November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Barsinghausen

Barsinghausen war ein landwirtschaftlich geprägter Ort (1905: 4.915 Einwohner). Ein Steinkohlenbergwerk beschäftigte um die Jahrhundertwende knapp 2.000 Menschen. Das Zentrum Barsinghausens bekam allmählich ein kleinstädtisches Weichbild.

Seit dem 18. Jahrhundert sind in Barsinghausen Personen jüdischen Glaubens nachweisbar. 1843 zählte der Synagogenbezirk Barsinghausen fünf Familien. 1870 waren es 70, 1933 65 Personen. Die jüdische Gemeinde unterhielt zwei Friedhöfe. Zu ihren Gottesdiensten traf sie sich jahrzehntelang in gemieteten Wohnräumen. Erst Anfang der 1920er Jahre konnte sie ein kleines Fachwerkgebäude hinter der Marktstr. 21a mieten und als Synagoge einrichten.

Die Juden waren in das gesellschaftliche Leben Barsinghausens integriert. Aron Levisohn und sein Bruder Joseph gehörten zu den „Interessenten“ des Pädagogiums, der höheren Privatschule in Barsinghausen. Oder Ernst Traube; er hatte die honorige Schützengesellschaft 05 mitgründet und war zu ihrem ersten Vorsitzenden gewählt worden.

Antisemitisches Gedankengut war aber spürbar. Mit der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 nahmen die Verunglimpfungen und Repressionen erheblich zu. 1935 lockte eine Veranstaltung der NSDAP zum Thema Freimaurerei und Judentum“ über 700 Interessierte in den Saal des Hotels Kaiserhof. Die in Barsinghausen erschienene Provinzial-Deister-Leine-Zeitung hob dazu hervor, dass „noch kein Schulungsabend ein so großes Interesse hervorgerufen“ hätte.

Die anhaltende Meidung der jüdischen Geschäfte führte zu einer Untergrabung ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlagen. Die Umsätze gingen drastisch zurück. Die Gebr. Levisohn oHG bekam 1935 keine Zuteilung von eingeführten Futtermitteln mehr, außerdem durfte sie kein Brotgetreide einkaufen. Sie sah sich deshalb 1936 gezwungen, ihr Geschäft zu verkaufen. Anderen jüdischen Geschäften erging es ähnlich.

Erste jüdische Familien entschlossen sich deshalb Deutschland zu verlassen. Bis November 1938 waren es 13, die Barsinghausen nach Südafrika, Palästina, in die USA oder nach Australien verließen.

Die Marktstraße. Links befindet sich das 1912 eröffnete Geschäft von Sally Hirschberg. Ansichtskarte. Stadtarchiv Barsinghausen

Die Marktstraße. Links befindet sich das 1912 eröffnete Geschäft von Sally Hirschberg. Ansichtskarte. Stadtarchiv Barsinghausen

Am Abend des 9. November 1938 fand im Saal des Hotels Kaiserhof in Barsinghausen die traditionelle Gedenkfeier [der NSDAP] zu Ehren der Gefallenen der Bewegung“ statt. Anschließend folgte eine Kranzniederlegung am Krieger­denkmal. Nach dieser Inszenierung verschaffte sich die „spontane Empörung des Volkes“ (über den Tod eines überfallenen Pariser Botschaftsangehörigen) „dadurch Luft“, so die Provinzial-Deister-Leine-Zeitung (PDLZ), „daß sie in die jüdischen Geschäfte eindrangen und die Innenein­richtung zerstörten.“ Wobei „auch das gesamte Mobiliar der Synagoge […] restlos zerstört und zerschlagen“ wurde.

Darüber berichtete Marga Hirschberg: Am 10. November „fuhren mehrere Nazis in einem Lastkraftwagen vor das Geschäft meines Vaters, drangen in das Geschäft ein und zerstörten die darin befindliche Einrichtung bis zur Unbrauchbarkeit.“ Die Ware wurde „beschlagnahmt“ und „an nichtjüdische Kaufleute verteilt“.

Im Einsatz war die 12. SS-Standarte aus Hameln, die sich ihre „Massenempörung“ bezahlen ließ.

Berichte über die während der Reichspogromnacht „sichergestellten“ Geldbeträge und Wertgegenstände sowie die in Rechnung gestellten „Kosten“. Stadtarchiv Barsinghausen

Anschließend „trat wieder Ruhe ein“, behauptete die PDLZ, „nur sah man den gan­zen Tag über hunderte von Menschen nach der gewesenen Synagoge pilgern“. Dabei verlor die PDLZ kein Wort über die Verhaftungswelle jüdischer Bürger am 10. November, von der auch sechs Personen in Barsinghausen betroffen waren.

Die am 10. November 1938 verhafteten Barsinghäuser Juden werden durch die Kaltenbornstraße abgeführt: Sally Hirschberg und Erich Seligmann (2.+3.v.l.), davor Hermann Lehmann und Siegfried Rothschild (4.+6.v.l.). Stadtarchiv Barsinghausen

Die am 10. November 1938 verhafteten Barsinghäuser Juden werden durch die Kaltenbornstraße abgeführt: Sally Hirschberg und Erich Seligmann (2. und 3. v. l.), davor Hermann Lehmann und Siegfried Rothschild (4. und 6. v. l.). Fotograf: Ernst Eggers. Stadtarchiv Barsinghausen

Erich Seligmann berichtete über das Geschehene: „Am 10. Nov. 1938 bin ich von uniformierten Mitgliedern der SA oder SS in meiner Wohnung in Barsinghausen verhaftet und zunächst ins Gefängnis [die Obdachlosenunterkunft in der Kaltenbornstr.] eingeliefert worden.“ Dabei wurde ich „geprügelt [und] im Triumph durch die Straßen geführt“. Anschließend sind er und die fünf Anderen in das Polizeigefängnis Hannover und am 11. November weiter in das KZ Buchenwald transportiert worden.

Ruth Fränkel, geb. Lehmann, berichtete: „Junge Nazis jagten mit viel Spaß jeden jüdischen Mann, den sie greifen konnten.“ Ein Nachbar „sorgte dafür“, dass ihr Ehemann „nicht vergessen wurde. So wurde er noch in letzter Minute mit verschleppt.“

Provinzial-Deister-Leine-Zeitung, 11. November 1938. Stadtarchiv Barsinghausen

Nach zwei bis drei Wochen wurden die Verschleppten aus dem KZ entlassen. Hilde Seligmann kannte ihren Ehemann Erich kaum wieder: „Er war mit seinen Nerven vollkommen fertig und litt an Verfolgungswahnsinn.“ Vor der Entlassung wurde den Inhaftierten eingeschärft, „Deutschland auf dem schnellsten Wege zu verlassen, andernfalls“, so formulierte es Hermann Lehmann, „die Gefahr bestände, nochmals und dann für längere Zeit interniert zu werden.“

Auch wenn die Warnung von den Verfolgten ernst genommen wurde, so blieb die legale Emigration zeitaufwändig und kostspielig. Erst wenn die Reichsfluchtsteuer, die den Juden auferlegte „Sühneleistung“, der Ausfuhrzoll usw. bezahlt und man schuldenfrei war, stellte das Finanzamt eine „Unbedenklichkeitsbescheinigung“ aus; erst dann erhielt man einen Reisepass.

Einige hatten bereits vor der Reichspogromnacht 1938 Maßnahmen für die Emigration ergriffen. Ihnen gelang es eher, die schwierigen Hürden zu überwinden. So konnte die Familie Hermann Lehmann im Februar 1939 ausreisen, weil Hermanns Bruder Siegfried dessen Geschäftsanteil mit allen Verpflichtungen übernahm. Dagegen verzögerte sich die Emigration der Familie Seligmann. Nach mehreren gescheiterten Versuchen glückte im August 1940 die Ausreise über die Sowjetunion. Insgesamt gelang es elf Barsinghäusern 1939/40 zu emigrieren.

Im Sommer 1941 begann die NS-Staatsführung die „Endlösung“ zu organisieren; die Auswanderung von Juden wurde verboten, erste Listen für „Judentransporte“ zusammengestellt. Am 15. Dezember 1941 ging der erste Deportationstransport aus Hannover in das Ghetto Riga unter den Deportierten waren Fanny und Carl Seligmann. Im zweiten Transport aus Hannover am 31. März 1942 in das Ghetto Warschau waren Rosalie und Sally Hirschberg. Ziel des dritten hannoverschen Transports war das Ghetto Theresienstadt; darunter befanden sich Familie Siegfried Lehmann mit den Angehörigen Ida Rosenberg und Helene Sternberg sowie Julie Levisohn und die Schwestern Henni Schönberg und Johanna Hirschberg.

Am 20. Februar 1945 sollten auch „Halbjuden“ ins Ghetto Theresienstadt verschleppt werden. Davon betroffen waren Henny Noltemeyer und Johanna Schüddekopf. Beide wurden krankheitsbedingt zurückgestellt. Marie Schmidts Zurückstellung misslang, deshalb wählte sie den Freitod. Siegmund Weiss gelang die Flucht. Leopold und Oskar Ballin wurden deportiert ‒ sie überlebten.

Verabschiedung vor dem Haus von Siegfried Lehmann, Bahnhofstraße 19, im Jahr 1939. Stadtarchiv Barsinghausen

Siegfried Lehmann und Sophie Rosenberg heirateten 1925. Das Paar hatte drei Kinder: Walter (Jg. 1927), Hilde (Jg. 1929) und Lore (Jg. 1933). Sie wohnten in der Bahnhofstraße 19.

Siegfried Lehmann war Kaufmann und führte seit 1926 zusammen mit seinen Brüdern Adolf († 1933) und Hermann die Vieh- und Eisenhandlung ihres Vaters Gustav († 1934). 1927 warf das Geschäft 35.373 RM an Gewinn ab; damit waren sie die größten Gewerbesteuerzahler in Barsinghausen. Nach 1933 ging der Umsatz des Geschäfts erheblich zurück; die Wiedergutmachungskammer schätzte 1963, dass der Gewinn der Firma auf jährlich 14.000 RM gefallen war, wobei Siegfried Lehmanns Anteil 6.000 RM gewesen sein soll.

Nach der Reichspogromnacht 1938 fassten Sophie und Siegfried Lehmann den Entschluss, Deutschland zu verlassen. Ihre Kinder durften keine staatliche Schule mehr besuchen und mussten auf die jüdische Gartenbauschule in Ahlem gehen. Ab 1939 war es Juden verboten, Betriebe zu führen, so dass die Firma geschlossen (oder verkauft) werden musste.

Siegfried bereitete die Emigration seiner Familie vor: Im Juli 1939 verkaufte er sein Haus und wohnte dort weiterhin zur Miete. Doch, der Beginn des Zweiten Weltkriegs verhinderte die bereits terminierte Abreise. Außerdem war er wegen der Geschäftsanteile, die er von seinem Bruder und seiner Schwägerin übernommenen hatte, noch nicht schuldenfrei.

Im Juli 1942 musste die Familie Lehmann ihre Wohnung verlassen. Am 20.7.1942 wurden sie mit dem dritten Deportationstransport aus Hannover ins Ghetto Theresien­stadt gebracht.

Siegfried, Sophie und Walter Lehmann, 1942. Stadtarchiv Barsinghausen

Siegfried Lehmann kam in Theresienstadt am 6.9.1943 ums Leben. Seine Ehefrau Sophie sowie die Töchter Hilde und Lore sind am 4.10.1944 weiter nach Auschwitz transportiert worden, wo sie ermordet wurden. Ihr Sohn Walter, der am 28.9.1944 ebenfalls nach Auschwitz, dann weiter nach Dachau ver­schleppt worden war, ist dort am 14.1.1945 ums Leben gekommen.

Transportkarten vom Ghetto Theresienstadt ins KZ Auschwitz für Sophie Lehmann und ihre Kinder Hilde, Lore und Walter, 1944. Stadtarchiv Barsinghausen

Familie Siegfried Lehmann, ca. 1934/35. Stadtarchiv Barsinghausen

Sally Hirschberg war mit Rosalie, geb. Trautmann, verheiratet. Sie hatten zwei Töchter, Marga und Hertha. 1912 zog die Familie in die Marktstr. 6, in der Sally das Erdgeschoss für sein Konfektions- und Kleidergeschäft und darüber eine 5-Zimmerwohnung angemietet hatte.

1933 bis 1935 soll das Geschäft noch einen Gewinn von jeweils ca. 16.000 RM eingebracht haben. Doch setzte infolge des Boykotts jüdischer Geschäfte ein starker Rückgang ein. Der Gewinn sank bis 1938 auf 8.000 RM.

Nachdem das Geschäft in der Reichspogromnacht demoliert worden war, gab Sally Hirschberg sein Geschäft auf, kündigte den Mietvertrag und verkaufte das Warenlager. Hirschbergs bereiteten sich auf die Emigration vor.

Im Januar 1939 wurde ihr Umzugsgut nach Bremen transportiert und zusammen mit Gegenständen der Töchter Marga und Hertha verpackt, die ebenfalls die Emigration vorbereiteten. Die Kosten beglich Sally Hirschberg. Rosalie und Sally Hirschberg bezogen in der Kaltenbornstraße 3 eine Zweizimmerwohnung.

Die für März 1939 geplante Ausreise nach Uruguay scheiterte jedoch ‒ vermutlich aus finanziellen Gründen.

Im November 1940 ließ Sally Hirschberg einen Teil des in Bremen eingelagerten Umzugsguts verkaufen; im Mai 1941 lief die Frist der Ausfuhrgenehmigung ab; im Oktober ließ er das restliche Umzugsgut zurück nach Hannover bringen ‒ Rosalie und Sally Hirschberg scheinen jeglichen Emigrationsplan aufgegeben zu haben. Am 31. März 1942 sind sie mit dem zweiten Judentransport aus Hannover ins Ghetto Warschau deportiert worden. Sie kamen dort ums Leben.

Im Mai 1941 konnten Marga und ihr Sohn einen „Sammeltransport“ von Berlin nach Barcelona nutzen und von dort nach New York übersetzen. Die Frachtkosten übernahm ihr (Groß-)Vater Sally.

Hertha ist zusammen mit ihrem Ehemann und ihrer Tochter im November 1941 von Bremen aus nach Maly Trostinez bei Minsk deportiert worden. Hertha und Selma wurden hier vermutlich im Juli 1942 ermordet.

Herta Spanier, geb. Hirschberg. Stadtarchiv Barsinghausen

Zum 30jährigen Firmenjubiläum 1932 etwas Besonderes: Anzeige in der Provinzial-Deister-Leine-Zeitung, 1.11.1932. Stadtarchiv Barsinghausen

Sally Hirschberg, 1905. Stadtarchiv Barsinghausen

1897 heiratete Carl Seligmann die Barsinghäuserin Alwine Levi. Sie wohnten bei Alwines Eltern in der Rehrbrinkstraße 3, wo Carl sich eine Schlächterei einrichten konnte. Ihnen wurden sechs Kinder geboren, von denen zwei noch als Säuglinge starben. Nach dem Tod seiner Ehefrau heiratete Carl 1934 Fanny Nussbaum.

1930 übergab Carl Seligmann das florierende Geschäft seinem Sohn Erich. Bis 1933 lag Erichs Verdienst bei 10.000 RM jährlich. Wegen des nun einsetzenden Boykotts ging der Geschäftsumfang erheblich zurück. Die Belieferung vom Schlachthof wurde immer unsicherer, immer weniger Kunden wagten sich in sein Geschäft. Deshalb konzentrierte er sich ab 1936 auf den Viehhandel. Dennoch ging sein Einkommen rapide zurück: 1936 betrug es nur noch 3.569 RM. Am 1. Juni 1938 meldete er sein Gewerbe ab.

Ende August 1938 beantragte Erich Seligmann Reisepässe und Unbedenklichkeitsbescheinigungen für die Ausreise in die USA; geplant war sie für den 14. Dezember 1938. Die Reichspogromnacht, bei der alle Fensterscheiben eingeschlagen wurden, besonders seine Verhaftung am 10. November vereitelte den Plan; die schon gebuchten Schiffskarten verfielen. Im Januar 1939 verkaufte er sein Haus samt der Schlachtereieinrichtung. Auch der nächste Ausreisetermin im Februar 1939 verstrich, denn die Familie hatte keine Visa für die USA bekommen; die Bürgschaft hatte sich „als nicht ausreichend erwies[en]“. Seligmanns mussten das Haus verlassen; die Großeltern zogen nach Hannover, Erich mit Ehefrau und Tochter (*1937) zu Verwandten in der Nähe von Minden. Nach Kriegsbeginn traf die erforderliche Bürgschaft ein, das Visum wurde erteilt. Eine Ausreise über Genua im Mai 1940 zerschlug sich, aber im August klappte es – durch die Sowjetunion.

Am 15. Dezember 1941 wurden Carl und Fanny Seligmann mit dem ersten Transport aus Hannover nach Riga deportiert und kamen dort ums Leben.

Das Jüdische Nachrichtenblatt informierte über „die neuen Auswanderungswege“. Deutsche Nationalbibliothek

Hans Lehmann, Neffe von Siegfried Lehmann, wuchs in Barsinghausen in der Bahnhofstraße 14 auf. Nach dem Abitur studierte er ab 1930 Medizin. Als im Oktober 1933 „nicht-arischen“ Medizinstudenten die Zulassung zur Arztprüfung untersagt wurde, wechselte er im November 1933 nach Perugia (Italien) und legte hier 1936 das Staatsexamen ab.

Ab Mai 1934 erhielten jüdische Ärzte in Deutschland keine Krankenkassenzulassung mehr. Deshalb entschloss sich Hans Lehmann, in die USA auszuwandern. Nach der „Anschaffung von ärztlichen Instrumenten“ und Erfüllung aller Auflagen schiffte er sich im März 1936 mit „13 schweren Kisten“ nach New York ein. In Philadelphia und Seattle setzte Hans Lehmann seine Ausbildung fort, bestand 1937 die Staatsprüfung und praktizierte anschließend als Arzt in Seattle.

1943 meldete sich Hans Lehmann zum medizinischen Korps der US-Armee. Er gehörte mit zu den ersten Einheiten, die im April 1945 in Hannover eintrafen.

Kurz darauf fuhr er nach Barsinghausen. „Ich war völlig aufgewühlt als wir uns der Stadt mit unserem Jeep näherten“, schrieb er später. „Ich klopfte an die Tür [von Tante Henny] und hoffte inständig, dass irgendjemand aus meiner Familie die Schrecken der Kriegsjahre überlebt haben mochte. Seit fünf Jahren hatten wir nichts mehr gehört… Was für eine Überraschung! Welch‘ wundervolles Wiedersehen. Alle fünf Mitglieder der Familie N[oltemeyer] […] hatten die alptraumhaften Jahre der Hitler-Ära gerade soeben überlebt.“ Doch: „Alle meine engsten Verwandten, die in Nazideutschland geblieben waren, waren in Konzentrationslagern umgekommen. In meiner Familie hatten nur Mitglieder aus gemischten Familien überlebt.“

Hans Lehmann am umgestürzten Grabstein seines Vaters auf dem jüngeren jüdischen Friedhof in Barsinghausen, April 1945. Stadtarchiv Barsinghausen

Da Hans Lehmann in Barsinghausen alte und neue Freunde fand, initiierte er mit anderen emigrierten Mitgliedern der Familie Lehmann Anfang der 1980er Jahre die Siegfried Lehmann-Stiftung, die im Raum Barsinghausen das Gedenken an die Verfolgung der Juden wach und lebendig halten sollte.

Hans Lehmann starb 1996 in Seattle/USA.

Hans Lehmann, ca. 1932. Stadtarchiv Barsinghausen

Über die Täter in Barsinghausen ist fast nichts bekannt. Bis auf Sigmund Weiss, Hans Lehmann und seine Schwester Ruth Metzon, die emigrierten, schwiegen und schweigen die Zeitzeugen in Barsinghausen. Sie wollten das weitere Zusammenleben nicht erschweren, auch nicht die Nachkommen der betroffenen Familien belasten.

1980 benannte die Stadt Barsinghausen den Teil der Poststraße, der über das frühere Grundstück Bahnhofstraße 19 führt und bis 1939 der Familie Lehmann gehörte, in Siegfried-Lehmann-Straße um.

Dieses öffentliche Bekenntnis, das von einem Großteil der Barsinghäuser Bevölkerung geteilt wurde, nahmen Hans Lehmann und weitere emigrierte Mitglieder der Familie Lehmann zum Anlass, die Siegfried Lehmann-Stiftung zu gründen. Die Stiftung sollte besonders in Barsinghausen dazu beitragen, die Erinnerung an die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung während der nationalsozialistischen Herrschaft wach zu halten. Unterstützt durch die Stadt Barsinghausen tut sie dies unter anderem mit etlichen Veranstaltungen, Preisverleihungen und Projektförderungen.

Bei der Verleihung des Siegfried Lehmann-Preises: Der Vorsitzende der Siegfried Lehmann-Stiftung Klaus D. Richter mit der Preisträgerin Rosemarie Struß, ihrer Tochter und Enkelin, 2012. Stadtarchiv Barsinghausen

Am Deister-Waldrand, außerhalb des Ortes, hatte die Synagogengemeinde ihren ersten (nachweisbaren) Friedhof, auf dem 1912 die letzte Bestattung stattfand. Bis in die 1930er Jahre war der Friedhof intakt geblieben. Am Tag nach der Reichspogromnacht wurde er zerstört und bald darauf vom Forstamt eingeebnet. 1944/45 begannen hier Bauarbeiten, um 14 „Behelfsheime“ zu errichten, die erst im September 1945 endgültig eingestellt wurden.

Lageplan der Behelfsheime, 1944. Die beiden Flurstücke des alten jüdischen Friedhofs mit ihren Flurnummern sind deutlich erkennbar. Stadtarchiv Barsinghausen

Während eines Schulprojekts wurden 1981 auf der eingeebneten Friedhofsfläche Grabsteinfragmente gefunden und geborgen. Ein auf dem Grundstück Bergamtstraße 3 entdeckter Grabstein, ist 1982 hier wieder errichtet worden.

2015 ist die Friedhofsfläche vom Landesverband der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen neugestaltet worden.

Der neugestaltete alte jüdische Friedhof, 2015. In dem Lapidarium sind die 1981 geborgenen Grabsteinfragmente eingelassen worden. Deister Echo, 5.11.2015

1912 fand die erste Beisetzung auf dem neuen jüdischen Friedhof an der Kirchdorfer Straße statt. Bis auf umgestürzte Grabsteine, blieb er von Zerstörungen verschont. 1943/44 sind hier noch vier sowjetische Kriegsgefangene beigesetzt worden. Heute wird er mit Mitteln des Landes Niedersachsen gepflegt.

Seit 2006 erinnern zahlreiche, in Barsinghausen verlegte „Stolpersteine“ an frühere, vorwiegend jüdische Einwohner, die während der NS-Herrschaft ermordet wurden.

Bei der ersten Stolpersteinverlegung 2006 in Barsinghausen: Der Stolperstein für Marie Schmidt. Stadtarchiv Barsinghausen

Hans Lehmann spricht zur Umbenennung des Teilstücks der Poststraße in Siegfried-Lehmann-Straße, 1980. Stadtarchiv Barsinghausen

Matthias Brodtmann, Während und zwischen den Weltkriegen, in: Barsinghausen – unter Klöppel, Schlegel und Eisen, 2. Aufl., Barsinghausen 2010, S. 244 ff.

Friedel Homeyer, Gestern und Heute. Juden im Landkreis Hannover, Hannover 1984, S. 200 ff.

Friedel Homeyer/Klaus Vespermann, Sigmund Weiss. Das Schicksal einer Familie. 1938-1945, Hannover 1988.

H[ans] Lehmann, A Time out of Joint, Seattle/Washington 1990.

Eckard Steigerwald, Zu den Repressalien und Verfolgungen der Juden in Barsinghausen, in: Barsinghausen – unter Klöppel, Schlegel und Eisen, 2. Aufl., Barsinghausen 2010, S. 279 ff.

Stolpersteine in Barsinghausen

Siegfried-Lehmann-Stiftung