Walsrode
Vorgeschichte
Für die Stadt Walsrode lässt sich jüdisches Leben seit 1714 nachweisen. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts wuchs die jüdische Gemeinde kontinuierlich und erreichte 1864 mit 68 Mitgliedern (bei 1.995 Einwohnern insgesamt) ihre höchste Mitgliederzahl. In den nachfolgenden Jahren zogen viele Familien in die wirtschaftlich weiter entwickelten Großstädte Hannover und Hamburg. 1933 lebten nur noch neun Juden am Ort.
Seit etwa 1760 hielt man in einem Privathaus regelmäßig Gottesdienste ab. 1843 gestattete der Walsroder Magistrat den Bau einer Synagoge in der Langen Straße mit Betsaal und Schulraum, die 1849 eingeweiht wurde. Durch den Wegzug vieler Familien ging 1878 die jüdische Elementarschule ein. Um 1900 wurde der Minjan nicht mehr erreicht; mit Genehmigung des Landrabbiners konnten aber weiter gottesdienstartige Zusammenkünfte abgehalten werden. Am 11. Juli 1938 fand die letzte nachzuweisende Sitzung der jüdischen Gemeinde statt.
Dem erstmalig 1732 gestellten Ersuchen um einen Begräbnisplatz wurde erst 1805 stattgegeben. Bis dahin mussten die Juden ihre Verstorbenen auf dem etwa 30 km entfernten Sammelfriedhof Hoyerhagen beerdigen. 1862 ging der vor der Stadt an der Hannoverschen Straße gelegene Friedhof in den Besitz der jüdischen Gemeinde über. Im April 1938 fand dort die letzte Beerdigung eines Walsroder Juden statt.
Zu den am längsten in Walsrode ansässigen Familien gehörten die Familien Seckel und Moses. Sie betrieben Manufakturwarengeschäfte bzw. waren als Kleinhändler tätig. Einige ihrer Mitglieder gründeten Stiftungen für Arme und Witwen, engagierten sich in verschiedenen Vereinen und gehörten dem städtischen Bürgervorsteherkollegium an. Nach 1933 führten Boykottmaßnahmen und Einschüchterungsversuche durch örtliche SA- und HJ-Angehörige zu einer zunehmenden Isolierung der jüdischen Bürger, die sich nach und nach zur Aufgabe ihrer Geschäfte gezwungen sahen. Sie zogen nach Hannover bzw. emigrierten nach Frankreich und Südrhodesien (heute Simbabwe).
Die Ereignisse im November 1938
Im November 1938 lebten nur noch Edith Hurwitz, die ein Textilgeschäft am Kirchplatz besaß, und das Ehepaar Paul und Emilie Neuberg in Walsrode, die bereits 1935 ihr Bekleidungs- und Schuhgeschäft aufgegeben hatten. 1938 plante auch Edith Hurwitz die Geschäftsaufgabe und war dazu Anfang November nach Berlin gereist.
Am Abend des 9. November fand in Walsrode eine Gedenkfeier zum Hitler-Putsch von 1923 statt. Im Anschluss daran saßen ab etwa 22 Uhr sechs hohe Funktionsträger der NSDAP am Ort in einem Café in der Langen Straße zum Ausklang des Abends beisammen. Nach dem Bericht einer Zeitzeugin hätten sie später – ab 23 Uhr hatten die Gauleiter von München aus Anweisungen zur Durchführung des Pogroms gegeben – zu tuscheln begonnen. Eine weitere Zeitzeugin erzählte, ihr Mann sei als Kassenwart der NSDAP-Ortsgruppe von ihnen zur Teilnahme am Pogrom aufgefordert worden, woraufhin er zu seiner Frau nach Hause ging, man Fenster und Türen verschloss und so tat, als sei niemand daheim. Bei Durchführung der Zeitzeugeninterviews in den späten 1990er Jahren wollte keiner der Befragten Namen der am Pogrom beteiligten Personen nennen. Einige verbreiteten weiter das nach dem Krieg aufgekommene Gerücht, dass der Pogrom von SA-Männern aus Celle verübt worden sei.
Es waren allerdings Walsroder SA-Männer und Parteiführer, die zwischen ein und zwei Uhr nachts die Schaufensterscheiben des Geschäfts von Edith Hurwitz einschlugen, die Einrichtung zerstörten und teilweise auf die Straße warfen, um dann mit Hilfe herangeschaffter Benzinfässer im Erdgeschoss einen Brand zu legen. Daraufhin bildeten die Männer eine Absperrkette. Der Feuerwehr wurde das Löschen verboten. Sie hatte nur dafür zu sorgen, dass die Nachbarhäuser nicht in Brand gerieten. Die noch im Haus befindlichen zwei Angestellten schrien im oberen Stockwerk um Hilfe. Sie wurden nach heftiger Diskussion zwischen SA-Führer auf der einen und Feuerwehrleuten wie Nachbarn auf der anderen Seite vom im Nebenhaus wohnenden Walsroder Diakon mit einer Leiter aus dem Obergeschoss gerettet. Den Nachbarn verbot man, sie aufzunehmen.
Die Haushaltshilfe Jenny Wolff wurde zur Behandlung ihrer Brandwunden in das Walsroder Krankenhaus eingewiesen, während man den Angestellten Walter Oster zusammen mit Paul Neuberg in „Schutzhaft“ nahm und ins Polizeigefängnis im Rathaus brachte. In der nahen Kreisstadt Fallingbostel wurde Eugen Hurwitz, der als Prokurist aus Essen gekommen war, um seiner Cousine bei der Geschäftsauflösung zu helfen, verhaftet und in das dortige Gefängnis gesperrt.
Die Walsroder Zeitung schrieb bereits am nächsten Tag verharmlosend von einem „Kurzschluß“ als Brandursache. Die Hausbewohner hätten „noch im letzten Augenblick gewarnt“ und – im Gegensatz zum Inventar – gerettet werden können.
Folgen
Die Ereignisse der Pogromnacht entsetzten viele Walsroder Bürger. Man empörte sich über die vernichteten Sachwerte nach dem Brand des Hauses, über die brutale Art des Vorgehens und äußerte Mitleid gegenüber den Juden, so dass sich der Ortsgruppenleiter Karl Lüttjemann genötigt sah, diese Art des Protests in einer Rede scharf zu verurteilen, die als großer Artikel am 19. November 1938 in der Walsroder Zeitung erschien und ihre einschüchternde Wirkung nicht verfehlte.
Die nach der Pogromnacht nach Walsrode zurückgekehrte Edith Hurwitz verkaufte ihr ausgebranntes Geschäftshaus und zog nach Bremen, von wo aus sie 1941 nach Minsk deportiert wurde. Ihr Cousin Eugen Hurwitz emigrierte nach New York, wo er heiratete und 1990 kinderlos starb. Jenny Wolff wurde 1942 in das Ghetto Warschau deportiert, Walter Oster 1941 nach Riga, wo sich ihre Spur verliert. Das Ehepaar Neuberg wurde 1944 in Auschwitz ermordet.
Das Synagogengebäude war von Zerstörungen verschont geblieben, da dort schon seit einigen Jahren nichtjüdische Familien zur Miete wohnten. 1939 wurde das Haus vom letzten Gemeindevorsteher Paul Neuberg an einen nichtjüdischen Textilkaufmann veräußert.
Nach der Schließung des jüdischen Friedhofs durch den Lüneburger Regierungspräsidenten am 18. Januar 1941 erwarb die Stadt Walsrode ihn im Herbst 1942 von der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Bezirksstelle Hannover, um ihn einzuebnen und zu einer parkähnlichen Fläche umzugestalten. Er war damals in einem ungepflegten Zustand mit teilweise zerstörten Grabsteinen. Jedoch verhinderte der Kriegsverlauf die Umsetzung der Umgestaltungspläne.
Biografie - Edith Hurwitz
Anfang 1901 kamen Philipp Hurwitz (1861-1920, aus Levern) und seine Frau Rosalie geb. Mendelsohn (1872-1922, aus Geestemünde) von Levern nach Walsrode und übernahmen das 1893 von James Seckel gegründete Textilgeschäft am Kirchplatz 11. Am 25. Mai 1901 kam die einzige Tochter Edith zur Welt, die nach dem Tod ihres Vaters 1920 den Geschäftsbetrieb weiterführte.
Zermürbt durch die 1933 einsetzenden Boykottmaßnahmen und Schikanen der NS-Regierung (1935 musste sie nach Erlass der „Nürnberger Gesetze“ ihren erfolgreichen nichtjüdischen Geschäftsführer entlassen), hatte sich die alleinstehende Edith Hurwitz zur Geschäftsaufgabe entschlossen und war zur Erledigung damit einhergehender Auflösungsmaßnahmen um den 6. November 1938 herum nach Berlin gefahren. So erfuhr sie erst nach ihrer Rückkehr einige Tage später von den Ereignissen in der Pogromnacht. Da ihr Haus vollkommen zerstört war, nahm sie ein Nachbar bei sich auf; der Mechaniker Wilhelm Kühn stand den Nationalsozialisten kritisch gegenüber. Zudem verband ihn eine jahrelange gute Bekanntschaft mit Edith Hurwitz. Diese verkaufte ihr Haus an den Bäckermeister Hermann Brandt, dem sie es nach dessen Aussage bereits einige Jahre zuvor zum Kauf angeboten hatte, und zog am 5. Dezember 1938 nach Bremen.
In Bremen wohnte sie zunächst in der Lessingstraße 1 bei einem jüdischen Gewerbetreibenden, dessen Handelsbetrieb und Grundstück aber kurze Zeit später „arisiert“ wurden. Ende Januar 1939 fand sie im „Judenhaus“ in der Franz-Lizt-Straße 11a eine neue Bleibe. Edith Hurwitz musste Zwangsarbeit bei der Focke-Wulf-Flugzeugbau GmbH leisten. Nach der Auflösung des „Judenhauses“ wurde sie am 18. November 1941 vom Bremer Lloydbahnhof aus über Warschau nach Minsk deportiert. Dort verliert sich ihre Spur. Am 8. September 1948 wurde Edith Hurwitz vom Amtsgericht Bremen für tot erklärt.
Biografien - Paul und Emilie Neuberg
Der Kaufmann Paul Neuberg wurde am 29. November 1872 in Rössing geboren. Seine Ehefrau Emilie geb. Steinberg stammte aus Lüthorst, wo sie am 14. März 1876 zur Welt kam. In Rössing wurde am 4. Juni 1901 die Tochter Käthe geboren. Anfang Juni 1902 kam die Familie nach Walsrode, wo sie in der Moorstraße 9 in gemieteten Räumen ein Bekleidungs- und Schuhgeschäft eröffnete – zunächst als Filiale der Kaufhauskette von Aron Behr aus Hannover. In Walsrode kam am 17. März 1904 der Sohn Ernst zur Welt.
Infolge der Boykottmaßnahmen waren die Neubergs 1935 zur Aufgabe ihres Geschäfts gezwungen. Während die Kinder Käthe und Ernst im Herbst 1935 nach Hannover gingen, kamen Paul und Emilie Neuberg in verschiedenen, der Stadt Walsrode gehörenden Häusern unter. Paul Neuberg lebte von einer Kleinrentnerhilfe, hausierte mit Waren für Edith Hurwitz und arbeitete als Buchhalter für einen nichtjüdischen Gerbermeister. Einige Walsroder Bürger unterstützten die Eheleute heimlich mit Lebensmitteln. Im September 1942 wurden sie in das ehemalige Lager des Reicharbeitsdienstes am Alten Postweg 7 eingewiesen. Von dort deportierte man sie am 23. Juni 1943 über Hamburg-Harburg nach Theresienstadt. Am 15. Mai 1944 kamen Paul und Emilie Neuberg nach Auschwitz, wo sie ermordet wurden.
Ernst Neuberg heiratete im März 1940 in Hannover Olga Weiss aus Flamersheim (geboren am 22. Dezember 1896). Seine Schwester Käthe hatte im Januar 1940 den Braunschweiger Kaufmann Alfred Littauer (geboren am 19. Dezember 1899) geheiratet. Die Ehepaare lebten in den „Judenhäusern“ Lützowstraße 3 bzw. Wissmannstraße 13. Am 14. Dezember 1941 wurden Ernst und Olga Neuberg in die als Sammel- und Auffanglager für alle Juden im Bezirk dienende Gartenbauschule Ahlem gebracht und am Folgetag vom Lindener Bahnhof Fischerhof aus nach Riga deportiert. Ernst Neuberg kam dort ums Leben, während seine Ehefrau Olga am 4. Dezember 1944 im KZ-Außenlager Stutthof-Schirkenpass starb. Alfred und Käthe Littauer kamen nach mehrfachen Umzügen durch Räumung der „Judenhäuser“ Wissmannstraße 13, Auf dem Emmerberge 31 und Bergstraße 8 am 23. März 1942 nach Ahlem. Vom Bahnhof Fischerhof deportierte man sie am 31. März 1942 ins Warschauer Ghetto, wo sie ums Leben kamen.
Justizielle Ahndung
Aus Mangel an Quellen können zu diesem Thema keine Angaben gemacht werden.
Spuren und Gedenken
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu keiner Neugründung einer jüdischen Gemeinde in Walsrode. An das einstige jüdische Leben erinnern nur noch der jüdische Friedhof und die ehemalige Synagoge. Sie ist, nach 1945 renoviert und umgebaut, in Privatbesitz und wird als Geschäfts- und Wohnhaus genutzt.
Der jüdische Friedhof gehört seit 1959 dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen und wird von dahinter wohnenden Privatpersonen mit gepflegt. 1988 brachte die Stadt Walsrode an der Friedhofsmauer eine Tafel zum Gedenken an die Walsroder Juden an. Seitdem halten jährlich zum 9. November Schüler und Lehrer der Felix-Nussbaum-Schule, Oberschule in Walsrode am Friedhof eine Gedenkveranstaltung ab. Zeitweise finden auch Friedhofsführungen statt. 2009 ließ sich dort ein in New York geborener Jude bestatten, der zuletzt in Bad Fallingbostel gelebt hatte.
1998 befasste sich eine Ausstellung im örtlichen Heidemuseum erstmals ausführlich mit der jüdischen Geschichte Walsrodes. 2007 erinnerte eine weitere Ausstellung dort an Mitglieder der Familie Seckel, die 2018 im Auftrag des Heimatvereins Dorfmark erneuert und aktualisiert wurde. Sie befindet sich seitdem in dessen Besitz.
2009 wurden auf Initiative der Walsroder Felix-Nussbaum-Schule in Zusammenarbeit mit dem Gymnasium Walsrode und den Berufsbildenden Schulen Walsrode vor drei ehemaligen jüdischen Wohn- und Geschäftshäusern Stolpersteine zur Erinnerung an die Verstorbenen und Deportierten verlegt, ergänzt durch eine 2011 erschienene Publikation dazu.
Weiterführende Literatur und Links
ERINNERTE LEBEN. Stolpersteine in Walsrode, hrsg. von der Felix-Nussbaum-Schule Walsrode, Walsrode 2011.
Stephan Heinemann, Walsrode, in: Herbert Obenaus (Hrsg.), in Zusammenarbeit mit David Bankier und Daniel Fraenkel: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bde., Göttingen 2005, Bd. 2, S. 1528-1533.
Stephan Heinemann, Jüdisches Leben in den nordostniedersächsischen Kleinstädten Walsrode und Uelzen (Schriftenreihe des Bundes der Freunde des Heidemuseums Walsrode e.V., Bd. 14), Walsrode 2001.
Forum Jacob Pins im Adelshof, Höxter: Opfer der Shoah aus Nienheim (ergänzende Angaben zu Walter und Margarete Oster)
Stolpersteine Bremen: Jenny Wolff, geb. Plaut
Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum: Walsrode (Niedersachsen)