November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Ahlem

Im Jahre 1893 gründete der hannoversche Bankier Moritz Simon in Ahlem die „Israelitische Erziehungsanstalt zu Ahlem bei Hannover“. Simon beschäftigte die schlechte Situation der Juden, die vor allem durch die Verfolgung osteuropäischer Juden an ihn herantrat. Gemäß seines Leitspruchs „Nicht durch Almosen, sondern durch Erziehung zur Arbeit kann unseren armen Glaubensgenossen geholfen werden“ beabsichtigte Simon eine „Berufsumschichtung“ der jüdischen Bevölkerung.

Da handwerkliche Berufe damals als besonders produktiv und nützlich angesehen wurden, beinhaltete seine Schule nicht nur eine Volksschule mit Internat für jüdische Kinder, sondern bildete zudem Juden auf dem 18 ha großen Gelände in gärtnerischen Berufen aus. Die „Israelitische Erziehungsanstalt“ wurde so im Jahre 1919 in „Israelitische Gartenbauschule Ahlem“ umbenannt. Von den Schülerinnen und Schülern wohnten die meisten im dortigen Internat. Auch die Lehrlinge wohnten in Ahlem oder kamen täglich aus Hannover dorthin. Die Schule befolgte die jüdischen Religionsgesetze, da auch orthodoxe Juden die Schule besuchten.

Der Betrieb der Schule lief erfolgreich, und da von Beginn an etwa sowohl die Hälfte der Lehrlinge aus dem Ausland kam als auch ein gewisser Teil der Absolventen auswanderten, entwickelte sich der Ausbildungsort Ahlem in der jüdischen Welt zu einem Begriff. Die ausländischen Lehrlinge kamen besonders aus Galizien, Rumänien, dem Baltikum und selten auch aus Palästina, die Auswanderung der Absolventen konzentrierte sich hingegen überwiegend auf Palästina. Der Anteil der Lehrlinge aus dem Ausland verringerte sich mit der Zeit: Aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sind keine Zahlen erhalten, zur Zeit des Endes der Weimarer Republik lag dieser Anteil jedoch je nach Interpretation zwischen einem Sechstel und einem Drittel. Mit dem Beginn der NS-Diktatur betrug die Anzahl ausländischer Schüler Null.

In die andere Richtung zeichnete sich seit 1933 ebenso ein entsprechender Verlauf ab: Die Auswanderungsquote der Lehrlinge stieg und die Schule richtete die Ausbildung auf eine Auswanderung der Abgänger aus. Es wurden nun Sonderkurse in den Fremdsprachen Englisch, Hebräisch und Neuhebräisch (Iwrit) gegeben. Außerdem wurden die Schüler im Anbau tropischer Pflanzen wie Kaffee und Kakao ausgebildet. Diese Unterstützung der Auswanderung von Juden sicherte der Schule vermutlich einige Jahre ihre Existenz und verhinderte eine frühe „Arisierung“, da die Auswanderung der Juden aus dem Deutschen Reich zu dieser Zeit noch das Ziel der Nationalsozialisten war.

Ansicht der Gartenbauschule Ahlem mit Hauptgebäude, Direktorenhaus und weiteren Gebäuden, 1930er Jahre. Gedenkstätte Ahlem, Sammlung Familie Rosenblatt

Während der Pogromnacht im November 1938 fanden keine Übergriffe auf die Schule statt. Als einzige Handlung gegen Juden in Ahlem ist der „Besuch“ der SS beim damaligen Schulleiter Leo Rosenblatt und die Beschlagnahme seines Säbels und Gewehrs, die er durch seine Tätigkeit als Soldat im Ersten Weltkrieg zuhause aufbewahrte, bekannt. Von Gewalt der SS ist in einem Zeitzeugenbericht seiner Tochter Ruth nicht die Rede.

Eine Erklärung für das Verschonen der Schule kann die Absicht des NSDAP-Ortsgruppenleiters und Ahlemer Bürgermeisters Egon Dohmeyer sein, die Schule für die Gemeinde Ahlem zu kaufen, sodass er Übergriffe verhinderte, um nicht mögliches zukünftiges Eigentum zu schädigen. Als anderer möglicher Grund wird betrachtet, dass der „arische“ Obergärtner der Schule Rudolf Hector die Belegschaft der Schule gegenüber Parteistellen als „volkswirtschaftlich unabkömmlich“ bezeichnete. Damit einher geht auch die Rolle, die die Gartenbauschule für die Auswanderung von Juden spielte: Der Schulbetrieb war für die Nationalsozialisten zu dieser Zeit tatsächlich noch von Nutzen. Die stellenweise ebenfalls genannte Begründung mit der Lage der Schule, die vom Ortskern Ahlems etwas entfernt lag, ist eher unwahrscheinlich, da die SS schließlich doch die Schule aufsuchte.

War Ahlem von den Pogromen im November 1938 nahezu unberührt geblieben, so sollten die nun folgenden Schritte der Judenverfolgung und der Shoah weitreichende Auswirkungen auf die Gartenbauschule in Ahlem haben. Als nach der Pogromnacht jüdischen Kindern verboten wurde, deutsche Schulen zu besuchen, waren die Volksschule der Gartenbauschule Ahlem und die jüdische Volksschule in der Lützowstraße 3 ab Ende 1938 die einzigen Schulen Hannovers, in denen Juden unterrichtet werden durften. Das Verbot für jüdische Kinder, „deutsche“ Schulen zu besuchen und der zunehmende Auswanderungsdruck führten zu einem deutlichen Anstieg der Schüler_innen und Lehrlinge in der Israelitischen Gartenbauschule Ahlem.

Das Anfang Mai 1939 in Kraft getretene „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ erlaubte nichtjüdischen Vermietern, ihre jüdischen Mieter vor die Tür zu setzen. Die Nationalsozialisten beabsichtigten damit einerseits eine Erfassung von Juden und deren Wohnsituation und andererseits eine „Sortierung“ und Trennung jüdischer und „deutscher“ Mieter.

Wurde bei dieser Unterdrückungsmaßnahme noch auf eine Scheinlegalität durch eine entsprechende Gesetzgebung geachtet, verlief die nachfolgende „Aktion Lauterbacher“, benannt nach dem für Hannover zuständigen Gauleiter Hartmann Lauterbacher, außerhalb auch jeder NS-Rechtsgrundlage. Am 3. September 1941 erhielten fast alle in Hannover lebenden Juden den Befehl, bis zum darauffolgenden Tag um 18 Uhr ihre Wohnungen zu räumen und in ein zugewiesenes „Judenhaus“ zu ziehen. 16 dieser „Judenhäuser“ gab es in Hannover, diese Häuser waren alle in jüdischem Besitz und wurden überwiegend von Juden bewohnt.

Zu „Judenhäusern“ wurden so unter anderem die jüdische Volksschule in der Lützowstraße 3 und auch das Schulgebäude der Israelitischen Gartenbauschule Ahlem. Von circa 1600 in Hannover lebenden Juden mussten etwa 1200 in die „Judenhäuser“ ziehen und dabei die meisten ihrer Möbel und anderen Habseligkeiten zurücklassen. Diese wurden später versteigert, von dem Erlös erhielten die Juden jedoch nichts. Die Gartenbauschule Ahlem half mit zur Verfügung gestellten Arbeitskolonnen die Umzüge zu bewältigen und versorgte mit ihrer Küche die Bewohner des „Judenhauses“ in der Wunstorfer Straße 16A.

In den „Judenhäusern“ herrschten unmenschliche Bedingungen. Zwar galt bei der Verteilung der Juden auf die Häuser ein Richtwert von 5 bis 6 Quadratmetern pro Person, doch wurde dieser Wert in den meisten Fällen um ein Vielfaches unterschritten. Darüber hinaus waren Misshandlungen wie Vergewaltigungen und brutale Prügeleien durch hannoversche Gestapo-Mitarbeiter an der Tagesordnung. Diese führten vor allem nachts „Hauskontrollen“ durch, wobei sie nicht selten alkoholisiert waren. Im Zusammenhang mit diesen brutalen Gewaltexzessen in den „Judenhäusern“ werden die Namen der drei Gestapo-Mitarbeiter Friedrich Wilhelm Nonne, Hans Bremer und Christian Heinrichsmeier genannt.

Die Sammlung der Juden in den „Judenhäusern“ war der letzte Schritt auf dem Weg zu ihrer Vernichtung, aus den „Judenhäusern“ wurden sie in Ghettos und Konzentrationslager deportiert. Noch im Jahr 1941 fand die erste Deportation von Juden aus Hannover statt, wobei es insgesamt acht Transporte aus Hannover gab, von denen die ersten sieben über das „Judenhaus“ in der Gartenbauschule Ahlem als Sammelstelle liefen. Dabei wurde jedoch nicht nur das „Judenhaus“, sondern fast das gesamte Gelände als Sammelstelle benutzt. Die Juden, die von hier in den Tod geschickt wurden, kamen außer aus Hannover auch aus Göttingen, Hildesheim, Hameln, Bad Pyrmont, Rinteln, Bückeburg und anderen kleineren Orten der Regierungsbezirke Hannover und Hildesheim.

Die Deportationen über Ahlem machten der Schule schwer zu schaffen. Nachdem bei den ersten Deportationen auch Schüler und Lehrer der Schule deportiert worden waren, verfügten die Behörden im Juni 1942 die Schließung der Schule.

Nachfolgend sind die sieben Deportationen über die Sammelstelle Ahlem aufgelistet. Es gab nach diesen Transporten noch einen achten Transport aus Hannover, mit dem 110 Juden aus dem Regierungsbezirk Hannover nach Theresienstadt deportiert wurden. Diese Deportation fand vermutlich am 20. Februar1945 statt und nutzte als Sammelstelle diesmal den Güterbahnhof Möhringsberg.

Deportationsnummer Ziel der Deportation Datum der Deportation Gesamtzahl der Deportierten Davon umgekommen Davon befreit
1 Riga 15.12.1941 1001 932 69
2 Warschau 31.3.1942 492 492 0
3 Theresienstadt 23.7.1942 584 534 50
4 Auschwitz 2.3.1943 38 37 1
5 Theresienstadt 16.3.1943 32 23 9
6 Theresienstadt 30.6.1943 9 6 3
7 Theresienstadt 11.1.1944 17 5 12
Gesamtzahl 2173 2029 144

Mit den Deportationen und damit der sinkenden Zahl von hannoverschen Juden verringerte sich auch die Zahl der „Judenhäuser“. Von 16 blieben nach dem ersten Transport nur noch neun und nach dem dritten nur noch drei Häuser übrig. Das „Judenhaus“ in der Israelitischen Gartenbauschule Ahlem gehörte zu den letzten Häusern Hannovers, in denen Juden lebten. Bis zur Befreiung Ahlems durch die amerikanische Armee am 10. April 1945 überlebten hier fünf der etwa 130 letzten Juden aus Hannover den Holocaust. Dies waren vor allem Menschen, die in Mischehen lebten und deren Kinder.

Im August 1943 richtete die Gestapo eine Außenstelle im Haupt- und Direktorenhaus der Gartenbauschule Ahlem sowie deren Nebengebäuden ein. Diese Dienststelle war zuständig für die Überwachung und Bestrafung von polnischen, sowjetischen und westeuropäischen Zwangsarbeitern und besaß ab Juli 1944 ein eigenes „Polizeiersatzgefängnis“ im ehemaligen Haupthaus der Schule. Die Gestapo führte in Ahlem mindestens 59 Hinrichtungen durch, die Gefangenen wurden in der Laubhütte erhängt oder erschossen. Außerdem waren acht Gestapo-Beamte aus Ahlem für die Massenerschießung von 154 Menschen auf dem Seelhorster Friedhof am 6. April 1945 verantwortlich.

Das 1897 erbaute ehemalige Schulgebäude und spätere „Judenhaus“, 2018. Foto: Oskar Pohlmann

Das 1897 erbaute ehemalige Schulgebäude und spätere „Judenhaus“, 2018. Foto: Oskar Pohlmann

Das 1897 erbaute ehemalige Schulgebäude und spätere „Judenhaus“ mit umliegenden Gewächshäusern, 1930er Jahre.
Bildarchiv der Region Hannover, Sammlung Homeyer

Leo Rosenblatt wurde am 6. Mai 1888 in Beiseförth in Hessen-Nassau geboren. Da sein Vater im Jahr 1891 starb, besuchte er die Schule eines Waisenhauses in Kassel. Er absolvierte eine Lehrerausbildung in Burgpreppach in Bayern und trat 1910 seine erste Anstellung in einem jüdischen Waisenhaus in Paderborn an. Während des gesamten Ersten Weltkriegs war er Soldat und stieg zum Offizier auf. Er erhielt das Eiserne Kreuz erster Klasse. Rosenblatt war Soldat aus Überzeugung, er engagierte sich im national gesinnten „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“. Anfang der 1920er Jahre kam er als Lehrer nach Berlin, wo er seine spätere Ehefrau, die Schneiderin Margarete Falkenberg kennenlernte und im Juli 1926 heiratete. 1927 wurde seine Tochter Ruth Vera und 1930 sein Sohn Gerhard geboren.

Nach seinem Amtsantritt als Direktor der Israelitischen Gartenbauschule Ahlem am 1. April 1930 wohnte die Familie im ersten Obergeschoss des Direktorenhauses und die beiden Kinder besuchten die dortige Volksschule. Leo Rosenblatt übernahm die Schule zu einer schwierigen Zeit, die finanzielle Lage war schlecht und es kam zu Konflikten mit den Lehrlingen und sogar zu einem Streik dieser. Mit diesem Problem konnte er auch aufgrund seiner „militärisch“ geprägten Herangehensweise nicht richtig umgehen. Außerdem stand er bei derartigen Problemen im Schatten seines Vorgängers Albert Silberberg, der sehr beliebt gewesen war und als großartiger Pädagoge galt.

Rosenblatt ist der einzige bekannte Fall eines Ahlemer Juden, der in der Pogromnacht von den Nazis aufgesucht wurde. Während der NS-Diktatur unterstützte Rosenblatt die Absolventen der Schule bei ihrer Auswanderung, obwohl er eigentlich eher antizionistisch eingestellt war. Am 16. März 1943 wurde er mit seiner Familie bei dem fünften Transport aus Ahlem nach Theresienstadt deportiert. Viele Lehrer und Schüler waren bereits vorher deportiert worden, die späte Deportation hat die Familie Rosenblatt höchstwahrscheinlich der Tatsache zu verdanken, dass Leo Rosenblatt als Leiter der Schule und Funktionär der jüdischen Gemeinde für die Nationalsozialisten noch wichtig war. Der Transport traf am 19. März 1943 in Theresienstadt ein. Am 15. Oktober 1944 wurden Leo und Gerhard Rosenblatt nach Auschwitz deportiert und dort wahrscheinlich ermordet. Sie wurden nach dem Krieg für tot erklärt. Margarete und Ruth Rosenblatt überlebten und wanderten 1949 in die USA aus.

Der Direktor Leo Rosenblatt, 1930er Jahre. Gedenkstätte Ahlem, Sammlung Familie Rosenblatt

Marga Griesbach wurde als Marga Steinhardt am 5. August 1927 in Witzenhausen in Hessen geboren. 1932 kam ihr Bruder Alfred zur Welt. Mit Beginn der NS-Diktatur 1933 wurde sie immer wieder Opfer von antisemitischen Beleidigungen und Gewalt in Form von Schlägen, Tritten und Steinwürfen. Von 1934 bis 1938 besuchte sie die Volksschule in Witzenhausen und war dort von den anderen Kindern isoliert. Da Juden der Besuch weiterführender Schulen verboten wurde, ging sie auch mit zehn Jahren weiterhin auf diese Volksschule, in der sie seit dem Jahr 1938 vermehrt gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt war.

In Witzenhausen kam es in der Nacht des 8. sowie des 9. November 1938 zu Pogromen, während derer sich die Familie in der Wohnung verbarrikadierte. Der Vermieter ließ das Licht an, um auf die jüdischen Bewohner aufmerksam zu machen. Am Morgen des 9. November 1938 wurde Marga von einem Mob mit Rufen wie „Fasst das verdammte Judenmädchen!“ verfolgt, konnte jedoch entkommen. In den Wochen nach der Pogromnacht wurde sie vor den anderen Schülern ihrer Klasse von der Schule verwiesen und der Vermieter kündigte ihnen die Wohnung.

In Frankfurt besuchte Marga Steinhardt für drei Monate ein jüdisches Gymnasium. Nachdem dieses zwangsweise geschlossen worden war, ging sie vom August 1939 an in der Israelitischen Gartenbauschule Ahlem zur Schule, während ihre Familie weiterhin in Witzenhausen lebte. 1940 kam schließlich auch ihr Bruder nach Ahlem zur Schule. Wie alle Schüler, die nicht aus Hannover kamen, wohnten die Geschwister während ihrer Schulzeit in den Räumen der Gartenbauschule. Im nächsten Jahr mussten Schüler aufgrund ihrer anstehenden Deportation die Schule verlassen und nach Hause zurückkehren. Unter diesen waren im Oktober 1941 auch Marga und Alfred Steinhardt.

Die Familie Steinhardt wurde am 8. Dezember 1941 von Witzenhausen über die Sammelstelle in Kassel in das Ghetto in Riga deportiert. Im Ghetto litten die Menschen unter Krankheiten, Unterernährung, der Gewalt durch die Aufseher und der ständigen Angst, zu einer der Massenerschießungen deportiert zu werden. Außerdem mussten Viele, so wie Marga und ihre Eltern, dort Zwangsarbeit leisten. Bis zum August 1944 blieb die Familie zusammen, wurde dann jedoch in das Konzentrationslager Stutthof deportiert, wo Frauen und Männer getrennt wurden. Am 10. September 1944 wurde Alfred Steinhardt nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Eine Woche später wurde auch der Vater Max Steinhardt nach Auschwitz deportiert und wenig später ermordet.

Bereits Ende September 1944 waren Marga und ihre Mutter Therese in das Außenlager Bromberg verlegt worden, von wo aus sie im Januar 1945 auf einen Todesmarsch, dessen Ziel ihnen nicht bekannt war, geschickt wurden. Ihnen gelang die Flucht und sie gaben sich als deutsche Flüchtlinge aus dem Osten aus. Am 2. Mai 1945 trafen Marga und Therese Steinhardt auf amerikanische Truppen. Während des Todesmarschs erlitt Therese Steinhardt Erfrierungen der Füße, die später Amputationen von Teilen der Füße zur Folge hatten. Im Dezember 1947 verließ sie mit ihrer Mutter Deutschland mit dem Ziel Schweden. Von dort aus siedelten sie 1948 in die USA über.

Ruth Kleeberg, 1933 in Hannover geboren, lebte mit ihren Eltern Maria und Erich Kleeberg in einem nur von Juden bewohnten Haus in der Wißmannstraße 11. Ihre Eltern lebten in einer „nicht privilegierten Mischehe“, da Maria vor der Hochzeit mit Erich Kleeberg vom evangelischen zum jüdischen Glauben übergetreten war. Am 9. November 1938 herrschte in dem Haus der Kleebergs zunächst gespannte Ruhe, bis schließlich uniformierte Männer das Haus durchsuchten. An die genaue Art kann der Uniformen kann sich Ruth Kleeberg, die damals erst fünf Jahre alt war, nicht erinnern. Obwohl ihre Eltern bereits vorher eine Gütertrennung durchgeführt hatten und das Inventar so ihrer Mutter gehörte, nahmen die Nazis einige Gegenstände, darunter ein neues Radio, mit.

Nach den Pogromen wurde Ruths Freunden verboten, mit ihr zu spielen. Ihre Eltern versuchten, durch eine evangelische Taufe den Besuch einer deutschen Schule zu ermöglichen und den Status einer „privilegierten Mischehe“ zu erlangen, was jedoch beides fehlschlug. Auch Maria Kleeberg nahm in der Zwischenzeit wieder ihren christlichen Glauben an. Ruth Kleeberg besuchte ein Jahr lang die jüdische Schule (gemeint ist hier wahrscheinlich die Schule in der Lützowstraße 3). Einen Monat vor der „Aktion Lauterbacher“ musste die Familie, bei der mittlerweile auch die Eltern Erich Kleebergs wohnten, ihre Wohnung verlassen und in ein Haus in der Sedanstraße ziehen. Hier wohnten sie nur kurz.

Die „Aktion Lauterbacher“ zwang sie nun, innerhalb eines Tages in das „Judenhaus“ in der Ohestraße 8/9 zu ziehen, in dem sie fast ohne Hab und Gut mit etwa dreihundert anderen Menschen leben mussten. Da ihre Mutter als „Arierin“ galt, durfte diese sich nur tagsüber in dem Haus aufhalten und verbrachte die Nächte heimlich dort bei ihrer Familie. Im Oktober mussten die „Mischehen“ dieses „Judenhaus“ verlassen und in das in der Herschelstraße 31 umziehen. Ruths Großeltern blieben in der Ohestraße, sie wurden am 15. Dezember 1941 über Ahlem nach Riga deportiert, wo sie beide umkamen.

In der Herschelstraße wurde Ruth Kleeberg Zeugin von Misshandlungen durch die Gestapo-Beamten: Alle Bewohner mussten sich im Keller versammeln und die Beamten zwangen einige der Männer, die anderen zu verprügeln. Die Frauen und Kinder mussten dabei zusehen. In der Nacht vom 8. zum 9. Oktober 1943 wurde das Haus in der Herschelstraße durch Bomben vollständig zerstört, wodurch die Familie Kleeberg ihre letzte Habe verlor. Zu Fuß gingen sie nach Ahlem, weil Erich Kleeberg von der Israelitischen Gartenbauschule wusste. So kamen sie im dortigen „Judenhaus“ unter. Während der Luftangriffe suchte die Familie im Luftschutzkeller des Direktorenhauses Schutz. Dies war jedoch den Juden verboten und so gingen sie jedes Mal das Risiko ein, von der Gestapo entdeckt zu werden, die seit kurzer Zeit eine Dienststelle in dem Gebäude hatte.

Ruth Kleeberg konnte aus einem Fenster des „Judenhauses“ mehrfach beobachten, wie Gestapo-Beamte Gefangene in die Laubhütte brachten und danach deren verhüllte Leichen wieder heraustrugen. Außerdem wurde sie Zeugin der Aktenvernichtung durch das Niederbrennen der Laubhütte.

Weil er nach der Feldarbeit liegengebliebenes Korn aufsammelte, wurde Erich Kleeberg Ende 1944 von der Gestapo verhaftet und saß neun Wochen im „Polizeiersatzgefängnis“ ein. Er kam nie wieder in Freiheit und wurde schließlich am 5. Februar 1945 in das Konzentrationslager Neuengamme und von dort später nach Sandbostel deportiert, wo er im April 1945 an Typhus starb. Ruth und Maria Kleeberg überlebten in Ahlem.

Im Jahr 2000 konnte Ruth Kleeberg in auf dem Friedhof in Sandbostel einen Gedenkstein für ihren Vater niederlegen, nachdem dies in Sandbostel zunächst auf Widerstand getroffen war. Man hatte sich an der Aufschrift „Hannover – verfolgt. Neuengamme – deportiert. Sandbostel – ermordet“ gestört, da dies ein schlechtes Licht auf die Einwohner Sandbostels werfe, die nie etwas gewusst hätten.

Gegen den Gauleiter Hartmann Lauterbacher, der als Schreibtischtäter die Vertreibung der Juden aus ihren Wohnungen und ihre Verlegung in die „Judenhäuser“ zu verantworten hatte, leitete die Staatsanwaltschaft Hannover Ende 1947 ein Ermittlungsverfahren wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit ein. Im Dezember 1947 wurde Lauterbacher das einzige Mal vor Gericht vernommen. Er bestritt seine Anordnung, die hannoverschen Juden in Häusern zusammenzulegen nicht und zeigte auch keine Reue. Als Grund für seine Entscheidung gab er an, dass das Judentum dem deutschen Volk den Krieg erklärt habe. Anfang Februar 1948 floh Lauterbacher aus seiner Haft im Lager Sandbostel, das Verfahren gegen ihn wurde vorläufig eingestellt. Angeblich wurde er im Jahr 1950 in Rom gesehen. Anfang 1959 vermerkte der Oberstaatsanwalt, dass das Verfahren bezüglich der Wohnungsräumungen eingestellt werden könne, da mögliche Straftaten verjährt seien.

Der wegen seiner Brutalität in den „Judenhäusern“ und der Gestapo-Dienststelle als „Schrecken aller Juden“ berüchtigte Kriminalangestellte der Gestapo Friedrich Wilhelm Nonne konnte nach dem Krieg zunächst unter dem Namen Wilhelm Lilienthal untertauchen. Es wurde nach ihm gefahndet und er konnte schließlich Ende Oktober 1949 in Bielefeld gefasst werden. Das Spruchgericht Bielefeld verurteilte ihn im März 1950 wegen seiner Zugehörigkeit zur SS und Gestapo zu sechs Jahren Gefängnis. 1952 wurde er vom Landgericht Hannover wegen insgesamt elf Fällen, in denen die Tatbestände der Aussageerpressung und Körperverletzung im Amt enthalten sind, zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, wobei die vorherige Strafe des Bielefelder Gerichts mit einbezogen wurde. Vor Gericht stritt Nonne seine Verbrechen ab, konnte das Gericht jedoch durch die erdrückende Beweislast, unter anderem durch die Aussagen von 23 Zeugen, nicht überzeugen. Eine Revision wurde verworfen. 1954 wurde Nonne auf vier Jahre Bewährung aus der Haft entlassen.

Den früheren Kriminalsekretär der Gestapo Hans Bremer verurteilte das Schwurgericht Hannover im Juli 1948 zu zehn Jahren Zuchthaus wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit, Aussageerpressung und Körperverletzung im Amt. Auch hier wurde die Revision verworfen. Bremer stritt zunächst jegliche Misshandlungen ab, gab jedoch aufgrund der Beweislast zu, die Taten gemeinsam mit Nonne begangen zu haben. 1953 wurde Hans Bremer auf fünf Jahre Bewährung aus der Haft entlassen.

Der Kriminalobersekretär Christian Heinrichsmeier wurde für Verbrechen gegenüber Juden in den „Judenhäusern“ nicht belangt, er wurde nur für Taten in der Gestapo-Dienststelle verurteilt. Das Schwurgericht Hannover verurteilte ihn im Mai 1949 zu zwei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus. Gegenstand der Verurteilung waren insgesamt fünf Fälle, die die Tatbestände Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Aussageerpressung, Körperverletzung im Amt und Nötigung beinhalteten. Auch Heinrichsmeier bestritt die ihm zur Last gelegten Verbrechen. Im Februar 1950 stockte das Spruchgericht Bielefeld seine Strafe wegen seiner Zugehörigkeit zur SS und Gestapo auf insgesamt drei Jahre und vier Monate auf. Die Entscheidung über seine Revision und der Zeitpunkt der Haftentlassung sind unbekannt.

Der Kriminalkommissar Hans Heinrich Joost war in Ahlem als Leiter des „Russenreferats“ für sowjetische Zwangsarbeiter zuständig; unter den Mitarbeitern der Dienststelle Ahlem galt er als der Leiter der Dienststelle. In dieser Funktion war er mit für die Misshandlungen und Hinrichtungen der Gestapo verantwortlich. Er trieb seine Mitarbeiter dazu an, die Gefangenen zu foltern und beteiligte sich selbst an diesen Verbrechen. In den Jahren 1948 und 1950 wurde er zu insgesamt drei Jahren Gefängnis verurteilt, musste davon jedoch nur 22 Monate absitzen. Das Jugendamt Hamburg stellte ihn später ein, er arbeitet dort bis zu seiner Pensionierung.

Außerdem wurden wegen der Seelhorster Massenerschießung drei Todesurteile gegen Gestapo-Mitarbeiter ausgesprochen, von denen das des Kommandoführers Reinhold Plünnecke nicht vollstreckt und in 15 Jahre Haft umgewandelt wurde. Auch er wurde schließlich im Zuge der großen Amnestie von 1954 entlassen.

Im Oktober 1952 wurde das Gelände der Gartenbauschule an die Jewish Trust Corporation übergeben, nachdem diese im Dezember 1951 einen Antrag auf Rückerstattung gestellt hatte. Die Jewish Trust Corporation verkaufte das Gelände drei Jahre später an die Landwirtschaftskammer Hannover. Seitdem befinden sich dort Versuchsgärtnereien, Institute und eine Fachschule für Gartenbau, welche seit 1976 ein Standort der Justus-von-Liebig-Schule für Gartenbau und Floristik des Landkreises und heute der Region Hannover ist. Das ehemalige Mädchenhaus der Gartenbauschule befindet sich seit 2003 im Besitz der christlichen Drogenhilfe „Neues Land“, die das Gebäude instand gesetzt und renoviert hat und es nun als „Haus der Hoffnung“ für die Drogenarbeit nutzt.

Bereits kurz nach Kriegsende wurde im September 1947 vom „Hauptausschuss ehemaliger Häftlinge und Verfolgter“ eine Gedenktafel am ehemaligen Standort der Laubhütte aufgestellt. Die Tafel trug den Text: „Wir gedenken der Opfer des Naziregimes. An diesem Ort war die Hinrichtungsstätte der Gestapo Hannover.“ Nach Beschluss des Rats der Gemeinde Ahlem vom 9. November 1961 wurde einer von der Harenberger Straße abzweigenden Straße in Ahlem zu Ehren des ehemaligen Schulleiters der Name „Leo-Rosenblatt-Weg“ gegeben.

Mit der Übernahme der Trägerschaft auf dem Gelände der ehemaligen Gartenbauschule durch den Landkreis Hannover begann sich dieser um die Aufarbeitung der Geschichte der Gartenbauschule zu kümmern. Schließlich wurde die Gedenkstätte im August 1987 der Öffentlichkeit übergeben. Zunächst befand sich die Ausstellung der Gedenkstätte nur in den Kellerräumen des Direktorenhauses, sie wurde jedoch im Laufe der Zeit erweitert und 2014 neu eröffnet. Nun umfasst die Gedenkstätte Ahlem die vier Etagen des Direktorenhauses, einen anliegenden Park, in dem früher die Laubhütte stand, und mehrere über das Gelände verteilte Informationstafeln. Der damals noch der Landwirtschaftskammer gehörige Park wurde im Jahr 1992 für Besucher eingerichtet und erhielt im nächsten Jahr ein Mahnmal, das in Zusammenarbeit mit der Deutsch-Israelischen Gesellschaft errichtet und im August 1993 der Öffentlichkeit übergeben wurde. Das Mahnmal besteht aus zwölf Steinstelen, die die zwölf Stämme Israels sowie die zwölf zerstörten hannoverschen Synagogengemeinden symbolisieren. Heute befindet sich dieses Mahnmal vor dem ehemaligen Mädchenhaus. Seit einigen Jahren entsteht auf einem westlich der Gartenbauschule gelegenen ehemaligen Teil des Grundstücks der Schule eine Neubausiedlung, deren Straßennamen der Verfolgung in Ahlem zur Zeit des Nationalsozialismus gedenken sollen. Der Beschluss über die Namensgebungen fiel im Jahr 2010.

Das 1902 erbaute ehemalige Mädchenhaus, heute „Haus der Hoffnung“, 2018. Foto: Oskar Pohlmann

Das 1902 erbaute ehemalige Mädchenhaus, heute „Haus der Hoffnung“, 2018. Foto: Oskar Pohlmann

Straßenschilder auf dem ehemaligen Gelände der Gartenbauschule, 2018. Fotos: Oskar Pohlmann

Straßenschilder auf dem ehemaligen Gelände der Gartenbauschule, 2018. Fotos: Oskar Pohlmann

 

ie Gedenkstätte Ahlem im ehemaligen Direktorenhaus, 2018. Foto: Oskar Pohlmann

Anschütz, Janet/Heike, Irmtraud: „Wir wollten Gefühle sichtbar werden lassen“. Bürger gestalten ein Mahnmal für das KZ Ahlem, Bremen 2004.

Bachmann, Torsten: Ahlem, Badenstedt und Davenstedt. Streifzüge durch die Geschichte, Erfurt 2015.

Buchholz, Marlis: Die hannoverschen Judenhäuser. Zur Situation der Juden in der Zeit der Ghettoisierung und Verfolgung 1941 bis 1945, (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Band 101), Hildesheim 1987.

Frohner, Siegfried Otto (Hg.): Ahlemer Geschichten, Hannover 2015.

Griesbach, Marga: „… ich kann immer noch das Elend spüren…“. Ein jüdisches Kind in Deutschland 1927 bis 1945. Eine Erinnerung der Zeitzeugin Marga Griesbach. Witzenhausen – Kassel – Riga – Stutthof, (Schriftenreihe der Mahn- und Gedenkstätte Ahlem, Band 7), Hannover 2008.

Horndasch, Matthias: Du kannst verdrängen, aber nicht vergessen!. Die Erinnerungen des Zeitzeugen und Holocaust-Überlebenden Gerd Landsberg, (Schriftenreihe der Mahn- und Gedenkstätte Ahlem, Band 2), Hannover 2005.

Horndasch, Matthias/Gröne, Ruth: Spuren meines Vaters. Das Zeitzeugnis der Ruth Gröne, geb. Kleeberg, (Schriftenreihe der Mahn- und Gedenkstätte Ahlem, Band 5), Hannover 2006.

Landkreis Hannover (Hg.): Beitrag zur Geschichte der Gartenbauschule Ahlem. 1893 – 1979, Hannover 1980.

Horndasch, Matthias/Rotenberg, Nachum: Ich habe jede Nacht die Bilder vor Augen. Das Zeitzeugnis des Nachum Rotenberg, (Schriftenreihe der Mahn- und Gedenkstätte Ahlem, Band 3), Hannover 2005.

Landkreis Hannover (Hg.): 100 Jahre Israelitische Erziehungsanstalt – Israelitische Gartenbauschule. 1893 – 1993. Mahn- und Gedenkstätte des Landkreises Hannover in Ahlem, Hannover 1993.

Obenaus, Herbert: „Sei stille, sonst kommst du nach Ahlem!“. Zur Funktion der Gestapostelle in der ehemaligen Israelitischen Gartenbauschule von Ahlem (1943 – 1945), (Kulturinformationen, Band 16), Hannover 1988.

Region Hannover (Hg.): „Die Diskriminierung hört nie auf“. Erinnerungen von Werner Fahrenholz. Shaun Hermel im Gespräch mit „Carlo“, (Schriftenreihe der Gedenkstätte Ahlem, Band 8), Hannover 2011.

Region Hannover (Hg.): Gedenkstätte Ahlem. Ausstellungskatalog, Hannover 2014.

Schmid, Hans-Dieter: Organisation des Terrors. Gestapo und SS, in: Abgeschoben in den Tod. Die Deportation von 1001 jüdischen Hannoveranerinnen und Hannoveranern am 15. Dezember 1941 nach Riga. Ausstellungskatalog, Hannover 2011, S. 124-179.

Schmid, Hans-Dieter (Hg.): Ahlem. Die Geschichte einer jüdischen Gartenbauschule und ihres Einflusses auf Gartenbau und Landschaftsarchitektur in Deutschland und Israel, (AhlemSchriften, Band 1), 2. Auflage, Hannover/Bremen 2017.

Archiv der Region Hannover

Gedenkstätte Ahlem

Straßenbenennungen in Ahlem

Ein Weg soll an Berta Weiß erinnern, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 26.8.2010

Justus-von-Liebig-Schule

Neues Land, Haus der Hoffnung Ahlem