Der Begriff Pogrom stammt aus dem Russischen und bedeutet „Verwüstung“ oder „Krawall“. Seit den 1880er Jahren wurde er in Russland und bald auch in anderen Ländern für Übergriffe auf Juden verwendet.
In Deutschland war – wie in vielen anderen Ländern – die Judenfeindschaft bereits im Mittelalter verbreitet. Mit der Reformation und judenfeindlichen Schriften Martin Luthers erhielt sie im 16. Jahrhundert neuen Auftrieb. Die Aufklärung brachte im 18. Jahrhundert erste Schritte in Richtung Gleichberechtigung, die mit der Judenemanzipation zu Beginn des 19. Jahrhunderts formal vollzogen wurde. Doch ab den 1870er Jahren regte sich vor allem in ländlichen und protestantischen Regionen ein radikaler Antisemitismus, der rassistisch aufgeladen war und über den bisherigen religiös motivierten Antijudaismus weit hinausging. Spätestens seit dem 1. Weltkrieg war der Antisemitismus in Deutschland common sense.
Nach dem Ersten Weltkrieg machten viele Deutsche „die Juden“ für die Niederlage, soziale Not und politische Unruhen verantwortlich. Für die Nationalsozialisten gehörte der radikale Antisemitismus zum programmatischen Kern.
1933, zu Beginn der nationalsozialistischen Diktatur, gehörten den jüdischen Gemeinden in Deutschland etwa 500.000 Mitglieder an. Die meisten Familien hatten bereits seit Jahrhunderten in Deutschland gelebt. Andere waren in den 1920er Jahren wegen Unruhen oder aus sozialen Gründen aus Polen und Osteuropa nach Deutschland gekommen.
Die nationalsozialistische Politik gegenüber den Juden bis 1938
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 bedeutete für die deutschen Juden einen tiefen Einschnitt. Schon im Frühjahr 1933 waren sie Übergriffen ausgesetzt, etwa beim reichsweiten Boykott der Geschäfte jüdischer Eigentümer am 1. April 1933. Etwa 37.000 Beamte und Rechtsanwälte wurden schon 1933 ihrer berufliche Existenz beraubt, viele weitere Juden wurden in den Folgejahren aus ihren Berufen gedrängt. Eigentümer von Geschäften und Firmen wurden gezwungen, ihre Betriebe unter Wert zu verkaufen. Die Nationalsozialisten nannten das „Arisieren“; viele Deutsche bereicherten sich dabei.
Ständig waren Juden der Diffamierung durch Kundgebungen und die nationalsozialistische Presse ausgesetzt, etwa durch das Schmierblatt „Der Stürmer“, dessen antisemitische Hetzartikel überall in Schaukästen aushingen. Spätestens seit den Nürnberger „Rassengesetzen“ von 1935 waren Juden in Deutschland aller Rechte beraubt. Nichtjuden und Juden wurden vom Regime strikt voneinander getrennt. Verstöße gegen die Rassengesetze wurden mit drakonischen Strafen geahndet. Denunziantentum war weit verbreitet.
Eine weitere Radikalisierung erfuhr die Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung im März 1938 mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich. Der Einzug der deutschen Verwaltung in Wien ging mit der öffentlichen Demütigung der Wiener Juden einher, die man zwang, mit Zahnbürsten politische Parolen von Straßen und Mauern zu waschen. Fast überall fand sich eine johlende Menge ein, die das Treiben beobachtete.
Zunächst war es das Ziel des Regimes, die Juden zur Auswanderung zu drängen. Doch das Ausland war kaum bereit, die Flüchtlinge aufzunehmen. 1938 schlossen die meisten Nachbarstaaten de facto die Grenzen für jüdische Emigranten. Ende Oktober 1938 nahm die Gestapo Tausende im Reich lebende polnische Juden fest und wies sie nach Polen aus („Polenaktion“). Bereits im Juni waren im Rahmen der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ 2300 in Konzentrationslager eingewiesen worden („Juni-Aktion“).
Die Novemberpogrome
Unmittelbarer Anlass für die Pogrome war ein Attentat auf den Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris Ernst vom Rath am 7. November 1938. Täter war der junge polnische Jude Herschel Grynszpan, dessen Familie wenige Tage vorher von Hannover nach Polen abgeschoben worden war.
Vom Rath erlag am 9. November 1938 seinen Verletzungen. Am selben Abend war in München die Partei- und Staatsspitze versammelt, um des Hitlerputsches am 9. November 1923 zu gedenken. Schon an den beiden Vortagen hatten an einzelnen Orten in Deutschland Parteidienststellen als Reaktion auf das Attentat antisemitische Ausschreitungen angezettelt. Nachdem die Todesnachricht die Parteispitze in München erreicht hatte, ließ diese zusammen mit dem Sicherheitsapparat reichsweit Pogrome organisieren. Dabei nutzte man den Umstand, dass an dem Abend wegen des Jahrestages des Hitlerputsches ohnehin fast in allen Ortschaften Versammlungen abgehalten wurden. Das vereinfachte die Nachrichtenweitergabe an SA- und SS-Mitglieder, die angewiesen wurden, in Zivilkleidung gegen die jüdischen Bewohner ihrer Ortschaften vorzugehen und deren Eigentum zu zerstören.
Fast überall erfolgten die zentral organisierten Übergriffe, die von der NS-Propaganda als „spontaner Volkszorn“ dargestellt wurden, nach demselben Muster: SA- und SS-Angehörige in Zivil drangen in der Nacht vom 9. auf den 10. November (örtlich auch in den Tagen danach) in Wohnungen und Geschäfte ein, plünderten und demolierten diese und misshandelten die jüdischen Bewohner. Die Zerstörungswut richtete sich insbesondere gegen die Synagogen: Ihr Inventar wurde zerstört, die meisten Synagogen wurden niedergebrannt. Lediglich Gotteshäuser, die dicht an Wohnhäusern von Nichtjuden standen, blieben verschont. Die Feuerwehren, die zuvor instruiert worden waren, sahen dem Treiben tatenlos zu bzw. griffen nur ein, wenn das Feuer auf „deutsches“ Eigentum überzugreifen drohte.
Noch in der Nacht sowie am Folgetag, dem 10. November 1938, nahm die Polizei mehrere Zehntausend jüdische Männer, Frauen und Kinder fest und brachte sie in lokale Polizeistationen. Die Frauen wurden bald wieder freigelassen. 30.000 Männer hingegen verschleppten Gestapo, SS und Polizei in die Konzentrationslager.
Am Morgen des 10. November waren die Straßen vor den Wohnhäusern und Geschäften von Juden mit Scherben und Hausrat übersäht – Anlass für Zeitgenossen, den Pogrom als „Kristallnacht“ zu bezeichnen. Später nahm sich die NS-Propaganda dieses Begriffs an.
Nach Schätzungen starben allein in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 rund 400 Menschen, die meisten nach brutalen Misshandlungen durch SA- und SS-Angehörige. Mindestens 600 weitere Juden wurden in den folgenden Wochen in den Konzentrationslagern ermordet. Über 1400 Synagogen und Betstuben wurden vollständig zerstört, dazu unzählige Wohnungen und Geschäfte.
Die nichtjüdische deutsche Bevölkerung stand den Pogromen überwiegend indifferent bis distanziert gegenüber. Die brutale, „ungeordnete“ Gewalt schreckte viele ab. Insbesondere in ländlichen Gebieten beteiligten sich aber auch Kinder und Jugendliche, meist im Verband der Hitlerjugend, an Übergriffen. Örtlich feuerten Schaulustige auch die SA- und SS-Schlägerbanden an. Oftmals beteiligten sich Anwohner an Plünderungen oder bedienten sich am Mobiliar, das auf die Straßen geworfen worden war. Berichte über Hilfeleistungen für verfolgte jüdische Nachbarn sind eher selten.
Folgen
Die meisten in die Konzentrationslager Verschleppten kamen nach einigen Wochen zunächst wieder frei, insbesondere, wenn sie zu emigrieren versprachen. Den in Deutschland lebenden Juden wurde wenige Tage nach den Pogromen eine „Sühnezahlung“ in Höhe von 1 Mrd. Reichsmark zur Behebung der Schäden auferlegt. Zudem wurden sie nun durch eine Serie von Verordnungen endgültig aus dem wirtschaftlichen und sozialen Leben im Deutschen Reich ausgeschlossen.
Vielen Juden gelang es in den Folgemonaten, zu emigrieren. Doch mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 war diese Möglichkeit nicht mehr gegeben. Während die jüdische Bevölkerung im besetzen Polen in Ghettos gepfercht wurde, mussten die im Reich verbliebenen Juden bis 1940 in sogenannte Judenhäuser umziehen. Von dort erfolgte zwischen 1941 und 1943 ihre Deportation in Ghettos und Vernichtungslager im Osten.
Dort begann 1941 mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion der Massenmord an den europäischen Juden. Ab Juni 1941 erschossen Einheiten von SS und Polizei mit Unterstützung der Wehrmacht hinter der Front über eine Million Menschen. Später verlagerte sich der Schwerpunkt des Mordens in die Vernichtungslager im besetzten Polen. Insgesamt ermordeten die Nationalsozialisten fast sechs Millionen jüdische Kinder, Frauen und Männer aus fast allen Ländern Europas.
Weiterführende Literatur und Links
Alicke, Klaus-Dieter: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum (Übersicht aller jüdischen Gemeinden)
Agentur für Bildung – Geschichte. Politik und Medien e.V., Lernen aus der Geschichte > 9. November 1938 (Pädagogische Materialien)
Bundeszentrale für politische Bildung: Die inszenierte Empörung – Der 9. November 1938 (Übersichtsdarstellung, 2010)
Friedländer, Saul: Das Dritte Reich und die Juden, München 2008.
Gerlach, Christian: Der Mord an den europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen, München 2017.
Hayes, Peter: Warum? Eine Geschichte des Holocaust, Frankfurt/New York 2017.
Heim, Susanne (Hg.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Band 2: Deutsches Reich 1938–August 1939, München 2009.
LEMO – Lebendiges Museum online: Das Novemberpogrom 1938 (Übersichtsdarstellung)
Longerich, Peter: Politik der Vernichtung: eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998.
Obenaus, Herbert u.a. (Hg.): Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Göttingen 2005.
Stiftung niedersächsische Gedenkstätten: Geschichte.Bewusst.Sein > Deportationen aus Nordwestdeutschland (Exemplarische Biografien)
Dr. Jens-Christian Wagner
Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten