November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Diepholz

Günter Roberg berichtete nach dem Zweiten Weltkrieg, Adolf Meyer, 54 Jahre alt und Viehhändler auf dem Esch gegenüber dem Marktplatz, sei das erste jüdische Opfer der Nationalsozialisten unter den Diepholzer Juden gewesen, man habe ihm einfach das Geschäft unmöglich gemacht. Er nahm sich am 25. Mai 1934 das Leben und hinterließ seine Frau und drei erwachsene Kinder.

In der ev.-luth. Nicolai-Kirche hing eine Tafel mit den Namen der gefallenen des Ersten Weltkrieges. Die Namen von Iwan Fontheim und Julius Goldschmidt auf dieser Tafel wurden übermalt. Ähnlich wurde mit dem Buntglasfenster im Ratssaal verfahren, das Siegfried Simon Fontheim, der seit 1921 Ehrenbürger der Stadt war, gestiftet hat. Dort wurde der Name des Stifters in der unteren linken Ecke übermalt, nachdem die NSDAP gedroht hatte, das Fenster ansonsten zu zerstören.

Bereits vor dem November 1938 fliehen jüdische Familien aus Diepholz vor dem zunehmenden Druck der Diskriminierung ins Ausland. So wandert Max Müller 1935 mit seiner Frau Lucie, der Tochter des Schlachters Gustav Kleinschmidt, ohne Abmeldung nach Santiago de Chile aus. Die andere Tochter von Gustav Kleinschmidt, Irma Vogel, gelangt 1936 mit ihrem Mann Werner per Bahn über die Schweizer Grenze.

Vom Nachmittag des 9. November sind die ersten Ereignisse überliefert, als SA-Mitglieder zu Kindern auf der Straße sagen, dass sie die Scheiben der Synagoge einwerfen dürften. Am frühen Morgen des 10. November, einem Donnerstag, gehen einige SA-Männer durch die Betriebe und fordern die Leute auf bei der Zerstörung mitzuhelfen. Bürgermeister Gustav Brüning protestiert, der NSDAP-Ortsgruppenleiter übernimmt für den Tag die Verantwortung.

Fünf SA-Männer nehmen vor der Synagoge einem Zimmermann, der an einem Nachbarhaus arbeitet, sein Beil ab, brechen die Tür auf und schlagen die Scheiben über dem Eingang ein. Außerdem zerstören sie die Steinplatte über dem Eingang, auf der in hebräischer Schrift stand: „Dies ist ein Bethaus für alle Völker“. Im Anschluss zerstören die SA-Männer das Inventar der Synagoge vollständig. Alles was sie in den Schränken finden, auch die Thorarollen, tragen sie in das Parteilokal in der Straße der SA (heute: Lange Straße).

Informationstafel am Gebäude in der Mühlenstraße 5, dem Standort der ehemaligen Synagoge. Foto: Falk Liebezeit

Die Synagoge wurde nach den Ereignissen des November 1938 als Schulungsraum für den SA-Motorsturm 23/N 62 benutzt. Die Drei-Zimmer-Wohnung in der Synagoge wurde weiter vermietet.

Die Diepholzer Kreiszeitung verschweigt den Diepholzer Pogrom, sie titelt am Sonnabend, dem 12. November: „Die Antwort wird legal, aber hart sein, der Fall Grünspan“. Am Montag, dem 14. November heißt es: „Juden haben 1 Milliarde RM. zu zahlen, die Strafe für den Mord. […] Kein Jude mehr auf deutschen Hochschulen, die Regierung steht auf der Wacht, die deutsche Judenfrage wird bald gelöst.“

Infolge der Ereignisse des November 1938 versuchen viele jüdische Familien in die Emigration zu fliehen. Fanny Goldschmidt kann 1941 zu ihrem Neffen nach Rio de Janeiro gehen. Der Schlachter Gustav Kleinschmidt und seine Frau Edith gehen 1939 nach Chile, wo seit 1935 bereits ihre Tochter Lucie lebt.

Am 28. März 1942 soll der Transport von Diepholz in das Sammellager Ahlem gehen. Der Synagogenvorsteher Semmi Philippsohn, wohnhaft in der Hindenburgstraße 46, nimmt sich vorher im Stall hinter seinem Haus das Leben.

Am letzten Wochenende im Juli 1942 meldet das Diepholzer Kreisblatt: „Diepholz juden-frei – nachdem im Laufe der Woche die letzten Juden die Stadt verlassen haben, ist Diepholz nach langen Jahren wieder judenfrei.“

Günter Roberg wurde 1921 in Lemförde geboren. Zur Zeit des Novemberpogroms ist er Lehrling in Hannover bei einer Bäckerei auf dem Engelbosteler Damm. Günter Roberg berichtet über den Pogrom in Diepholz aus der Erinnerung seiner Mutter Sophie: „Früh um 7 Uhr marschierte eine Gruppe von SA-Leuten vor unser Haus und umzingelte dieses. Meine Mutter und mein Großvater waren damals allein im Haus, wurden von dem Aufmarsch wach, als sie hörten wie alle Fensterscheiben klirrten, die Haustür aufgebrochen wurde und in ganz kurzer Zeit war die Einrichtung unseres Hauses nur noch ein Trümmerhaufen. Es war nicht mal ein Glas ganz oder ein Gerät um daraus etwas Wasser zu trinken. Meine Mutter und mein Großvater wurden verhaftet. Der Polizist führte alle Diepholzer Juden in das Schloßgefängnis.

Nur Karl Samenfeld wurde wegen seines Alters auf einem Handwagen gefahren. Nach einigen Stunden wurden alle wieder freigelassen. Die Behandlung im Gefängnis ist unmöglich zu schildern. Allen Juden wurde befohlen, schnellstens auf eigene Kosten die zerstörten Wohnungen wieder herzurichten. Wenige Tage nach der Aktion verstarb der greise Karl Samenfeld [am 11. Januar 1939 im Alter von 86 Jahren]. Während der Ereignisse kam plötzlich unser Gendarm [Polizeioberwachtmeister Heinrich Schneidewind] herein, nahm seine Pistole genommen und hat sie meiner Mutter vorgesetzt. Da hat sie gesagt: ‚Schieß doch schon.‘ Er erwiderte: ‚Ich würde ja schießen, aber da müsste ich ja hinterher den Spachtel nehmen und den Dreck wegmachen.‘“

Der SA-Mann Evers aus der Kolkstraße (bis 1935: Judenstraße) lief weinend zu seinem Vater in dessen Tischlerwerkstatt, er konnte es nicht ertragen, seine Kameraden auf dem Klavier der Familie Roberg herumspringen zu sehen. An den Wänden in der Wohnung hingen die Diplome und Auszeichnungen, die der verstorbene Familienvater und Schlachtermeister Alfred Roberg im Laufe seines Lebens bekommen hatte, auch aus seiner Zeit in den Vereinigten Staaten.

Günter Roberg konnte noch 1940 nach Palästina fliehen. Er lebte zuletzt in Kiryat Bialik bei Haifa und starb dort im Jahr 2014.

Informationstafel am Gebäude in der Langen Straße 22 zur Erinnerung an die Familie Roberg. Foto: Falk Liebezeit

Günter Roberg im Jahr 2010. Stadt Diepholz

Über Strafprozesse gegen die Täter der Pogromnacht in Diepholz ist nichts bekannt. Allerdings gab es im August 1946 einen Beschluss des Rates der Stadt Diepholz, nach dem die fünf Männer, die in die Synagoge eingebrochen waren, die Schäden am Gebäude beheben lassen mussten. Ihre Namen standen auch 1950/51 in Zeitungsberichten – in der 50 km entfernten Nachbarkreisstadt Syke mit vollen Namen, in Diepholz nur mit den Initialen, die jedoch damals jeder Einheimische mühelos auflösen konnte.

Als im UNRRA-Lager auf dem ehemaligen Fliegerhorst (1938-1944) im Jahr 1953 keine Juden mehr lebten für die ein Bethaus benötigt wurde, verkaufte das Jewish Trust Committee in Hannover das Gebäude an die benachbarte Auto-Werkstatt Wilh. Paradiek. Es wurde später wegen Einsturzgefahr abgebrochen. Am Nachfolgegebäude, mittlerweile ein Optikergeschäft, ist eine Erinnerungstafel angebracht, die zunächst von Stadtarchiv und Bauamt initiiert wurde und mittlerweile vom Heimatverein Diepholz gepflegt wird.

Im Jahr 1962 fährt der Schuhmachermeister Fritz Schröder aus der Langen Straße in Diepholz zu seinem früheren Nachbarn Günter Roberg nach Israel. Bei dem Schuhmacher arbeitete auch Klaus Eickenhorst aus Lemförde, der den CVJM Lemförde leitete. 1963 bringt der CVJM mit Erlaubnis des Bürgermeisters Ey den jüdischen Friedhof in Ordnung, als sie erfahren dass Günter Roberg die Gräber seiner Großeltern besuchen möchte, die dort bestattet sind. Später übernimmt die Stadt Diepholz die Rasen- und Baumpflege auf dem jüdischen Friedhof.

Im Jahr 1978 befragen drei Schüler des Diepholzer Gymnasium ältere Einwohner zu ihren Erinnerungen an jüdische Mitbürger. Das Diepholzer Kreisblatt berichtet darüber im Dezember 1978.

Der Bürgermeister Oskar Bödeker erwähnt 1986 in einer öffentlichen Sondersitzung des Stadtrats zum 9./10. November 1938 unter anderem, dass die Fontheim- und die Roberg-Strasse nach ehemaligen jüdischen Mitbürger benannt worden seien. Außerdem hatte es Gespräche mit dem Ehepaar Roberg gegeben und Ewald Samenfeld lud den Bürgermeister zu sich nach Riveira bei Buenos Aires ein.

Im Juli 1994 werden vor dem Schulhof der Mühlenkamp-Grundschule, die in den 1950er Jahren erbaut worden war, bei Straßenbauarbeiten unter dem Asphalt Bruchstücke von Grabsteinen mit hebräischen Buchstaben gefunden. Die Firma Wragge bricht daraufhin die Arbeiten ab und informiert das städtische Bauamt. Die Bruchstücke gelangen ins Stadtarchiv und werden im Ratssaal der Öffentlichkeit gezeigt. Es wird der Gedanke entwickelt, daraus ein Mahnmal auf dem jüdischen Friedhof zu konzipieren. Es wird ein Wettbewerb unter den Diepholzer Schulen veranstaltet, der 23 Vorschläge hervorbringt. Der Entwurf der beiden Abiturienten des Jahrgangs 1995/96 Mirco Oetting und Thomas Staggl wird unter Mitwirkung des Zentralverbands der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen in Hannover, Günter Roberg in Israel und dem „Arbeitskreis jüdische Geschichte im Landkreis Diepholz“ schließlich umgesetzt und 1997 eingeweiht.

Diepholz Friedhof

Eingang zum jüdischen Friedhof. Foto: Falk Liebezeit

Kurth, Hilmar, Günter Roberg erinnert sich, Diepholz 1998.

Liebezeit, Falk / Major, Herbert,  Auf den Spuren jüdischer Geschichte in Diepholz, Diepholz 1999.

Liebezeit, Falk / Schröder, Reinald / Sobetzki-Petzold, Peter, Stationen jüdischen Lebens in Diepholz. Ein Stadtrundgang, Diepholz 2010.

Jüdische Regionalgeschichte im Landkreis Diepholz