November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Holzminden

In Holzminden wurde 1557 erstmalig jüdisches Leben erwähnt. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden erste Schutzbriefe der Landesherrschaft für jüdische Bewohner_innen Holzmindens ausgestellt, die eine dauerhafte Ansiedlung im Stadtgebiet erlaubten. Namentlich wurde beispielsweise die Familie Isaac Gersons aufgeführt, in dessen Haus ab 1736 ein Gebetsraum belegt werden kann. Die kleine Zahl jüdischer Familien verdiente ihren Lebensunterhalt unter anderem mit dem Handel von Vieh und Korn, Manufakturwaren sowie dem Geldverleih. Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts wurde ein jüdischer Friedhof am Beukampsborn angelegt, der bis 1884 genutzt wurde. Zuvor wurden Verstorbene auf dem ersten jüdischen Friedhof am Hafendamm bestattet, der 1743 zum Beukampsborn verlegt wurde. Ab 1884 fanden Verstorbene auf dem im gleichen Jahr neu errichteten jüdischen Friedhof an der Allersheimer Straße ihre letzte Ruhe.

Bereits 1765 wurde ein Gebetsaal im ersten Stock der Mittleren Straße 15 erwähnt, 1838 weihte die jüdische Gemeinde Holzmindens ein neu errichtetes Synagogengebäude in der heutigen Oberbachstraße 53 ein. Die Synagoge lag zwischen Neuer und Oberer Bachstraße hinter einem Gebäude, das als Religionsschule und Gemeindehaus genutzt wurde sowie eine Lehrerwohnung beherbergte.

Zählte Holzminden 1871 noch 88 Menschen jüdischen Glaubens (bei knapp 6.000 Einwohner_innen), stieg die Zahl bis 1890 auf 130 an. Trotz des sich verstärkenden Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts und nach dem Ersten Weltkrieg waren die Holzmindener Jüdinnen und Juden gesellschaftlich gut integriert. Beispielhaft hierfür steht der Bankier Adolf Müller (geb. 1853). Nicht nur sein Name birgt Anzeichen einer Assimilation, sondern sein ganzer Lebensweg, der durch umfangreich erhaltene Quellen nachgezeichnet werden kann. So unterstützte Müller zum Beispiel den Lokalmaler Carl Büttger, den Müller vor allem wegen seiner Landschaftsbilder schätzte. Diese Sammlung lässt auf ein tiefes Gefühl der Verbundenheit mit der deutschen Heimat und Kultur schließen. Seine Kinder, Käthe und Alexander, pflegten zahlreiche Freundschaften mit (christlichen) „Nichtjuden“. Adolf Müllers deutsches Identitätsbewusstsein spiegelt sich gut während des Besuchs der Kaisertochter, Herzogin Victoria Luise, 1913 wieder, anlässlich dessen er extra – erfüllt von patriotischem Pflichtgefühl – nach Braunschweig fuhr und eine Postkarte an Sohn Alexander versandte. Auch in Müllers nahem Verwandtenkreis zeigte sich das Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Nation: Zwei Neffen fielen im Ersten Weltkrieg bzw. starben im Einsatz für nationale Freicorps. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten und die ersten antisemitischen Gesetze nahm Adolf Müller bewusst wahr und beschrieb 1934 in einem Brief an Verwandte in Palästina das feindselige Klima:

„In einem Monat werden sich hier in Norddeutschland die ersten Frühlingsboten zeigen, nur leider nicht die ersten Friedensboten, die uns armen geplagten Nicht-ariern den Beginn besserer Zeiten und ein vorläufiges Ende unserer  seelischen Qualen ahnen lassen. Man hört nichts Gutes, wirtschaftlich nur Schlimmes, und ich speziell glaube an keine baldige Besserung. — Die Jugend wandert aus und wir Alten, die nur die Erinnerung an bessere Zeiten in uns tragen, müssen uns daran genügen lassen und gottergeben das Ende in unserem schönen, ach,  so ungemütlich gewordenen Vaterland abwarten.“ 

Das Schreiben verdeutlicht Müllers tiefe Identifikation mit seiner deutschen Heimat. Adolf Müller starb mit 86 Jahren am 24. Januar 1940 in Holzminden an einer Lungenentzündung. Die Mehrzahl seiner Verwandten überlebte die Shoa nicht.

Die von Müller beschriebenen Qualen der „Nicht-Arier“ begannen bereits im Februar 1933, als zwei Fensterscheiben von jüdischen Geschäften in Holzminden eingeschlagen werden. Bereits einen Monat später, am 22. März 1933, wurden zwölf in der Stadt wohnhafte jüdische Männer nachts aus ihren Wohnungen geholt und von SA-Männern brutal misshandelt. Infolgedessen flohen viele Holzmindener Jüdinnen und Juden in größere Städte. Zum Boykott jüdischer Geschäfte wurde 1933 ebenfalls aufgerufen, bis Anfang 1938 sind jedoch „nur“ vier von 20 jüdisch geführten Geschäften „arisiert“. Zu bedenken ist hier jedoch die zusätzliche Aufgabe oder Verpachtung von Geschäften, mit der sich mehrere Besitzer vor Terror und Repressalien zu schützen suchten.

Auch der 1884 errichtete jüdische Friedhof wurde zu Beginn des NS-Regimes geschändet. So ist es nicht verwunderlich, dass die Zahl der von den Nationalsozialisten als „jüdisch“ kategorisierten Einwohner/innen von 84 (1933) auf 19 (September 1939) und schließlich fünf (Dezember 1939) sank.

1935 wurde der alte Friedhof am Beukampsborn eingeebnet, die Grabsteine abgetragen. Während des Krieges stand auf dem Gelände eine Baracke für ausländische Zwangsarbeiter/innen. Bis April 1938 zogen zwei Drittel aller als „Jüdinnen und Juden“ klassifizierten Verfolgten in größere deutsche Städte oder emigrieren ins Ausland, wo sie sich Schutz erhoffen.

Bericht über den Boykott jüdischer Geschäfte, „Täglicher Anzeiger Holzminden“ 1./2. 1933. Niedersächsisches Landesarchiv-Standort Wolfenbüttel, 30 Slg 2 Nr. 45

 

Die Geschehnisse können im Folgenden nicht aus der Perspektive der Opfer dargestellt werden, da keine Überlieferungen bekannt sind. Sicher ist: NSDAP-Kreisleiter August Knop befahl in den frühen Morgenstunden des 10. Novembers 1938 organisierten Trupps aus SA- und SS-Männern sowie NS-Sympathisanten, mit Gewalt gegen die verbliebenden jüdischen Menschen, deren Wohnungen und Häuser vorzugehen. Die Trupps verwüsteten das zu diesem Zeitpunkt einzige noch betriebene Handelsgeschäft, Firma Sally Kugelmann, sowie die 1838 errichtete Synagoge, in der bis 1936 noch Gottesdienste gehalten worden waren. Allerdings wurde die Synagoge, anders als in den meisten deutschen Städten, nicht niedergebrannt und somit gänzlich zerstört. Das Inventar, Schriften und andere Kultgegenstände wurden von den Tätern auf den Marktplatz gebracht, wo alles verbrannt wurde. Grund für das Verschonen der Synagoge war die Angst, ein Feuer könnte auf die dicht angrenzenden Häuser übergreifen.

Aus den verwüsteten Wohnungen der Opfer bereicherten sich Täter und Täterinnen auf unterschiedliche Weise: So bedienten sich z.B. Beauftragte der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt an Lebensmittelvorräten.

Die Bilanz der „Demonstration gegen das Judentum“, wie die Holzmindener Tageszeitung TAH am 11. November 1938 die Ereignisse betitelte, war düster: Aus der Kreisstadt selbst verhafteten Nationalsozialisten sieben Juden und einen „Jüdisch Versippten“. Aus dem Landkreis wurden 30 Juden verhaftet, im Rathaus gesammelt und größtenteils in das KZ Buchenwald deportiert. Einige von ihnen, darunter Dr. Alexander Müller, der Sohn Adolf Müllers, konnten nach einiger Zeit aus Buchenwald nach Holzminden zurückkehren. Anders als in der örtlichen Presse beschrieben, gingen die Pogrome im November nicht auf eine „erregte Volksmenge“ zurück. Einem Zeitzeugen zufolge befreiten Lehrkräfte Schulkinder am 10. November vom Unterricht, um sie später zum Schikanieren der Verhafteten und zur Schändung ihrer Gebäude zu instruieren und instrumentalisieren. In einem weiteren Augenzeugenbericht wird davon berichtet, dass ein örtlicher Polizeikommissar die Kinder drängte, mit Steinen zu werfen oder die Verhafteten anzuspucken.

Meldung des „Täglichen Anzeigers Holzminden“ über die „Demonstration gegen das Judentum“, 11. November 1938. Niedersächsisches Landesarchiv-Standort Wolfenbüttel, 30 Slg 2 Nr. 45

Als Folge der Gewalt und mutwilligen Zerstörung in der Nacht und am Tag des 10. November bemühten sich mehrere jüdische Holzmindener um die Emigration. Einigen gelang das, etwa den Brüdern Siegmund und Alfred Feldheim, deren Vater Buchbinder war. Die beiden waren zunächst mit dem Vater nach Buchenwald verschleppt worden, bevor ihr Fahrgeld bezahlt wurde. Das „Fahrgeld“ musste von Angehörigen der KZ-Häftlinge bezahlt werden und war eine der Voraussetzungen, die unter bestimmten Bedingungen eine vorzeitige Entlassung erwirken konnte. Kurz vor Kriegsbeginn im September 1939 gelang den Brüdern die Emigration nach England.

Bei Kriegsende gab es in Holzminden keine jüdische Gemeinde mehr. Lediglich eine in „Mischehe“ lebende Jüdin überlebte aufgrund nachbarschaftlicher Hilfe den Krieg in Holzminden.

Das Grundstück, auf dem die Synagoge stand, wurde 1942 verkauft: Der Kaufvertrag enthielt eine Klausel, die den Abriss der Synagoge vorschrieb und im Gegenzug einen Preisnachlass gewährte. Der Käufer kam der Auflage zwar nicht nach, das Synagogendach wurde allerdings bei einem Bombenangriff im April 1945 beschädigt und 1968 abgerissen.

Die Täter der Novemberpogrome können in Holzminden zum Teil, die Hauptverantwortlichen definitiv benannt werden. Letztere gehörten der lokalen Parteispitze an, als sicher gelten hier die Namen von SA-Chef Albert Blieschies, SS-Chef Ernst Appun, Landrat August Knop sowie dessen Stellvertreter und NS-Propagandaleiter August Laue. Der von den Briten zunächst als „gefährlich“ eingestufte und daher in ein Internierungslager der Alliierten gebrachte SS-Chef Appun wurde 1948 als „Mitläufer“ kategorisiert und freigelassen. Zur Mittäterschaft am Pogrom 1938 sagte er aus, nur mitgewirkt zu haben, um Schlimmeres zu verhindern. Appun wurde 1949 als Mittelschullehrer in Sarstedt beschäftigt. Die übrigen Genannten wurden nie explizit zum Novemberpogrom zur Rechenschaft gezogen und konnten in den meisten Fällen ihre Karriere in Verwaltung und Politik in der Nachkriegszeit fortsetzen.

Der gelernte Tischler und Bautechniker Julius Koch wurde 1876 als Kind evangelischer Eltern in Holzminden geboren. Als Bautechniker in vielen großen deutschen Städten unterwegs, lernte er in seiner Heimatstadt seine zukünftige Ehefrau, Emma Weinberg, kennen. Die Heirat erfolgte 1902, Ende 1902 und 1906 wurden die beiden Söhne Adolf und Willi geboren. Im Laufe der folgenden Jahre, wann genau ist nicht bekannt, wurde Julius Koch Wärter der Synagoge in Holzminden und wohnte in dieser Funktion mit seiner Frau im Vorderhaus der Synagoge. Als „Arier“ konnte er seine jüdische Ehefrau zunächst vor Repressalien schützen. Wie die beiden die Gewalt des 10. Novembers miterlebten, ist nicht überliefert. Julius Koch wurde für kurze Zeit im Zuge des Pogroms verhaftet, am selben Tag jedoch wieder entlassen.

Seit Juni 1937 bewohnte die Witwe Henriette Hodenberg, eines der im Gebäude zu vermietenden Zimmer. Während einer Zugfahrt hörte die ältere Frau zufällig Scherze, die sich gegen das NS-Regime um Hitler wendeten. Sie notierte sie stichwortartig auf einem Brief, der unglücklicherweise bei einer spontanen Hausdurchsuchung von Finanzbeamten entdeckt wurde. Als Jüdin von „niedriger Gesinnung“ sollte sie aufgrund des § 2 des Heimtückegesetzes angeklagt werden. Alle 13 in Holzminden verbliebenden Jüdinnen und Juden – oder als solche Kategorisierte – wurden verhört, um die Anschuldigungen zu bezeugen. Julius Koch deutete als einziger der Befragten an, die Witze aus Henriette Hodenbergs Mund gehört zu haben. Infolgedessen wurde er zu einer Gegenüberstellung geladen. Doch bevor es dazu kommen konnte, beschlossen er und seine Frau Emma, sich das Leben zu nehmen. Am 2. März 1939, wenige Monate nach den Novemberpogromen, erschoss Julius Koch erst seine Frau Emma und dann sich selbst.

Meldung über die Selbsttötung des Ehepaar Kochs im „Täglichen Anzeiger Holzminden“, 3. März 1939. Niedersächsisches Landesarchiv-Standort Wolfenbüttel, 30 Slg 2 Nr. 45

Mindestens 38 von den Nazis als Juden kategorisierte Menschen aus Holzminden und Umgebung wurden Opfer der Shoah. Ihrer wird heute in Holzminden an mehreren Stellen gedacht. In der unmittelbaren Nähe zum Standort der ehemaligen Synagoge wurden kurz nach deren Abriss 1968 am sogenannten „Katzensprung“ und dem dortigen, mittlerweile geschlossenen Museum bauliche Relikte der Synagoge, wie Kapitelle, angebracht.

Eine 1971 von der Stadt angebrachte Gedenktafel mit den deutschen und hebräischen Worten

„Pfeiler-Kapitellreste der 1837 erbauten und 1938 zerstörten, im Jahre 1968 abgebrochenen Synagoge —  Denn mein Haus soll ein Bethaus genannt werden für alle Völker – Jes. 56/7“

erinnert heute an das einstige Gebetshaus. Auf dem historischen Gelände befindet sich heute ein Kaufhausparkplatz, daneben erinnert seit 1999 eine zentrale Gedenkstelle an die jüdischen Einwohner/innen Holzmindens.

Der alte jüdische Friedhof am Beukampsborn war für viele Jahrzehnte bis auf ein Grabsteinfragment nicht mehr zu erkennen. 2015 schmiedeten Schüler*innen des Internats Solling während eines Projekts in Zusammenarbeit mit örtlichen Initiativen und Akteuren ein Metalltor, das ein würdiges Gedenken an den historischen Ort ermöglichen soll. In das Tor eingearbeitete Davidsterne und in ihrer Form an eine Menora erinnernde Flügeltüren zeugen von der Bedeutung und der Funktion der Fläche. Eine für das gemeinsame Projekt wichtige Rolle spielte der Autor und Pädagoge Klaus Kieckbusch, dem an dieser Stelle für seine Unterstützung für die Erstellung auch dieses Beitrags herzlich gedankt sein soll.

Der neue jüdische Friedhof an der Allersheimer Straße zeigt heute noch 65 Grabsteine, die zum Teil noch sehr gut erhalten sind. Er wird von der Evangelischen Gemeinde gepflegt.

Stolpersteine sind in Holzminden nicht verlegt.

Torbogen am „Katzensprung“ mit Überresten der Synagoge und Gedenktafel, 2018. Foto: Talia Hoch

Tor des jüdischen Friedhofs am Beukampsborn, 2018. Täglicher Anzeiger Holzminden

Die Synagoge kurz vor ihrem Abriss, Holzminden 1968.
Aufnahme Paul Kretschmer, 1968. http://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/h-j/940-holzminden-niedersachsen,  abgerufen am 13.8.2018.

Reinhard Bein (Hg.), Juden in Braunschweig 1900 – 1945. Materialien zur Landesgeschichte, 2. Aufl., Braunschweig 1988, S. 59 und S. 175-177.

Bernhard Gelderblom, Jüdisches Leben im mittleren Weserraum zwischen Hehlen und Polle. Von den Anfängen im 14. Jahrhundert bis zu seiner Vernichtung in der nationalsozialistischen Zeit – Ein Gedenkbuch, Hrsg. Heimat- und Geschichtsverein für Landkreis und Stadt Holzminden, Holzminden 2003.

Klaus Kieckbusch, Von Juden und Christen in Holzminden 1557 – 1945. Ein Geschichts- und Gedenkbuch, Holzminden 1998.

Klaus Kieckbusch (Red.), Holzminden, in: Herbert Obenaus (Hg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Göttingen 2005, Band 1, S. 233-236 und Band 2, S. 873-883.

Albert Marx, Geschichte der Juden in Niedersachsen, Hannover 1995.

Jörg Mitzkat/Andrew Schäfer, Jüdische Friedhöfe im Landkreis Holzminden, in: Schriftenreihe des Heimat- und Geschichtsvereins Holzminden, Heft 9/1996, Holzminden 1996, S. 28-33.

Rüdiger Schmidt, Der jüdische Friedhof in Holzminden, in: Detlef Creydt (Hg.): Zwangsarbeit für Rüstung, Landwirtschaft und Forsten im Oberwesergebiet 1939-1945, Bd. 3, Holzminden o.J., S. 145-164.

Topografie der Erinnerung –  Gedenken und Erinnern in Südniedersachsen: Holzminden

Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum: Holzminden (Niedersachsen)