November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Coppenbrügge

Jüdisches Leben ist in Coppenbrügge erstmals 1630 und damit vergleichsweise früh belegt. Der Friedhof wird 1787 aktenkundig, eine (neue) Synagoge 1814. 1839 lebten 50 Juden in Coppenbrügge; fünf Häuser hatten über mehrere Generationen jüdische Eigentümer. Mit bis zu vier Prozent war der Anteil der Juden an den Einwohnern im 18. und 19. Jahrhundert sehr hoch. 1913 zählte die Gemeinde jedoch lediglich noch acht „Seelen“. Zur Feier des Sabbats fuhr man nach Hameln.

Bekannt im Ort waren Oskar und Elise Levy mit ihrer Tochter Ruth. Der 1909 geborene Oskar Levy verkaufte 1918 das reiche Erbe des Vaters, eine Textilmanufaktur im Haus Schlossstraße 15/16, um selbst ein kleineres Textilgeschäft zu etablieren. Er war Mitglied im Schützen- und Kriegerverein und hatte zur Errichtung des Kriegerdenkmals mit Spenden beigetragen. Nach 1933 hatte die Familie unter Schikanen zu leiden. So wurde mehrmals an das Haus seines Vermieters geschrieben: „Hier wohnt ein Judenfreund.“ Aus der Mitgliederliste des Schützenvereins wurde er bereits 1932 gestrichen.

Am 22. April 1933 wurde Oskar Levy auf Befehl des Landrats für zehn Tage im Gefängnis Hameln in „Schutzhaft“ genommen. NSDAP-Ortsgruppenleiter Walter Hasselwander soll Oskar Levy auf offener Straße niedergeschlagen haben: „Weil Levy sich bei dem Überfall gewehrt hat, wurde er auf Anweisung Hasselwanders von der Gestapo verhaftet, schwer mißhandelt und eingesperrt.“ Nach seiner Entlassung soll Oskar Levy sich still verhalten haben.

Obwohl Oskar Levy auf der Liste der Empfangsberechtigten stand, händigte ihm Bürgermeister Beckmann das Ehrenkreuz für Frontkämpfer nicht aus.

David Adler und seine Ehefrau Resi machten sich 1924 in Coppenbrügge mit einem Textilgeschäft selbstständig. Das Geschäft lief so gut, dass David Adler ein Auto anschaffen und die Dörfer bereisen konnte. Adlers hatten sich rasch im Ort integriert. Seit 1933 sank der Umsatz des Geschäfts um fast die Hälfte, stabilisierte sich aber auf diesem Niveau. Während das Ladengeschäft massiv unter Boykotten litt, machte Adler als reisender Kaufmann weiterhin relativ gute Umsätze.

Der NSDAP-Ortsgruppe war das beliebte Geschäft ein besonderer Dorn im Auge. Aus dem gegenüberliegenden Haus des Schmieds Wilhelm Spiegelberg wurden Kunden von Adler gemeldet. In Coppenbrügge hing ein sogenannter „Stürmer“-Kasten, in dem Personen, die in jüdischen Geschäften gekauft haben sollten, öffentlich angeprangert wurden. Als Kaufwillige das Geschäft daraufhin über einen rückwärtigen Zugang aufsuchten, beschlossen Bürgermeister Beckmann und der Gemeinderat auf Antrag des Ortsgruppenleiters Hasselwander, den rückwärtigen „Weg als nicht öffentlich zu erklären und das Betreten desselben unter Strafe zu stellen“.

Der einzige Sohn Martin, geb. 1922, musste 1935, obwohl noch schulpflichtig, die Schule in Coppenbrügge verlassen. Ein Zeitzeuge berichtet, „wie Hasselwander und seine Jungens bei jeder passenden Gelegenheit auf der Straße den Sohn vom Juden David Adler überfallen und verprügelt haben, daß das Blut aus Mund und Nase kam.“

Im März 1938 gelang der einvernehmliche Verkauf des Geschäfts an Karl Schlichtmann. Im Juli 1938 reiste die Familie nach Hamburg, um dort das Schiff nach New York zu betreten.

Obwohl noch Juden in Coppenbrügge lebten, setzte Bürgermeister Beckmann beim Regierungspräsidenten 1937 die Schließung des Friedhofs durch, „da derselbe inmitten der geschlossenen Ortschaft belegen ist“. Ein weiterer Grund dürfte gewesen sein, dass Hitler am Friedhof entlang fuhr, wenn er vom Reichserntedankfest am Bückeberg nach Goslar fuhr.

Im Mai 1938 ließ der Bürgermeister den Friedhof mit seinen ca. 60 Grabsteinen eigenmächtig einebnen. Nur vier Grabstellen, deren Ruhefrist noch nicht abgelaufen war, blieben bestehen. Die Steine wurden als Straßenschotter und als Kantsteine bei der Erweiterung des christlichen Friedhofes verwendet, die Eingangspfosten als Torpfosten des christlichen Friedhofes.

 

 

Am 9. November 1938 wurde der mittlerweile vollständig verarmte Oskar Levy erneut verhaftet und in das KZ Buchenwald gebracht. In derselben Nacht zerstörte die Coppenbrügger SA die letzten Steine des jüdischen Friedhofes. Unter den Beteiligten waren ein Amtsgerichtssekretär, ein Beamter am Amtsgericht Hameln, ein Beamter am Finanzamt Hameln, ein Eisenbahnbeamter, zwei selbstständige Schmiedemeister, ein selbstständiger Friseur, ein Gemeindebeamter, ein Zimmereiarbeiter und ein Milchkontrolleur, also überwiegend Männer, die zur wohlsituierten, bürgerlich-konservativen Mitte des Ortes gehörten.

Nach sechs Wochen wurde Oskar Levy aus dem KZ Buchenwald entlassen und am 27. Dezember 1938 mit seiner Frau Elise nach Hannover. Seit 1940 lebten die Eheleute zusammen mit ihrer Tochter Ruth, die am dortigen israelitischen Krankenhaus arbeitete. Oskar Levy musste Zwangsarbeit leisten. Anstrengungen für eine Auswanderung unternahmen Oskar und seine Frau Lieschen offenkundig nicht.

Seit September 1941 mussten sie im „Judenhaus“ Brabeckstraße 86 wohnen. Am 15. Dezember 1941 wurde Oskar Levy mit seiner Ehefrau Elise, der Tochter Ruth und seinem jüngeren Bruder Erich Levy über Ahlem in das Ghetto Riga deportiert. Der Tag ihres Todes ist nicht bekannt.

Seit 1938 führte Bürgermeister Beckmann zuerst mit Oskar Levy, dann mit der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland Gespräche mit dem Ziel, das Gelände des Friedhofes für die Gemeinde zu erwerben. Völlig überraschend kaufte er 1943 schließlich das Grundstück persönlich und verpachtete das Gelände als Wiese.

 

Die große Fläche des jüdischen Friedhofs Coppenbrügge im heutigen Zustand, 2015. Foto: Bernhard Gelderblom

Ruth Levy, geb. 1911, war das einzige Kind von Oskar und Elise, genannt Lieschen, Levy.

Seit 1933 arbeitete sie in Hannover als Operations-und Krankenschwester am israelitischen Krankenhaus. Ab 1940 wohnte sie zusammen mit ihren Eltern in einer kleinen Wohnung. Mit einem jungen Mann, der in der Pogromnacht in das KZ Buchenwald verschleppt worden war, war sie eine Verlobung eingegangen. Im Herbst 1941 bestand die Verlobung nicht mehr.

Spätestens seit Frühjahr 1940 betrieb Ruth Levy ihre Auswanderung. Ein Krankenhaus in Caracas, Venezuela, hatte sie angefordert. Sie plante, ohne ihre Eltern zu gehen. Um die Genehmigung zur Auswanderung zu erreichen, waren extrem hohe bürokratischen Hürden zu überwinden. Neben dem Finanzamt waren die Gestapo, die Zollfahndungsstelle, die Reichsbank, die Devisenstelle des Oberfinanzpräsidenten, der Vorstand der israelitischen Gemeinde und das Hauptzollamt eingeschaltet. Fast eineinhalb Jahre lang tat sich in Sachen Auswanderung nichts.

Im September 1941 musste Familie Levy ins „Judenhaus“ Brabeckstraße 86 ziehen. Am 7. Oktober 1941 genehmigte der Oberfinanzpräsident die „Verbringung der aufgeführten Sachen ins Ausland“, nicht ohne den Hinweis, dass die Bescheinigung nach sechs Monaten verfallen würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte die NS-Regierung die Ausreise von Juden bereits gestoppt, ohne dass dies den unteren Behörden und den betroffenen Juden mitgeteilt worden wäre.

Im November 1941 mussten die Levys nach Ahlem übersiedeln. Hier erhielten sie die Benachrichtigung zur „Wohnsitzverlegung“ in den Osten. Ruth Levy gab daraufhin zur Kenntnis: „Ich soll am 18.11.41 ab Barcelona nach Venezuela fahren. Mein Pass liegt schon am Hilfsverein Berlin. Visum u. sonstige Papiere sind in Ordnung. Meine Sachen sind zollamtlich gepackt.“

Diese Mitteilung rettete sie jedoch nicht vor der Deportation. Am 15. November 1941 wurde sie vom Bahnhof Hannover-Linden in einem Zug mit 1100 Juden in das „Reichsjudenghetto Riga“ gebracht. Dort arbeitete Ruth Levy zeitweise in einer Sanitätsstation. In einem Brief aus dem Ghetto muss sie nach Coppenbrügge geschrieben haben, dass es ganz furchtbar sei, was sie dort durchmachten; sie würden bald umgesiedelt.

Das Schicksal von Ruth Levy hat die Menschen in Coppenbrügge sehr beschäftigt. So wurde erzählt, sie hätte ein Verhältnis mit dem deutschen Lagerarzt gehabt; beide seien deswegen erschossen worden. Die Umstände und der Tag ihres Todes sind jedoch nicht bekannt.

Ruth Levy als junges Mädchen im Atelier eines Fotographen, undatiert. Sammlung Jürgen Holzapfel, Coppenbrügge

Walter Hasselwander kann als fanatischer Nationalsozialist bezeichnet werden.

 

Hasselwander kam um 1920 nach Coppenbrügge. Seinen Beruf als Viehkaufmann erlernte er hier bei dem jüdischen Viehhändler Sally Weinberg. 1930 trat er der NSDAP bei. Mitglied der SA war er seit 1932. In der NS-Zeit machte er Karriere. Als kommissarischer Ortsgruppenleiter (1934-1936) war es seine Aufgabe, „die Bevölkerung nationalsozialistisch auszurichten“ und den Bürgermeister zu kontrollieren.

Für seinen obsessiven Judenhass finden sich zahlreiche Belege. An den jüdischen Friseur Seligmann schrieb er: „Sie haben sich abfällig über den Malermeister Garlin geäußert. Unterlassen sie das, es könnte schlecht für Sie ausfallen. Sie haben als Jude kein Recht sich über einen Deutschen abfällig zu äußern, zumal derselbe sein Brot ehrlich verdient.“ An den Parteigenossen König, dessen Tochter wiederholt „beim Juden Adler“ gekauft hatte, ging die Warnung: „Die ganze Welt leidet unter der Schlechtigkeit der Juden und unser Führer mit seiner Regierung hat schwere Kämpfe zu bestehen wegen dieser Lumpen. Auch wir hier unten führen den Kampf gegen diese Ausbeuter, da ist es bestimmt nicht angebracht, wenn die Tochter eines Parteigenossen und die Braut eines Pg. [Parteigenossen] zum Juden geht.“

Auf seine Anweisung hin wurden in Coppenbrügge Schilder mit der Aufschrift: „Juden ist der Zutritt in diesem Ort verboten“ angebracht. 1937 bezog Hasselwander eines der neu errichteten Häuser der Adolf-Hitler-Straße (heute Friedrich Beckmann-Straße). Den Posten als Ortsgruppenleiter gab Hasselwander auf, als er 1936/37 „Viehkommissar“ am Schlachthof Hameln werden konnte. Über sein weiteres Leben ist nichts bekannt.

Walter Hasselwander am 1. Mai 1933 beim Aufmarsch der SA in Coppenbrügge in der ersten Reihe als 3. von links. Sammlung Jürgen Holzapfel, Coppenbrügge

Walter Hasselwander im Alter von ca. 42 Jahren, ca. 1924. Sammlung Jürgen Holzapfel, Coppenbrügge

Die Entnazifizierungskammer versuchte in zahlreichen Verfahren gegen Coppenbrügger Bürger, Licht in die Vorgänge um die Zerstörung des Friedhofes 1938 zu bringen. Sie stellte fest, dass sowohl Ortsgruppenleiter Hasselwander als auch Bürgermeister Beckmann den Befehl zur Einebnung erteilt hätten. Die Frage nach dem Ursprung der Befehlskette (der Landrat oder die Hamelner SA-Standarte) blieb jedoch ungeklärt. Am Ende wollte die Kammer offenkundig nichts zur Klärung der Verantwortlichkeiten beitragen und ließ vor allem Bürgermeister Beckmann ungeschoren davonkommen. Im Übrigen schenkte sie den Ausflüchten der Vorgeladenen Glauben.

Die Klage der Jewish Trust Corporation gegen Friedrich Beckmann auf Rückerstattung des Geländes des jüdischen Friedhofs wurde 1953 gerichtlich abgewiesen. Friedrich Beckmann, der nach dem Krieg erneut als Bürgermeister amtierte, konnte dem Gericht glaubhaft machen, es habe sich um ein völlig minderwertiges Grundstück gehandelt, das er selbst mühsam verbessert habe. Grundstücke im Verkaufswert von unter 1000 DM wurden damals nicht zurückerstattet.

Nach dem Krieg blieb der Friedhof zunächst in Privatbesitz. In zwei Schritten wurde das Gelände weiter verkleinert, zunächst zugunsten der südlich anschließenden Schule. Um 1962 kam es erstmals – auf Kosten des Landes Niedersachsen und ohne jeden Grabstein – zur Neuanlage der leeren Fläche als Friedhof. Damals setzte der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen einen Gedenkstein.

Versuche des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden, das Gelände zu kaufen, blieben vergeblich. Friedrich Beckmann war immerhin dazu bereit, das weiter in seinem Besitz befindliche Grundstück an den Flecken zu verpachten, der wiederum das Teilstück, auf dem der Gedenkstein stand, an den Landesverband unterverpachtete. Bedingung war, dass der Landesverband den über den Friedhof führenden öffentlichen Weg dulden musste. 1977 kaufte der Flecken Coppenbrügge das Grundstück und trennte gleichzeitig den östlichen Teil des Geländes (ca. ein Viertel der Fläche) zur Errichtung einer Bushaltestelle ab.

Exkursionen, Vorträge und Seminare von Bernhard Gelderblom in den Jahren 1989, 1994 und 1998 stießen auf wachsendes Interesse der Einwohner. Im Anschluss an das Seminar 1998 kam es zu einer Petition Coppenbrügger Bürger, die eine Rückgabe der Fläche an den Landesverband der Jüdischen Gemeinden forderten sowie die Rückführung der alten Torpfosten und die Aufstellung einer Informationstafel. Alle drei Punkte konnten in der Folge umgesetzt werden. Die Informationstafel wurde am 9. November 1998 eingeweiht. Sie enthält auch die Namen der aus Coppenbrügge stammenden Deportierten.

In Vorbereitung auf eine Buchpublikation gab Bernhard Gelderblom am 10. September 2015 einen „Werkstattbericht“ insbesondere zu den Ereignissen in Coppenbrügge in der NS-Zeit. Die Publikation „Die Juden von Coppenbrügge“ wurde am 10. November 2016 im Ort vorgestellt. Sie will nicht nur an die Opfer erinnern, sondern beschreibt auch das Handeln derer, die als Täter oder Mitläufer zum Geschehen beigetragen haben. Der Flecken Coppenbrügge war bereit, die Druckkosten zu tragen.

Gedenkstein des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen von ca. 1962, 2005. Foto: Bernhard Gelderblom

Bernhard Gelderblom, Ortsartikel Coppenbrügge, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bände, Göttingen 2005, S. 429-435.

Bernhard Gelderblom, Die Juden von Coppenbrügge, Holzminden 2016.

Orte der Erinnerung für die Opfer des Nationalsozialismus im Kreis Hameln-Pyrmont und angrenzenden Orten: Coppenbrügge

http://www.geschichte-hameln.de/erinnerungsorte/coppenbruegge.php?ort=coppenbruegge

Die Dokumentation der Opfer der NS-Herrschaft in der Stadt Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont: Deportierte jüdische Bürger aus Coppenbrügge

http://www.geschichte-hameln.de/gedenkbuch/gedenkbuch.php

Der jüdische Friedhof Coppenbrügge

http://www.gelderblom-hameln.de/judenhameln/friedhoefe/judenfriedcoppenbruegge.php?name=coppenbruegge