November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Einbeck

Der erste urkundliche Hinweis auf Einbecker Juden steht im Zusammenhang mit einer durch die Kreuzzüge ausgelösten Verfolgungswelle: Es gibt eine Einbecker Liste jüdischer Märtyrer im Martyrologium des Nürnberger Memorbuches. Die Verfolgung muss vor dem Tod des Schreibers 1298 stattgefunden haben, 15 oder 16 Juden sollen auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden sein. Über die mittelalterliche Gemeinde mit einer ersten Synagoge ist die Lage in unmittelbarer Nähe zum Handelszentrum, dem Marktplatz, bekannt (heutige Judenstraße). Aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sind antijüdische Predigten lutherischer Geistlicher überliefert, besonders der Pastor der Marktkirche, Johann Velius, betreibt eine eifrige antijüdische Agitation. 1578 ist nur noch ein Jude in Einbeck bezeugt, ob er 1581/82 Einbeck auf eigenen Willen oder auf Druck verlässt, ist nicht eindeutig. Bis zur Neuansiedlung von Juden wird es rund 100 Jahre dauern. 1673 ist der erste Schutzbrief für einen Juden bekannt. Um 1800 errichtet die größer werdende jüdische Gemeinde in der Baustraße in Hinterhoflage eine Synagoge, einen schlichten Fachwerkbau. Dieser wird kaum 100 Jahre später zu klein, weshalb die Gemeinde 1896 ihre neue Synagoge in der Bismarckstraße einweiht und das bisherige Synagogen-Gebäude an einen Privatmann verkauft. Die im maurischen Stil mit Kuppel gebaute Synagoge in der Bismarckstraße steht nicht mehr wie sein Fachwerk-Vorgänger in zurückhaltender Hinterhoflage, sondern deutlich sichtbar in bester Einbecker Villen-Gegend.

1890, kurz vor dem Bau der neuen Synagoge, gab es in Einbeck 166 jüdische Einwohner, das sind 2,38 Prozent der damaligen Bevölkerung (rund 7000 Einwohner); 1910 gibt es in Einbeck 66 Menschen jüdischen Glaubens, das entspricht 0,7 Prozent der damaligen Bevölkerung, deren große Mehrheit evangelisch ist. Die Juden sind assimiliert, in vielen Vereinen vertreten, spenden namhafte Beträge beispielsweise zur Errichtung eines Aussichtsturms im Stadtwald. Und Juden ziehen 1914 wie andere Einbecker in den Krieg.

Nachdem Einbecks damals größter Arbeitgeber, der Fahrrad-Fabrikant und Versandhändler August Stukenbrok, in Folge der Weltwirtschaftskrise 1931 schließen musste, fordert die NSDAP von Bürgermeister Dr. Hans Oehlmann sich zu rechtfertigen, warum der Gläubigerausschuss im Konkursverfahren einen Juden als Gutachter eingesetzt hatte. Oehlmann, der sich bisher geweigert hatte, in die NSDAP einzutreten, 1933 abgesetzt wird und aus Einbeck fliehen muss, erklärt in einer Bürgerversammlung im März 1932, dass der Gutachter Oppenheimer durch die Handelskammer beauftragt worden sei: „Ich kenne keinen Juden Oppenheimer, sondern nur einen Herrn Oppenheimer, da ich als Bürgermeister verpflichtet bin, jeden Deutschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln.“

Nach 1933, aber auch schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten stellen sich viele Einbecker Geschäftsinhaber auf die Seite der neuen Mächtigen, wie Zeitungsanzeigen belegen. Geschäfte Einbecker Juden werden boykottiert, die Besitzer diskriminiert und verfolgt.

Neue Synagoge in der Bismarckstraße in Einbeck, um 1900. Stadtmuseum Einbeck, Fotosammlung, Ordner 43

Wenige Tage vor dem 9. November 1938 wird Einbeck wieder Garnisonsstadt, zieht das Artillerie-Regiment 55 unter klingendem Spiel und dem Läuten sämtlicher Kirchenglocken in Einbeck ein.

Wie jedes Jahr am 9. November gedenkt die NSDAP auch 1938 ihrer Anfänge, des gescheiterten Putsches 1923 in München. Nach dem Aufmarsch am Ehrenmal im Norden von Einbeck sitzen die Männer von SA und SS anschließend in ihren Stammlokalen in der Einbecker Innenstadt zusammen. Und dann brennt mit einem Mal die Synagoge in der Bismarckstraße, mitten im gutbürgerlichen Wohnquartier…

Jahrzehntelang galt in Einbeck die Legende, dass in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 das jüdische Gotteshaus von Auswärtigen in Brand gesetzt worden sei, von SS-Leuten aus Bad Gandersheim. Einbecker seien nicht beteiligt gewesen, lautete die Beruhigung verheißende Maxime. Basis dafür war ein Erinnerungsbericht des 1938 amtierenden Landrats Dr. Kurt Heinrichs aus dem Jahr 1970. Der Karriere-Jurist gab in seinen Nachkriegs-Schilderungen den Ahnungslosen: „Ob in der einen oder anderen Wohnung geplündert worden ist, habe ich nicht erfahren können […].“ Das aber wäre seine Pflicht als Leiter der Polizeibehörde gewesen, meint die aus Einbeck stammende Historikerin Christine Wittrock. Geändert hätte das freilich wenig, denn Heinrichs, den man durchaus als willigen Vollstrecker des Regimes bezeichnen kann, hätte seine Polizei ohnehin nicht gegen die SS eingesetzt.

Nach den Recherchen von Christine Wittrock mit zahlreichen Zeitzeugen-Aussagen über die November-Nacht war es zweifellos so, dass auch Einbecker dabei waren, als die Synagoge brannte. Ob sie mitgeholfen haben, das Feuer zu legen, kann nicht belegt werden. Es sprechen jedoch mehrere Indizien dafür: Drei uniformierte SS-Männer aus Einbeck haben sich einen Sack Hobelspäne geben lassen von einem Stellmachermeister, der später mit einem SA-Mann aus Einbeck mit einer Fünf-Liter-Kanne Petroleum zur Synagoge ging. Angeblich hat die Synagoge schon gebrannt, als sie dort eintrafen.

Ein Arbeiter des städtischen Gaswerks erinnert sich nach Kriegsende, als Fachmann in der fraglichen Nacht zusammen mit ortfremden SS-Leuten zur Synagoge gegangen zu sein, um die Gasleitung zu sperren: „Mir kam die Sache komisch vor. Ich bin noch nie in der Synagoge dringewesen. Als Fachmann hat man aber das Gefühl, wo sich der Haupthahn befindet. Als ich zu Hause ankam, war bereits der rote Feuerschein am Himmel zu sehen. Ich habe mir über meine Handlungsweise weiter keine Gedanken gemacht. An der Inbrandsetzung habe ich mich nicht beteiligt.“

Landrat Dr. Kurt Heinrichs, BArch, R 9361

Brennende Synagoge in der Bismarckstraße in Einbeck am 9. November 1938. Stadtmuseum Einbeck, Fotosammlung, Ordner 43

Nachdem die Synagoge brannte und die Feuerwehr lediglich darauf achtete, dass das Feuer nicht auf Nachbargebäude übergriff, wurden bei zahlreichen Geschäften jüdischer Besitzer die Schaufenster eingeschlagen, Türen eingetreten und die Läden beschmiert und geplündert. Dies belegen mehrere vorliegende Zeitzeugenberichte. Der SA-Mann Friedrich Ziegenfuss räumt seine Beteiligung ein und redet gleichzeitig seine Rolle klein: „Ich habe dann an den Durchsuchungen bei Goldschmidt, Rosenberg und den Geschwistern Archenhold mitgewirkt. Ich betone, dass in den Fällen, in denen ich den Durchsuchungen beigewohnt habe, Zerstörungen in den Wohnungen nicht vorgekommen sind.“

Auch Einbecker SS-Leute unter Leitung des SS-Sturmbannführers Hermann von Törne aus Bad Gandersheim haben noch in der Nacht die jüdischen Bürger in ihren Wohnungen verhaftet und ins Gerichtsgefängnis gebracht. Die Mutter der Historikerin Christine Wittrock war 1938 Verkäuferin bei den Brüdern Goldschmidt in der Marktstraße: „Als sie am Morgen des 10. November zum Geschäft kommt, steht sie vor zerschlagenen Schaufenstern und einem demolierten Laden. Frauen der NS-Volkswohlfahrt waren eifrig damit beschäftigt, die Waren in große Waschkörbe einzupacken und abzutransportieren.“

Nach dem November-Pogrom begann auch in Einbeck die intensive Verfolgung. Einige Juden, wie beispielsweise die Goldschmidts, zogen in andere Städte und dort in „Judenhäuser“, wurden von dort später deportiert und getötet. Auch in Einbeck entstanden „Judenhäuser“, etwa bei den Geschwistern Archenhold in der Tiedexer Straße. Andere, wie die Adlers, wollten noch auswandern, in diesem Fall in die USA, es gelang ihnen aber nicht mehr und auch sie wurden letztlich deportiert und umgebracht.

Geschäfte Einbecker Juden wechseln ihre Besitzer, die NS-Wirtschaftsberater sorgen dafür, dass die Verkaufspreise so niedrig wie möglich sind. Beispielsweise kann Willy Hunecke das Haus Goldschmidt in der Marktstraße erwerben. Was mit der abgebrannten Synagoge, den Gebäuderesten und dem Grundstück nach dem 9. November geschehen ist, ist bislang ungeklärt. Der Kaufmann Willy Hunecke ist seit 1932 Mitglied der NSDAP, Kreiswirtschaftsberater und wird 1938 Ratsherr der Stadt Einbeck.

Die beiden Friedhöfe der jüdischen Gemeinde werden enteignet. Das letzte noch verbliebene Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde, Martin Cohn, wird 1940 genötigt, den alten jüdischen Friedhof im Südwesten von Einbeck an die Stadt zu verkaufen. Dieser wird eingeebnet und für landwirtschaftliche Zwecke verpachtet. Nach Cohns Tod verkauft der Vermögensverwalter des Deutschen Reiches 1944 den jüdischen Friedhof an der Rabbethgestraße für 660 Reichsmark an die Stadt Einbeck. Die Grabsteine werden an das Granitwerk Lauschke für 270 Reichsmark verkauft; nach 1945 werden die noch vorhandenen Steine auf Veranlassung der Militärbehörden auf dem Friedhof wieder aufgestellt.

Bis Ende 1941 hatten 52 von insgesamt 68 Bürgern jüdischen Glaubens, die in Einbeck gemeldet waren, die Stadt verlassen. Mit dem Suizid von Friederike Winter am 6. März 1944 lebten keine Menschen jüdischen Glaubens mehr in Einbeck.

Friedrich Ziegenfuss in SA-Uniform, BArch, R 9361

Artur und Walter Goldschmidt sind Kaufleute. Walter (geboren 15. April 1901) und Artur (geboren 13. Juni 1902) betreiben das Herrenkonfektions- und Schuhwarengeschäft ihres Vaters ab 1933 in der Marktstraße 11. Im Januar 1938 erscheint im redaktionellen Teil der „Einbecker Morgenpost“ und im „Heimat-Beobachter“ ein Artikel über Walter Goldschmidt. Unter dem Titel „Einbecker Jude vor dem Sondergericht“ wird berichtet, dass sich Goldschmidt in Arnstedt vor einem thüringischen Sondergericht wegen Vergehens gegen das Heimtückegesetz verantworten muss. Er hatte wohl im September 1937 im Kreise von „Rassegenossen“ einen unverschämten Witz erzählt, wie es heißt, daraufhin wurde er von einer Frau denunziert. Er stritt alles ab, das Gericht verhängte dennoch eine halbjährige Haftstrafe.

Die Brüder Goldschmidt verkaufen ihr Haus in der Marktstraße 11 im August 1938 an Heinrich Hunecke. Sie schließen ihr Geschäft im Dezember 1938 und ziehen im Februar 1939 nach Hannover zunächst in die Gretchenstraße, dann in die Eichstraße 51. Im September 1941 werden 1000 Juden in Hannover in so genannte Judenhäuser eingewiesen, Artur und Walter werden in der Ohestraße 8/9 in Haus Nummer 8 untergebracht. Am 15. Dezember 1941 befinden sie sich auf einem Transport ins Ghetto Riga zusammen mit Jakob Rosenberg, Herbert Hirschland, dessen Frau Margot Sollinger und Schwiegermutter Selma Sollinger, alle aus Einbeck stammend. 1.001 Juden werden an diesem Tag deportiert. Eine Woche später werden 500 Männer aus diesem Transport weiter ins KZ Salaspils deportiert, darunter Walter und Artur Goldschmidt, die beide 1942 dort sterben.

Kennkarte für Artur Goldschmidt, 1938. Stadtarchiv Einbeck, STA Einbeck, B XIV, 10

Martin Cohn zieht 1897 mit 28 Jahren von Göttingen nach Einbeck, zunächst in die Baustraße 12. Er arbeitet als Packer, Dienstknecht und Kutscher sowie als Desinfektor im öffentlichen Dienst, aus dem er zwischen 1933 und 1935 entlassen wird. Im Jahr 1900 heiratet der gebürtige Berliner Wilhelmine Kuthning, mit der er sieben Kinder hat. 1931 heiratet Martin Cohn nach dem Tode seiner ersten Frau erneut, auch Erna Schaper ist evangelisch-lutherischen Glaubens. Die Familie erlebt insgesamt acht Umzüge, die letzte Wohnung befindet sich in der Maschenstraße 5, die während der Reichspogromnacht 1938 verwüstet wird. Martin Cohn wird zwei Wochen in „Schutzhaft“ genommen. Als Erna Cohn am 10. November 1938 von der Arbeit nach Hause kommt, stehen Türen und Fenster der Wohnung in der Maschenstraße offen, die Betten sind herausgerissen, die Schubladen durchwühlt. SA-Leute hatten nach Schriften gesucht; Martin Cohn ist Synagogendiener der jüdischen Gemeinde.

Nach einem weiteren Haftaufenthalt 1940 oder 1941 äußert er bereits Selbstmordgedanken. Am 21. April 1941 erhängt sich Martin Cohn. Er ist damals 72 Jahre alt, Invalide und hat keine Kraft mehr, fürchtet sich davor, was noch auf ihn zukommen könnte. Die Kinder, die noch in Einbeck leben, müssen sich als „jüdische Mischlinge 1. Grades“ regelmäßig auf der Polizeiwache melden. Über eine Enkeltochter von Martin Cohn berichtet eine Zeitzeugin, das Mädchen sei nach dem Novemberpogrom 1938 von ihren Mitschülerinnen die Treppe hinuntergestoßen worden mit den Worten „Judenweib, wann gehst du endlich von der Schule?!“

Passfoto von der Kennkarte für Martin Cohn, 1938. Stadtarchiv Einbeck, STA Einbeck, B XIV, 10

Bertha Archenhold und ihre jüngere Schwester Elsa arbeiten ab ihrem 23. bzw. 24. Lebensjahr als Haustöchter in verschiedenen Städten. Bertha kehrt bereits nach einem Jahr (1911) wieder nach Einbeck zurück, weil der Vater Jacob Archenhold mit nur 54 Jahren gestorben ist, Elsa folgt 1914. Beide wohnen in der Tiedexer Straße 5. Bertha und Elsa betreiben ab 1927 ein Kaffee, Tee- und Kakaogeschäft, das sie 1938 auf Anordnung der Behörden schließen müssen.

1939 tritt das Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden in Kraft: Nichtjüdische Mieter werden dazu gedrängt, bei jüdischen Vermietern zu kündigen. Jüdischen Mietern wird gekündigt, sie werden in „jüdische“ Häuser gesteckt. Das bedeutet für die Schwestern Archenhold, dass aus der jüdischen Gemeinde in Einbeck der Rentner Gustav Franck mit 88 Jahren in das Haus der Archenholds ziehen muss, ebenso die 77-jährige Rosalie Fels, die 75-jährige Rosa Steinberg sowie Adolf Jordan, 61 Jahre alt.

Am 7. März 1942 werden die Schwestern ebenso wie ihre bisherigen Mieterinnen Rosa Steinberg und Rosalie Fels zwangsweise in Baracken am Reinserturmweg in Einbeck gebracht. Auf Anordnung der Behörden haben sie im März 1942 Lebensmittel für eine ganze Woche einzukaufen und dürfen dann die Wohnung nicht mehr verlassen. Ende März werden sie über Hildesheim nach Hannover/Ahlem transportiert, um in der Nacht vom 1. auf den 2. April 1942 in das Ghetto Warschau deportiert zu werden. Beide Schwestern gelten als „vermisst“.

Rudolf und Berta Adler haben vier Kinder: Kurt (geb. 1920), Tamara (geb. 1922), Margot (geb. 1926) und Edith (geb. 1928). Adlers haben ein Schlachterei- und Productengeschäft (Därme, Häute, Felle usw.). Ab August 1938 müssen Rudolf Adler und auch sein Angestellter Ludwig Danzig die Legitimationsscheine abgeben, sie können als Handlungsreisende keine Waren mehr einkaufen und verkaufen, die wirtschaftliche Grundlage wird den Adlers entzogen. Das Ehepaar entscheidet, die ältesten Kinder in die USA zu schicken, Kurt ist 18 Jahre, Tamara gerade mal 16 Jahre alt. Kurt Adler verlässt Einbeck im August 1938, Tamara im Oktober. Sie werden in verschiedenen Staaten der USA bei Familien aufgenommen, die für sie gebürgt haben. Zunächst gibt es noch die Hoffnung, dass der Rest der Familie ebenfalls in die USA ausreisen kann. Rudolf Adler verlässt Einbeck mit seiner Frau Berta und den Töchtern Margot und Edith am 22. Februar 1939 in Richtung Amsterdam. Er hat noch für den 14. Juli 1939 für seine Familie eine Schiffspassage auf der „Bremen“ gebucht, die nach New York fahren sollte. Doch diese Buchung wird gestrichen. Warum es nicht zu dieser Überfahrt gekommen ist, ist unbekannt. Die Ausreise in die USA gelingt nicht, und so bleibt nur noch der Weg nach Lettland, in das Heimatland von Berta Adler. Wann die Familie in Libau/Lettland ankommt, ist nicht genau festzustellen, wahrscheinlich noch 1939. Berta Adler kann dort zunächst wieder als Apothekerin arbeiten.

1941 marschieren die Deutschen in Lettland ein. Vom 15. bis 17. Dezember 1941 findet in Libau ein Massaker an einem Großteil der jüdischen Bevölkerung statt. Knapp 5000 Juden werden an diesen Tagen erschossen, weitere Erschießungen hat es bis April 1942 gegeben. Unter den Opfern sind auch Berta Adler und ihre Töchter Margot und Edith. Rudolf Adler wird eine Woche vor dem Einmarsch der Deutschen in Lettland von den Sowjets zusammen mit anderen deutschen und österreichischen Juden in ein Gefängnis gesperrt, dann in ein Internierungslager nach Novosibirsk und später in ein Lager nach Kasachstan gebracht. Er stirbt am 22. November 1942. Kurt und Tamara Adler erfahren in den USA erst viele Jahre später von dem Schicksal ihrer Eltern und der Geschwister. Kurt Adler stirbt 2002 in San Diego, Tamara stirbt 2009 in Capistrano Beach, USA.

Nach Kriegsende haben Polizei und Staatsanwaltschaft versucht, die Ereignisse vom 9. November 1938 zu rekonstruieren. Indizien und Hinweise auf mögliche Einbecker Täter fanden die Strafverfolger 1946 auch und leiteten Ermittlungen ein, für eine Verurteilung hatten sie jedoch keine Beweise. Zeugen waren entweder tot, noch in Gefangenschaft oder hatten acht Jahre nach dem 9. November 1938 keine lebendige Erinnerung mehr an den Abend. Zeugen berichteten, dass die drei in dem Prozess Beschuldigten zur Zeit der Brandstiftung nicht am Tatort gewesen seien, sondern erst später – und da seien sie nicht allein gewesen. Die Akten des Staatsarchivs machen deutlich, dass zahlreiche Einbecker im hellen Schein der brennenden Synagoge gestanden haben.

Von der brennenden Synagoge gibt es einen Film, auf dem auch Personen zu sehen sein sollen. Er gilt als verschollen.

Eine unmittelbare Berichterstattung über das Verfahren in der Presse ist nicht bekannt. 1998 berichtet der Autor nach Quellenstudium der Gerichtsakten erstmals im Wochenblatt „Die Eule“ in Einbeck über den Prozess.

Am 9. November 1969 wurde auf einer Grünfläche gegenüber dem Grundstück Bismarckstraße 17 (dem Grundstück, auf dem bis 1938 die Synagoge stand) das Mahnmal für die Schoah eingeweiht. Es entstand nach einem Entwurf des Bildhauers Kurt Lehmann (1905-2000). Zwischen zwei Betonstelen ist auf einer Bronzetafel ein siebenarmiger Leuchter zu sehen, darunter das Wort „Gedenket“. Eine Bodenplatte vor dem Mahnmal ergänzt es mit einer hebräischen Inschrift mit deutscher Übersetzung, die sich auf die gleiche über dem Hauptportal der zerstörten Synagoge bezieht: „Sind wir nicht alle Kinder eines Vaters, haben wir nicht auch einen Gott.“ Die offizielle Gedenkveranstaltung der Stadt Einbeck mit Kranzniederlegung zur Erinnerung an die Reichspogromnacht findet jedes Jahr am 9. November an diesem Mahnmal statt.

Die damalige Eigentümergemeinschaft des einstigen Synagogen-Grundstücks, das nach 1945 mit Wohngebäuden gebaut wurde, lehnte 1988 ab, an ihrem Grundstück eine Erinnerungstafel anzubringen. Letztes Originalzeugnis aus der Synagogenzeit ist ein Zaunpfosten aus Beton.

Während die Synagoge in der Bismarckstraße in Flammen aufging, blieb im November 1938 ein Gebäude unbehelligt, das einst die Alte Synagoge war. Dieser Fachwerkbau in Hinterhoflage an der Baustraße war 1906 von der jüdischen Gemeinde verkauft und später zu einem Wohnhaus umgebaut worden, weshalb es im kollektiven Gedächtnis 1938 nicht mehr als einstiger jüdischer Gottesdienstraum präsent war – und verschont blieb. Die Alte Synagoge wurde erst in den 1990-er Jahren wiederentdeckt. Ein 2004 gegründeter Förderverein konnte das jetzt unter Denkmalschutz stehende Fachwerkgebäude erwerben und saniert es denkmalgerecht. Die Alte Synagoge soll ein Ort des Dialogs und der Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen sein.

In den Jahren 2016 und 2017 hat eine Arbeitsgruppe des Fördervereins Alte Synagoge die bürgerschaftliche Initiative ergriffen und auch in Einbeck durch den Kölner Künstler Gunter Demnig „Stolpersteine“ verlegen lassen; zuletzt wurde 2018 eine „Stolperschwelle“ in Erinnerung an mehr als 1000 Zwangsarbeiter verlegt. Insgesamt 29 Stolpersteine sind bislang in Einbeck vor den letzten selbst gewählten Wohnorten der Opfer des Nationalsozialismus in den Gehweg eingelassen, vor allem ehemaligen jüdischen Mitbürgern. Die Aktion wird fortgesetzt, Ziel sind insgesamt circa 70 Stolpersteine in Einbeck.

Stolpersteine für Walter und Artur Goldschmidt, 2017. Foto: Frank Bertram

Verloren aber nicht vergessen – Jüdisches Leben in Einbeck, Oldenburg 1998.

Christine Wittrock, Idylle und Abgründe. Die Geschichte der Stadt Einbeck mit dem Blick von unten 1900-1950, Bonn 2012.

www.alte-synagoge-einbeck.de

www.stolpersteine-einbeck.de