mit Schreibtischtätern in der Nachkriegszeit: So bezeichnete ihn 1949 das Spruchgericht Bielefeld als „Funktionsträger des Unrechtsregimes“ und verurteilte ihn aufgrund seiner Mitgliedschaft in der SS. Vor dem Spruchgericht stritt er jede Beteiligung an NS-Verbrechen, auch an den Novemberpogromen ab und versuchte sich als einfacher Verwaltungsjurist darzustellen. Diesen Darstellungen folgte das Spruchgericht jedoch nicht.
Ein halbes Jahr später wurde er jedoch in einem Braunschweiger Entnazifizierungsverfahren als „korrekter Verwaltungsbeamter“ bezeichnet. Diese unterschiedlichen Ausgänge der beiden Verfahren sind damit zu begründen, dass im Verfahren vor dem Entnazifizierungshauptausschuss Braunschweig in der gut zweistündigen Anhörung vor allem Entlastungszeugen gehört wurden. So gelang es Diederichs beispielsweise, seine SS-Mitgliedschaft als „lose“ und unbedeutend darzustellen.
Die erste Hauptverhandlung vor dem Landgericht Braunschweig gegen Diederichs wurde 1951 abgelehnt. Nachdem die Staatsanwaltschaft Widerspruch eingelegt hatte, fand 1953 die Hauptverhandlung gegen Diederichs vor dem Landgericht Braunschweig statt. Er wurde wegen „Beihilfe zur erschwerten Freiheitsberaubung im Amt“ in acht Fällen (die Staatsanwaltschaft ging im Schlussplädoyer von 24 Fällen aus) zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Auf Grundlage des Straffreiheitsgesetzes von 1949 sowie nach gescheiterter Revision Diederichs und der Staatsanwaltschaft vor dem Bundesgerichtshof wurde das Verfahren beendet. Es ist anzunehmen, jedoch nicht belegbar, dass Diederichs beim Bundesinnenministerium (BMI) wieder Anstellung fand, da es Korrespondenz zwischen dem BMI und dem Landgericht Braunschweig bezüglich eines Disziplinarverfahrens gibt.
Spuren und Gedenken
Am 16. November 1958 wurde auf dem jüdischen Friedhof an der Helmstedter Straße ein Gedenkstein für die Opfer der Jüdischen Gemeinde unter der nationalsozialistischen Herrschaft enthüllt. 1966 wurde der Band „Brunsvicensia Judaica“ herausgegeben. Dieser war als Gedenkbuch an die Braunschweiger Jüdinnen und Juden von 1933 bis 1945 gedacht und von der Stadt in Auftrag gegeben worden. 1976 erfolgte die Anbringung einer Gedenktafel am Luftschutzbunker, dem Standort der ehemaligen „Neuen Synagoge“, die bei den Novemberpogromen zerstört wurde.
1985 gründete sich der „Arbeitskreis Andere Geschichte e.V.“ als „Die Braunschweiger Geschichtswerkstatt“, die seit Mai 2000 auch im städtischen Auftrag die Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße betreut und Veranstaltungen zur Braunschweiger Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts organisiert. Seit 2001 hat die Stadt ein „Konzept zur Planung, Errichtung und Gestaltung städtischer Erinnerungsstätten zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“, welches seit 1998 erarbeitet wurde.
2005 gründete sich der Verein „Stolpersteine für Braunschweig Förderverein e.V.“. Am 9. März 2006 wurden die ersten elf „Stolpersteine“ in Braunschweig verlegt. Inzwischen sind es weit über 300 Stolpersteine im Stadtgebiet Braunschweig.
Schon 1945 wurde sich um die Neugründung der jüdischen Gemeinde in Braunschweig bemüht. Seit 1983 besitzt die Gemeinde rechtliche Eigenständigkeit. Am 6. Dezember 2006 wurde die neue Braunschweiger Synagoge eingeweiht. Jährlich wird der Yom HaShoah, der Tag des Gedenkens an die Shoah begangen.
Weiterführende Literatur und Links
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Ebeling, Hans-Heinrich, Die Juden in Braunschweig. Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von den Anfängen der Jüdischen Gemeinde bis zur Emanzipation (1282-1848), Braunschweig 1987.
Bein, Reinhard, Ewiges Haus, Braunschweig 2004.
Ders., Sie lebten in Braunschweig. Biografische Notizen zu den in Braunschweig bestatteten Juden (1797 bis 1983), Braunschweig 2009.
Ders., Zeitzeichen. Stadt und Land Braunschweig 1930–1945, Braunschweig 2006.
Bilzer, Bert / Moderhack, Richard, Brunsvicensia Judaica – Gedenkbuch für die jüdischen Mitbürger der Stadt Braunschweig 1933–1945 (Braunschweiger Werkstücke 35), Braunschweig 1966.
Erhardt, Frank, Täter, Opfer, Nutznießer. Beiträge zur Geschichte Braunschweigs im Nationalsozialismus, Band II, Braunschweig 2016.
Kuessner, Dietrich, Pogromnacht im Braunschweiger Land, in: Volkshochschule Salzgitter u.a. (Hrsg.): Vom Antisemitismus zur Reichspogromnacht, Salzgitter, ohne Jahr (vermutl. 1980er).
Sohn, Werner, Im Spiegel der Nachkriegsprozesse: Die Errichtung der NS-Herrschaft im Freistaat Braunschweig, Braunschweig 2003.
Stadt Braunschweig, Kulturinstitut, Konzept zur Planung, Errichtung und Gestaltung städtischer Erinnerungsstätten zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, Braunschweig 2001.
Arbeitskreis Andere Geschichte e.V. Die Braunschweiger Geschichtswerkstatt
Förderverein Stolpersteine für Braunschweig
Parr, Thomas, Vor 75 Jahren brannten im Land Braunschweig die Synagogen, Braunschweiger Zeitung vom 8.11.2013