Autor: Tessa Bouwman
Rehburg-Loccum
Vorgeschichte
Der älteste Nachweis jüdischen Lebens in Rehburg ist ein Schutzbrief für Matthias Salomon, ausgestellt im Jahr 1707. Die Existenz einer jüdischen Gemeinde in der kleinen, sehr ländlich geprägten Stadt, lässt sich ab 1802 nachweisen – anhand eines „Kassabuches“ aus der Gemeinde. Im Jahr 1835 erwarb die Gemeinde im Zentrum des Ortes ein Gebäude, in dem sie eine Synagoge einrichtete. Das älteste Grab auf dem jüdischen Friedhof stammt von 1848.
Dennoch war es immer eine kleine Gemeinde, die aber um 1850 mit 70 Mitgliedern immerhin fünf Prozent der Bevölkerung ausmachte. Mitten im Ort lebten die jüdischen Mitbürger und trieben Handel nicht nur mit den Rehburgern, sondern auch mit dem Kloster Loccum. Sie waren Nachbarn – anerkannt im Leben der Stadt. Als 1934 ein Brand in der Synagoge ausbrach und die Gemeinde einen Bauantrag für den Wiederaufbau stellte, bekam sie diesen zugesprochen.

Über ein Feuer in der Rehburger Synagoge erschien in der Tageszeitung „Die Harke“ am 22. Mai 1934 eine Notiz. Archiv „Die Harke“
Wenige Jahre später hatte sich die Stimmung in der Bevölkerung jedoch so weit gewandelt, dass aus Rehburg und den umliegenden Ortschaften die Menschen zur Synagoge zogen, um die Juden aus Rehburg zu vertreiben.
Die Ereignisse im November 1938
„Als am Morgen des 9. November 1938 die Kinder zur Schule kamen, direkt neben der Kirche hier, wo heute das Altenheim ist, da liefen die Lehrer schon in braunen Uniformen und SA-Stiefeln über den Schulhof. Und ein Lehrer hat damals den Kindern gesagt: ‚Kinder‘, hat er gesagt, ‚Ihr habt heute frei!‘. Da haben die Kinder gefragt, warum sie frei haben. Und da hat der Lehrer gesagt: ‚Wir müssen die Juden in Rehburg verjagen.‘“
So hat sich Wolfram Braselmann, Pastor in Münchehagen, von Gemeindemitgliedern die Vorgänge der Pogromnacht erzählen lassen. Und so hat er es in einer Predigt zum 70. Jahrestag jener Nacht erzählt.
Nach dem, was Wolfram Braselmann berichtete, begann die Pogromnacht in unserer Stadt mit einem kleinen Beispiel von Zivilcourage:
„Der Lehrer hat also gesagt: ‚Wir müssen die Juden in Rehburg verjagen!‘, und da haben die Kinder von den Juden erzählt, die sie kannten, die damals manchmal als Hausierer über die Rehburger Berge nach Münchehagen kamen. Und ein Mädchen hat gesagt: ‚Zu uns kommt immer ein Jude, der Leder verkauft.‘ Da hat der Lehrer das Mädchen gefragt: ‚Wie heißt der Jude?‘ Und da hat das Mädchen gesagt: ‚Das sag ich Ihnen nicht.‘“
Der Loccumer Konrad Droste schreibt in seinem Buch „Loccum – Ein Dorf – Das Kloster – der Wald“: „Es gibt Aussagen von ehemaligen SA-Männern, dass auch Mitglieder von NS-Einheiten aus Loccum und Münchehagen im Laufe des 10. November 1938 mit Fahrrädern und in Uniform nach Rehburg fuhren, um die ‚Auswirkungen des echten Volkszorns‘ kennen zu lernen.“
Ein Rehburger, Jahrgang 1929, erinnert sich, dass die SA-Kolonne zunächst bis zum Haus der Familie Löwenberg marschierte und rief: „Wir fordern Vergeltung für Ernst vom Rath!“ An das Haus schrieben sie: „Die Juden stinken von weither, jagt sie ins Tote Meer. Die Juden jagt nach Kanaan hin, weil wir sie hier nicht brauchen können.“ Danach nahmen sie Julius Löwenberg mit.

Überlieferte Szene aus der Pogromnacht in Rehburg. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms, 2014
Anschließend sei die Kolonne zum Haus von Jakob Löwenstein marschiert. „Der hatte seine Pistole ins Plumpsklo geworfen. Die musste er wieder herausholen.“ Jakob Löwenstein und sein Schwiegersohn Alfred Birkenruth seien ebenso mitgenommen worden.
Alle männlichen Juden hätten die SA-Männer zum Spritzenhaus am Rehburger Marktplatz mitgenommen und dort eingesperrt.
„Dann haben sie eine schwarze Puppe gemacht wie einen Rabbi und haben der die Rollen [die Tora] unter den Arm gebunden und auf den Haufen auf dem Marktplatz gestellt und angesteckt. Dann wurden die Männer dazu geholt.“
Eine Rehburgerin, Jahrgang 1930, erzählt:
„Meine Freundin und ich kamen aus der Schule und sahen schon an der Meerbachbrücke, dass dort an der Synagoge viele Menschen standen und überall Scherben lagen. Sachen waren nach draußen geschmissen worden. Meine Freundin rief: ‚Oh, unser Haus brennt!‘ Sie wohnte doch in einer der Wohnungen der Synagoge. Rauch war nicht zu sehen, aber die Scherben und die Menschen – da dachte sie, dass es brennt.“
Ein Rehburger, Jahrgang 1929, kam am Tag nach der Pogromnacht gemeinsam mit seinem Vater, der Tischler war, in die Synagoge: „Mit meinen Vater bin ich nach der Reichskristallnacht in die Synagoge gegangen. Der hat geschimpft, weil die SA-Leute die ganze Ostwand aufgerissen haben. Wir haben auf der Empore gestanden. In der Wand war ein großes Buntglasfenster, ein David-Stern oder so.“
In der Rehburger Schulchronik steht:
„10. 9. 1938: Kampf dem Weltjudentum.
(Verbrecherischer Mord in Paris an dem deutschen Gesandtschaftsrat v. Rath).
Hier sind noch 5 jüdische Familien wohnhaft, während eine im Laufe des Sommers auswanderte, alle fleißig und harmlos.
Die SA durchsuchte die Wohnungen am 10. 9.38 vormittags. Man fand nichts Bedeutendes. Die Synagoge hier wurde ausgeräumt (zerschlagen), das Gerümpel auf dem Marktplatz verbrannt.“
In der Chronik ist tatsächlich der 10. September als Tag der Pogromnacht verzeichnet. Der Schreiber muss sich in diesem Fall im Datum getäuscht haben.
Folgen
Kurz nach der Pogromnacht wurden die im Spritzenhaus festgehaltenen Juden – Jakob Löwenstein, Julius Löwenberg, Alfred Birkenruth, Max Goldschmidt und Hermann Levy – in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert.
Jakob Löwenstein starb dort am 26. November 1938. Alle anderen kamen zurück. Julius Löwenberg hat nach seiner Heimkehr gesagt: „Den Jakob, den haben sie tot geschlagen.“
Von dem Klima der Angst, das in den jüdischen Familien Rehburgs und Bad Rehburgs nach der Pogromnacht geherrscht haben muss, haben wurde in den Jahrzehnten nach dem Krieg nichts erzählt. Wie überall in Deutschland, durften die jüdischen Kinder wenige Tage nach dem Pogrom nicht mehr die Schulen in ihren Orten besuchen. Betroffen davon waren die Kinder der Bad Rehburger Familie Freundlich und der Rehburger Junge Walter Birkenruth.
In der Rehburger Schulchronik ist der Schulabgang von Walter Birkenruth ordentlich mit Datum vom 10. November 1938 verzeichnet – in der Begründung steht lapidar „Jude…“.
Nicht zuletzt die Ereignisse der Pogromnacht mögen für Familie Freundlich der Grund gewesen sein, ihre 13-jährige Tochter Paula mit einem Kindertransport nach England zu schicken. Alle anderen Versuche jüdischer Eltern, ebenfalls Plätze für ihre Kinder in den Kindertransporten zu bekommen, schlugen fehl.
Nur wenigen der Juden gelang die Flucht. Der überwiegende Teil wurde wenige Jahre später deportiert und ermordet.
Der jüdische Friedhof in Rehburg wurde im Januar 1939 geschlossen. Der letzte Vorsteher der jüdischen Gemeinde Rehburg verkaufte im April 1939 das Synagogengebäude, weil die Gemeinde finanziell nicht in der Lage war, die in der Pogromnacht angerichteten Verwüstungen zu beseitigen.
Biografie - Jakob Löwenstein
Jakob Löwenstein wurde am 29. August 1859 in Rehburg geboren und lebte dort 79 Jahre lang – bis er gemeinsam mit vier weiteren Männern der jüdischen Gemeinde Rehburg nach der Pogromnacht nach Buchenwald deportiert wurde.
Während die anderen Männer aus dem Konzentrationslager zurückkehrten, war Jakob Löwenstein der erste Rehburger Jude, der dem NS-Regime zum Opfer fiel.
Über die Umstände seines Todes wissen wir nichts, abgesehen von einer Erinnerung des Rehburgers Heinrich Brunschön. Er erzählte, dass Julius Löwenberg, der ebenfalls nach der Pogromnacht nach Buchenwald gebracht wurde, später sagte: „Der Jakob, der wurde totgeschlagen.“
Was von Jakob Löwenstein aus Buchenwald zurückkam, war lediglich eine Uhr samt einem Schreiben des Leiters der Lagerverwaltung an die Ortspolizeibehörde Bad Rehburg mit der Anweisung, die Uhr den Angehörigen auszuhändigen.

Aus dem KZ Buchenwald ist Jakob Löwensteins Uhr mitsamt diesem Schreiben nach Rehburg geschickt worden, 1939. Bürger- und Heimatverein Rehburg
Die Familie Löwenstein war alteingesessen in Rehburg und Jakob hoch angesehen. Wie angesehen er war, zeigt ein überliefertes Gedicht, das der Bürgermeister Rehburgs, Ernst Meßwarb (1912 bis 1938), auf ihn schrieb:
Aus alten Zeiten
Schlomchen Löwenstein
Hoch klingt mein Lied drum stimmt mit ein
Ihr sollt den Held bald raten,
Euch allen ist bekannt der Mann
Sein Weg und seine Taten.
Hoch klingt mein Lied und stimmts mit ein
Der Held ist Schlomchen Löwenstein.
Viele Wege gehen ums Erdenrund,
Doch Schlomchen hat nur einen!
Bald früh – bald spät – zu jeder Stund´
Sucht Schlomchen nur den Seinen.
Von Rehburg hin, von Loccum her
Stets unermüdlich wandert er.
Ein Schiff der Wüste seht ihr hier
Gedrückt von schweren Lasten,
Fast täglich seine Straße ziehn
Doch niemals ruhn und rasten
Hält andere Hitz und Frost zu Haus
Mein Schlomchen wandert doch hinaus.
[…]
Aus Judenstamm, wie jeder schwört,
Unzweifelhaft entsprossen,
Bleibt im Gesetz, obgleich beschwert –
Doch immer unverdrossen.
Um jedem der’s nur ehrlich meint,
Bleibt Schlomchen ein treuer Freund.
In Rehburg soll so lang dies Lied, –
In „Loccum“ auch erschallen.
Wo Eichen grünen, Heide blüht, –
Dies Lied darf nie verhallen.
Drum stimmet alle froh mit ein,
Des Liedes Held bleibt Löwenstein.
Gewidmet dem Jacob Löwenstein
Biografie - Paula Freundlich
Paula Freundlich wurde am 4. November 1925 in Bad Rehburg als Tochter des jüdischen Ehepaars Else und Siegmund Freundlich geboren. Sie war das zweite Kind der achtköpfigen Familie.
Die Entscheidung von Siegmund und Else Freundlich, einen Rettungsversuch für ihre Kinder zu starten, muss in den Tagen nach der Pogromnacht gefallen sein. Rettung versprachen damals die sogenannten Kindertransporte. Einflussreiche Juden in Großbritannien hatten bei ihrer Regierung darum gebeten, dass Juden aus Deutschland aufgenommen werden dürften.
Die Regierung willigte ein, 10.000 jüdische Kinder einreisen zu lassen. Die Flut der Anträge war wesentlich größer als das Kontingent, so dass es ein Auswahlverfahren gab. Aus der Familie Freundlich bekam lediglich Paula die Zusage.
Paula erinnert sich daran, wie ihre Eltern sie nach Hannover brachten – im Januar 1939. Auf den Bahnsteig durften die Eltern sie nicht begleiten. Abschiedsszenen sollten so vermieden werden. Paula hat ihre Eltern und Geschwister nie wiedergesehen.

Den Abschied der 13-jährigen Paula stellt eine Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“ dar. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms, 2014
Nur wenig durften die Kinder mitnehmen: einen Koffer, etwas Kleidung – keine Spielsachen und lediglich eine einzige Fotografie. Mit diesem wenigen ausgestattet saß Paula in dem Zug und fuhr einer ungewissen Zukunft entgegen. Zunächst fuhr der Zug in Richtung Niederlande. Ihre Erinnerungen hat Paula aufgeschrieben:
„Die Mädchen fuhren in einem Wagen und die Jungen in einem anderen sehr kalten Wagen. Die Juden durften keine Heizung haben. Für uns Mädchen war es nicht ganz so schlimm. Unser Wagen hatte noch ein wenig Wärme. Als wir in Holland angekommen sind, war alles anders. Es gab viele Leute an den Bahnhöfen, wenn der Zug ankam. Sie wollten uns alle begrüßen und haben uns Süßigkeiten geschenkt und auch Postkarten, so dass wir an unsere Eltern schreiben konnten. Das war alles so fremd für uns: Dass auch gute Menschen in der Welt sind, vor denen wir keine Angst haben müssen.
Dann sind wir mit dem Schiff nach Harwich in England gebracht worden, wo ich für eine kurze Zeit mit anderen Flüchtlingen in einem Camp wohnte. Danach wurde ich nach Coventry zu einer Familie gebracht.“
Von einer Nachricht mit 25 Worten erzählt Paula. Ein Telegramm, abgeschickt im März 1942. Paulas Vater schrieb ihr darin, dass die Familie auf dem Weg nach Polen sei.
Paula schreibt dazu: „Nachdem das Telegramm von meinem Vater ankam, wollte ich kein Deutsch lesen oder sprechen und wollte nur alles, was Deutsch war, vergessen.“
Am 28. März 1942 war die Familie Freundlich aus Bad Rehburg abgeholt worden, zum „Arbeitseinsatz in Polen“. Sechs Tage später begann für sie die Reise in das Ghetto Warschau. Rund drei Monate später begann die SS mit der Räumung dieses Ghettos und dem Transport der Menschen, die in ihm lebten, in das Vernichtungslager Treblinka II. Wahrscheinlich wurden Else, Siegmund und die fünf Kinder dort sofort nach dem Eintreffen in einer Gaskammer ermordet.
Paula heiratete in England und bekam vier Kinder. Ihre Kinder und Enkel sind gemeinsam mit Paula zur Verlegung von Stolpersteinen für ihre Familie und sie am 4. Oktober 2014 nach Bad Rehburg gekommen.
- Paula Calder, geborene Freundlich, beugt sich 2014 gemeinsam mit ihrer Tochter Christine über die Stolpersteine, die in Bad Rehburg für ihre Familie verlegt worden sind. Foto: Beate Ney-Janßen
- Paula Calder steht 2014 in Rehburg-Loccum an einer Skulptur, die sie als 13-Jährige beim letztlich endgültigen Abschied von ihren Eltern zeigt. Foto: Beate Ney-Janßen
Biografie - Walter Birkenruth
Walter Birkenruth wurde am 21. Oktober 1929 als Kind von Alfred und Erna Birkenruth in Rehburg geboren. Die Familie, zu der noch sein sechs Jahre älterer Bruder Hans Siegfried gehörte, lebte bei den Großeltern Jakob und Jeanette Löwenstein.
Walter wurde mit seiner Familie am 31. März 1942 ins Ghetto von Warschau deportiert, wo er ermordet wurde. Sein Todestag ist unbekannt – wie auch die Todestage seiner Eltern und seines Bruders.
Walters Vater und sein Großvater wurden nach der Pogromnacht nach Buchenwald deportiert und nur sein Vater kam von dort zurück – sein Großvater wurde im KZ Buchenwald erschlagen.
Die Pogromnacht hatte für Walter aber noch andere Folgen: Kurz danach durfte er die Schule in Rehburg nicht mehr besuchen. In der Rehburger Schule existiert noch ein Buch mit dem Verzeichnis der Schulabgänger aus jener Zeit. Hinter Walters Namen steht der Vermerk „Entlassen am 10.11.38 (Jude…)“. Ein Klassenfoto von 1936 zeigt ihn noch im Kreis seiner Mitschüler.
- Walter Birkenruth (vordere Reihe, dritter von links) 1936 im Kreis seiner Mitschüler_innen in Rehburg. Bürger- und Heimatverein Rehburg
- Die Entlassung von Walter Birkenruth aus seiner Schule in Rehburg stellt eine Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“ dar, 2014. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms
Ein Rehburger (Jahrgang 1929) erinnerte sich an eine Begebenheit. Damals, erzählt er, mussten die Jugendlichen sich auf Anordnung Propaganda-Filme ansehen, „‘Jud Süß‘ und solche Sachen.“ Das Kino befand sich direkt gegenüber dem Haus, in dem die Tante von Walter, Frieda Schmidt, mit Mann und Sohn Heinz lebte. „Als wir aus dem Kino kamen, da standen der Walter und der Heinz auf der anderen Straßenseite“, erzählt der Rehburger, „und dann haben sich einige von den Jungen den Walter gegriffen und ihn verprügelt.“

Aufgeheizt von einem Propaganda-Film verprügeln Rehburger Jungen Walter Birkenruth – so stellt es eine Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“ dar, 2014. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms
Walters Eltern suchten nach der Pogromnacht nach Wegen, das Land mit den Kindern verlassen zu können. England, die USA und Chile waren Ziele, die sie ins Auge gefasst hatten. Keiner dieser Versuche gelang jedoch. Drei Jahre später wurde die gesamte Familie nach Warschau deportiert und dort ermordet.
Stolpersteine für Walter, seinen Bruder, seine Eltern und Großeltern wurden in der Mühlentorstraße in Rehburg verlegt.
Biografie - Julius Hammerschlag
Julius Hammerschlag wurde am 20. März 1908 in Rehburg geboren und starb am 6. April 1995 in der Siedlung Moises Ville in Argentinien, wohin er 1938 mit seiner Frau, seinem Vater und seinen Geschwistern geflohen war. 1937 heiratete er Betty Wertheim und lebte mit ihr, einer Schwester und seinen Eltern in deren Haus in Rehburg.
Die Rehburgerin Anni Pfeil erzählte, dass ihr Vater – Schneider in Rehburg – von der Familie den Auftrag bekam, helle Anzüge zu schneidern. Darüber habe sie sich gewundert. Wer wollte denn in Rehburg einen hellen Anzug tragen? Daraufhin habe ihr Vater ihr erklärt, dass die Familie Hammerschlag nach Argentinien gehe, in ein Land, in dem es sehr warm sei und wo deshalb helle Anzüge notwendig seien.

Im Februar 1938 floh Familie Hammerschlag nach Argentinien – dargestellt auf einer Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“, 2014. Foto: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms
Noch vor der Pogromnacht hatte die Familie Hammerschlag erkannt, wie gefährlich die Situation war – so schwierig, dass sie es vorzog, weit fort zu fliehen. Die „Jewish Colonization Association“ (JCA) bot ihnen die Chance zur Flucht in eine ihrer Kolonien in Argentinien an.
Was aber hat die Familie Hammerschlag bewogen, bereits 1938 zu fliehen? Ein Grund waren die Anfeindungen und Repressalien. Ganz konkret bekam die Familie den Antisemitismus zu spüren, als das Kloster Loccum die Handelsbeziehungen zu ihnen kündigte.
Jose Hammerschlag – Sohn von Julius – hat die Geschichte erzählt, die seine Eltern ihm berichteten. Und zwar sei Anfang 1937, eines Freitagabends ein Bediensteter des Klosters zu seiner Familie nach Rehburg gekommen. Der Tisch sei wegen des beginnenden Shabbat festlich gedeckt gewesen, die Kerzen eben entzündet, die Familie versammelt, schreibt Jose Hammerschlag, als der Mann aus dem Kloster ihnen mitteilte, dass die Geschäftsbeziehungen miteinander aufgekündigt seien, „wegen der Vorschriften von oben“. Es täte ihm leid und er hoffe, dass das alles bald vorbei sei.
Das sei jedoch nicht geschehen und sein Großvater Salomon habe daraus den Schluss gezogen, mit seiner Familie auswandern zu müssen.
Das Kloster Loccum war einer der größten Abnehmer der Fleisch- und Wurstwaren der Familie. Rund 200 Jahre, sagte Jose Hammerschlag, hätten die Geschäftsbeziehungen angedauert.

Weil das Kloster Loccum die Geschäftsbeziehungen kündigte, entschloss sich Familie Hammerschlag zu fliehen – dargestellt auf einer Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“, 2014. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms
Unterlagen im Kloster besagen, dass bereits 1930 – also drei Jahre vor der Machtübernahme durch die Nazis – Vikare im Predigerseminar des Klosters gegen Fleischlieferungen von einem Juden bei ihrem Abt protestierten. Zum einen gehe es nicht an, dass das Loccumer Kloster Lieferungen aus Rehburg erhalte, wo doch im Dorf Loccum ein guter Fleischer ansässig sei. Zum anderen könnten die Geschäftsbeziehungen zwischen dem Kloster und einem Juden propagandistisch gegen das Kloster verwendet werden.
Der Abt entschied sich seinerzeit für einen Kompromiss: die Hälfte der Lieferungen kam künftig vom Loccumer Fleischer, die andere Hälfte durfte die Familie Hammerschlag nach Loccum bringen. 1937 wurde der Vertrag endgültig gekündigt.
Wie es seinen Eltern in Argentinien ergangen ist, hat Jose Hammerschlag in einer Mail an den Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum geschildert:
„Im März 1938 kamen meine Eltern in Buenos Aires an, und ein paar Tage später wurden sie – mit anderen Immigranten – zu der Kolonie Moises Ville geschickt, 650 km von Buenos Aires entfernt.
Dort bekamen sie ein Stück Land, 75 Hektar groß, ein paar Kühe, Pferde, Arbeitsgeräte, und ein sehr primitives kleines Haus.
Aber dies alles konnte nicht das Glücksgefühl trüben – sich von den Schauern Europas gerettet zu haben. Aber dieses Glück war natürlich beschattet von dem schrecklichen Gefühl, die Lieben der Familie nicht retten zu können! Die Eltern meiner Mutter fanden ihr tragisches Ende in Auschwitz.
Das Leben war hart in der argentinischen Landwirtschaft, und überhaupt – ohne die Sprache zu können, welche sie bis zum Ende ihres Lebens kaum sprechen lernten…Sie lebten immer weiter wie Immigranten, obgleich sie mit den Jahren sich heraufarbeiteten und es ihnen wirtschaftlich besser ging.
In vielen Momenten versuchten sie, uns von ihrer Vergangenheit zu erzählen, über ein Deutschland, welches sie betrogen und Schlimmes angetan hat. Aber doch hingen sie an den schönen Erinnerungen von dort.“
Am 27. November 2015 sind vor dem Haus in Rehburg Stolpersteine für Salomon Hammerschlag, seine Tochter Selma, Sohn Julius und dessen Ehefrau Betty verlegt worden. Zur Verlegung ist Julius Jose Hammerschlag aus Israel gemeinsam mit seiner Frau Evelyn und ihren drei Söhnen Ruben, Ariel und Yair zu Besuch gekommen.

Jose Hammerschlag (Israel), seine Frau und ihre Söhne 2015 bei der Verlegung von Stolpersteinen für ihre Familie in Rehburg. Foto: Beate Ney-Janßen
Biografie - Frieda Schmidt
Frieda Schmidt wurde als Frieda Löwenstein am 24. Mai 1898 in Rehburg geboren. Ihre Eltern waren das jüdische Ehepaar Jeanette und Jakob Löwenstein.
Dass Frieda Schmidt den Holocaust überlebte, hängt in erster Linie damit zusammen, dass sie einen Nichtjuden – den Christen Heinrich Schmidt – heiratete. Ihr Sohn Heinz wurde am 26. Juni 1931 geboren.
Friedas Eltern und ihre Schwester samt Familie wurden zwischen 1938 und 1942 deportiert.
Frieda blieb als einzige Jüdin in Rehburg – relativ geschützt durch ihre „Mischehe“. Kurz vor Ende des Krieges wendete sich das Blatt dann jedoch auch für sie.
Am 20. Februar 1945 wurde sie in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie am 8. Mai 1945 befreit wurde. Mit Tränen in den Augen erinnern sich ältere Rehburger daran: Die vorher leicht korpulente Frau bestand nur noch aus Haut und Knochen, als sie nach Rehburg zurückkam. Über das, was ihr in Theresienstadt widerfahren ist, soll sie Zeit ihres Lebens niemals geredet haben.
Vorbehalte gegen die Beziehung zwischen einer Jüdin und einem Christen gab es durchaus in Rehburg. So soll Heinrich Schmidt gelegentlich gefragt worden sein, was er denn mit „diesem Juden-Mädel“ wolle.
Folgende Szene ist uns von einer Rehburgerin aus den Jahren nach 1942 berichtet worden:
Es wird wohl 1943 oder 1944 gewesen sein – alle anderen waren bereits deportiert – als eine Gruppe SA-Männer zu dem Haus in der Heidtorstraße marschierte, in dem Frieda lebte. Landwirt August Lustfeld, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite seinen Hof hatte, beobachtete diesen Aufmarsch. „Wo wollt ihr denn hin?“, war seine Frage. „Die Frieda holen“, lautete die Antwort. August ging daraufhin mit erhobener Mistforke auf die Truppe zu und rief: „Das tut ihr nicht!“
Die SA-Männer sollen nach diesem für sie unerwarteten Widerstand wieder abgezogen sein. Frieda wurde nicht abgeholt.
Für August Lustfeld hatte die Szene jedoch ein Nachspiel. Der Landwirt, Jahrgang 1903, war eigentlich wegen zweier Leistenbrüche vom Kriegsdienst freigestellt, bekam nun aber wenige Tage später den Gestellungsbefehl und musste nach Russland an die Front.

Ein Akt von Zivilcourage eines Nachbarn bewahrt Frieda Schmidt 1943 noch vor der Deportation – dargestellt auf einer Ausstellungstafel des „Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum“, 2014. Fotos: Beate Ney-Janßen, Layout: Ulrich Helms
Am 13. Januar 1945 gab es dann einen Erlass des Reichssicherheitshauptamtes, dass alle in „Mischehe“ lebenden Juden in das Konzentrationslager Theresienstadt zu überstellen seien. Und so wurde Frieda Schmidt verhaftet und in dieses KZ deportiert, wo 1942 bereits ihre Mutter ermordet worden war.
Welches Grauen sie dort erlebt haben musste, lässt sich an einer Begebenheit ermessen, die eine Freundin von Frieda erzählte. Bei einem gemeinsamen Einkauf in einem Geschäft habe Frieda plötzlich angefangen zu schreien und sich überhaupt nicht beruhigen lassen. Später habe sie ihr erzählt, dass sie in dem Geschäft einen ihrer Aufseher aus Theresienstadt wiedererkannt habe.
Frieda Schmidt ist am 28. Oktober 1984 im Alter von 86 Jahren gestorben. Ihr Grab ist auf dem evangelisch-lutherischen Friedhof in Rehburg.
Ein Stolperstein für Frieda Schmidt liegt seit 2014 vor ihrem Haus in Rehburg.
Justizielle Ahndung
Über eine justizielle Ahndung ist wenig bekannt.
Dokumentiert ist lediglich ein Gerichtsurteil, das den Überlebenden der Familie Goldschmidt auf Antrag das Wohnhaus sowie den Grundbesitz zuspricht.
Spuren und Gedenken
21 Stolpersteine für Opfer des Nationalsozialismus hat der „Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum“ seit 2014 in Rehburg, acht weitere im Nachbarort Bad Rehburg verlegen lassen. Hinzu kommt eine Stolperschwelle, die in Rehburg auf das Haus hinweist, in dem sich bis 1939 die Synagoge der jüdischen Gemeinde befand.
Eine sichtbare Spur ist zudem der jüdische Friedhof, der mit 35 Gräbern noch erhalten ist.
Die Erinnerung an die jüdische Gemeinde hält der 2013 gegründete „Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum“ zudem in seiner Geschichtswerkstatt wach, die sich im Zentrum Rehburgs befindet. Dort ist eine Ausstellung zur Geschichte der jüdischen Gemeinde zu sehen. Dadurch ist ein außerschulischer Lernort entstanden, der von Schulklassen der Umgebung sowie Konfirmanden- und Jugendgruppen genutzt wird. Eine Kooperationsvereinbarung mit der IGS Nienburg ist abgeschlossen. Eine weitere Kooperation ist im Entstehen. Diverse weitere Projekte mit Jugendlichen (Theater, Lesungen, Diskussionsrunden, etc.) bietet der Arbeitskreis an.

Zahlreiche Angebote zum Gedenken und Lernen für die Zukunft macht der „Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum“ Jugendlichen – wie hier bei einer Diskussion von Schülern der Wilhelm-Busch-Schule Rehburg mit Kultusminister Grant Hendrik Tonne und der Vorsitzenden der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, Ingrid Wettberg, März 2018. Foto: Beate Ney-Janßen
Zusätzlich gestaltet er ein kleines Kulturprogramm, unter anderem mit Vorträgen und Liederabenden mit vorwiegend regionalem Charakter. Dazu kommen Gedenkveranstaltungen mit Führungen über den Friedhof und Spaziergänge zu den „Stolpersteinen“. Versöhnungsarbeit wird unter anderem durch zahlreiche Kontakte zu Nachfahren der Juden Rehburgs geleistet.
Weiterführende Literatur und Links
Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum, dort ist unter „Erinnerungen und Überliefertes“ auch der Abschnitt der Schulchronik Rehburg zu der Zeit des Nationalsozialismus einsehbar
Konrad Droste, Loccum. Ein Dorf – Das Kloster – Der Wald. Beiträge zu einer bemerkenswerten Geschichte, Loccum 1999.
Nanca Kratochwill-Gertich u. Antje C. Naujoks, Rehburg, in: Herbert Obenaus (Hg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Bd. 2, Göttingen 2005, S. 1298 – 1302.
Gerd-Jürgen Groß, „Sie lebten nebenan“. Erinnerungsbuch für die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933-1945 deportierten und ermordeten jüdischen Frauen, Männer und Kinder aus dem Landkreis Nienburg/Weser, Nienburg 2013.
Autorin: Beate Ney-Janßen, Rehburg-Loccum
Hildesheim
Vorgeschichte
Hildesheim, 1933 mit gut 62.000 und 1939 bereits mit 72.000 Einwohnern, war keine NS-Hochburg. In der katholisch geprägten Dom- und Bischofsstadt war auch während des Erstarkens des Nationalsozialismus in den 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre das Zentrum stets relativ stabil zwischen 17 und 20 Prozent bei Wahlen ins Ziel gekommen. Und auch die Sozialdemokraten konnten sich noch bei der Reichstagswahl im März 1933 trotz bereits starker Repressionen in Hildesheim ein überdurchschnittliches Ergebnis von 25,8 Prozent erkämpfen. Die NSDAP hingegen erreichte zwar 37,3 Prozent der Stimmen und war damit stärkste politische Kraft in Hildesheim, im Vergleich zum reichsweiten Ergebnis der Nationalsozialisten (43,9 Prozent) waren sie hier doch eher weniger stark vertreten.
Eine nachweisbare jüdische Bevölkerung gab es in Hildesheim seit dem Hochmittelalter. Im Jahr 1900 waren 617 jüdische Einwohner in Hildesheim gemeldet. Das entsprach zur Jahrhundertwende einem Bevölkerungsanteil von 2,2 Prozent. Dies änderte sich bis 1933 jedoch durch eine niedrige Geburtenrate und Abwanderungsbewegungen in größere Städte wie Hannover, Hamburg oder Berlin. So wohnten im Jahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten noch 515 Juden in der Stadt, was nur noch einem Anteil von 0,8 Prozent entsprach. Bis 1938 reduzierte sich die jüdische Bevölkerung in Hildesheim, vermutlich durch Aus- und Abwanderung, auf ungefähr 200 Menschen.
Ab dem 30. Januar 1933 kam es auch in Hildesheim zu staatlich sanktionierter offener Feindseligkeit gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Wie im gesamten Reich hatten auch die Hildesheimer Juden in den Jahren nach 1933 unter Ausgrenzung, Schikane und Verdrängung aus Wirtschaft, Gesellschaft und öffentlichem Leben zu leiden. Die „Arisierung“ der hiesigen Wirtschaft führte dazu, dass 1938 nur noch 10 Prozent der Manufaktur- und Modewarengeschäfte in jüdischem Besitz waren. Zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft waren es noch 60 Prozent gewesen. Ein Großteil dieser Geschäfte verschwand selbstverständlich nicht einfach, sondern wurde nun von „arischen“ Besitzern weitergeführt.
Im Jahre 1936 hatte Joseph Schwarz das Amt des Landrabbiners in Hildesheim übernommen und stand damit der Jüdischen Gemeinde vor, die seit 1849 eine repräsentative Synagoge und ein Gemeinde- und Schulhaus ihr Eigen nennen konnte. Am 1. September 1938 verließ er aber bereits Hildesheim wieder, um eine Gemeinde auf den Philippinen zu übernehmen. Er sollte der letzte Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Hildesheim gewesen sein. Sein Nachfolger wurde Hermann Spier, der seit April 1938 als Lehrer an der Jüdischen Schule arbeitete. Er übernahm vermutlich nach Schwarz‘ Abreise so gut es ging dessen Pflichten und begleitete die Gemeinde spirituell, ohne selbst ein ausgebildeter Rabbiner gewesen zu sein.
Am 26. April 1938 trat im Deutschen Reich eine Verordnung zur Anmeldung des Vermögens von Juden in Kraft, die vorsah, alle Juden mit einem Vermögen über 20.000 Reichsmark zu dokumentieren, vermutlich, um für den Fall der ständigen Ausreise einen Überblick über die Vermögensverhältnisse des wohlhabendsten Teils der jüdischen Bevölkerung zu haben. Auch für Hildesheim wurde eine solche Liste angefertigt, auf der sich 59 Namen mit einem Gesamtvermögen von fast 5 Millionen Reichsmark finden. Ein großer Teil dieser vermögenden Juden wurde am Morgen des 10. November 1938 im Nachgang der Pogromnacht verhaftet.
Die Ereignisse im November 1938
Der 9. November 1938, ein Mittwoch, gestaltete sich in Hildesheim nicht anders als in anderen Städten des Reiches. Im nationalsozialistischen Kalender war der 9. November ein wichtiger Feier- und Gedenktag anlässlich des gescheiterten Hitler-Putsches 1923. Dazu fand in Hildesheim ein Schweigemarsch des Jungvolkes vom Karl-Dincklage-Platz, der heutigen Steingrube, zur Jahnswiese am Galgenberg statt, um die Toten des Putschversuches zu ehren.
Am Abend trafen sich die leitenden Persönlichkeiten der örtlichen NSDAP und die Hildesheimer SA-Standarte 79 zur offiziellen Feierstunde in der Stadthalle, die sich damals in der Neuen Straße befand. Seit Gründung der Allgemeinen SS an genau diesem Datum im Jahr 1925 wurden auch die neuen Anwärter der SS am 9. November vereidigt. Der Hildesheimer SS-Sturm II/12 traf sich um Mitternacht auf dem Galgenberg an der Bismarcksäule, wo man sich über Lautsprecher die im Rundfunk ausgestrahlte zentrale Vereidigungsfeier vor der Feldherrnhalle in München mitsamt der Rede Adolf Hitlers anhörte und anschließend die eigenen Anwärter vereidigte.
Während dieser Veranstaltung bekam der Wirt des „Altdeutschen Haus“, des Stammlokals der SS, einen Anruf, dass sich der Führer des Sturms, SS-Sturmbannführer Emil Frels telefonisch in Hannover zu melden habe. Daraufhin begab sich der Wirt die ca. zwei Kilometer zur Jahnswiese, um Frels die Nachricht zu überbringen. Da die Feierlichkeiten in vollem Gange waren, konnte der Wirt erst nach deren Ende, also weit nach Mitternacht, von dem Anruf aus Hannover berichten. Sturmbannführer Frels machte sich daraufhin auf den Weg zum „Altdeutschen Haus“. Dort angekommen, rief er in Hannover an und sprach mit SS-Oberführer Kurt Benson, der sich darüber erregte, dass der befohlene Anruf so spät komme, und dass im ganzen Bereich bereits die Synagogen brennen. Benson erkundigte sich bei Frels, ob es in Hildesheim eine Synagoge gebe. Dies kann als Indiz dafür gesehen werden, dass der Pogrom keine lange vorher organisierte Tat, sondern improvisiert war. Als Frels die Frage bejahte, erhielt er von Benson den Befehl, die Synagoge umgehend anzuzünden.
Unterdessen hatte sich der Rest des SS-Sturms im Stammlokal eingefunden, um einen vorher angesetzten geselligen Abend zu verbringen. Der Sturmbannführer berichtete von dem Befehl und beauftragte seinen Adjutanten Zander, ein Brandkommando mit 10 bis 15 SS-Männern zur Synagoge zu schicken. Frels selbst meldete der Feuerwehr im Vorhinein bereits, dass in den nächsten Minuten die Synagoge in Flammen stehen würde, die Feuerwehr sich aber Zeit lassen sollte und man nicht sofort Alarm schlagen müsse, was allerdings trotzdem getan wurde. Die Feuerwehr rückte sofort aus und fand die Synagoge brennend vor, wurde aber von SS-Männern daran gehindert, Löscharbeiten einzuleiten. Erst als das Feuer, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft befindlichen Fachwerkhäuser bedrohte, durfte die Feuerwehr das Feuer eingrenzende Maßnahmen ergreifen, die Synagoge jedoch nicht löschen. Am Morgen war das Gebäude vollständig ausgebrannt. Im Gegensatz dazu wurde das gegenüberliegende Gemeinde- und Schulhaus nicht zerstört.
Noch in der Nacht begannen andere SS-Männer damit, die Schaufenster jüdischer Geschäfte und Banken zu zerstören, worauf am Morgen des 10. November systematische Plünderungen, möglicherweise mit Unterstützung, zumindest aber mit Billigung durch die Polizei, stattfanden. Etwa 60 überwiegend wohlhabende Juden, ausschließlich Männer, deren Vermögen durch die Verordnung im April 1938 festgestellt worden war, wurden verhaftet und in das Polizeigefängnis im Hermann-Göring-Haus (Ecke Straße der SA/Adolf-Hitler-Straße; heute Kaiserstraße/Bahnhofsallee) gebracht. Dort wurden sie gegen Mittag auf dem Gefängnishof aufgereiht und hatten wahrscheinlich auch Misshandlungen und Demütigungen zu erleiden. Der zuständige Polizeimeister Ballauf erhielt dann den Befehl, die Gefangenen zu Fuß zum Gerichtsgefängnis am Godehardsplatz zu überführen. Allerdings habe das nicht auf direktem Wege zu geschehen, sondern über Umwege und an der ausgebrannten Synagoge vorbei. Als zusätzliche Erschwernis wurden den Gefangenen die Hosenträger und Schnürriemen abgenommen, vorgeblich zur Fluchtprävention.
Im Godehardigefängnis angekommen, verblieben einige wenige dort, der Großteil wurde jedoch mit Lastwagen nach Hannover und von dort zusammen mit anderen während des Pogroms verhafteten Juden aus der erweiterten Region Hannover mit einem Sonderzug in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht.
- Zerstörte Synagoge am Lappenberg. Stadtarchiv Hildesheim, Bestand 951 Nr. 7952-2
- Weg der Gefangenen vom Polizei- in das Godehardigefängnis. Lernwerkstatt Geschichte
- Mitglieder des Hildesheimer SS-Sturms II/12, undatiert. Niedersächsisches Landesarchiv-Standort Hannover
- Hermann-Göring-Haus in Hildesheim, 1938: Sitz des Polizeigefängnisses, in das die in der Nacht vom 9. auf den 10. November festgenommenen Juden gebracht wurden. Stadtarchiv Hildesheim, Bestand 499-63
Folgen
Aus den Unterlagen im KZ Buchenwald geht hervor, dass alle dort festgehaltenen Hildesheimer Juden zwischen dem 25. November und dem 8. Dezember 1938 freigelassen wurden, nachdem jeder Einzelne eine Verpflichtung zur Ausreise unterschrieben hatte.
Eine ausführliche Presseberichterstattung fand nicht statt. Die Hildesheimer Allgemeine Zeitung (HAZ) berichtete am 10. November beiläufig von „starken antijüdischen Aktionen“ im gesamten Reich, ging aber nicht explizit auf die Geschehnisse in Hildesheim ein. Der Hildesheimer Beobachter, das örtliche NS-Parteiblatt, druckte am 11. November den Aufruf zur Beendigung der „Aktionen gegen das Judentum“ von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ab.
Die ausgebrannte Ruine der Synagoge wurde am Morgen des 10. November unter den Augen der jüdischen Schüler, die gezwungen wurden, von den Fenstern der Schule aus zuzusehen, abgerissen, die Trümmer jedoch an Ort und Stelle liegengelassen. Erst am 14. Juni 1940 vermeldet die HAZ die Räumung des Geländes von den Trümmern der Synagoge. Während man also in anderen Städten bemüht war, die Spuren der Pogromnacht schnell zu beseitigen und die Flächen neu zu nutzen, geschah in Hildesheim lange nichts. Das jüdische Schulhaus am Lappenberg 21 blieb erhalten und diente bis 1942 weiterhin als jüdisches Schul- und Gemeindezentrum sowie vermutlich seit 1940 als jüdisches Kinder- und Jugendheim.
Die nächste dem Pogrom folgende und zugleich letzte Volkszählung während der NS-Herrschaft ergab, dass im Mai 1939 nur noch 217 Juden in Hildesheim lebten, was einem Rückgang von fast 58 Prozent im Vergleich zu 1933 entsprach. Ein Großteil der verbliebenen Hildesheimer Juden, 62 Männer, Frauen und Kinder, wurde am 31. März 1942 über die zentrale Sammelstelle in der ehemaligen Jüdischen Gartenbauschule Ahlem in das Warschauer Ghetto deportiert, unter ihnen auch der Lehrer Hermann Spier. Ein zweiter Transport fuhr am 23. Juli 1942 mit 51 Hildesheimer Juden aus Ahlem nach Theresienstadt. Von diesen beiden Transporten haben vermutlich nur vier Hildesheimer die Shoah überlebt. Alle anderen sind entweder bereits in den Ghettos oder später in den Vernichtungslagern Auschwitz und Treblinka gestorben.
Ein letzter Transport ging aus Hannover am 20. Februar 1945 mit noch fünf Hildesheimer Juden in das Ghetto bzw. KZ Theresienstadt. Alle fünf erlebten die Befreiung Theresienstadts durch die Rote Armee zwei Monate später. Da sich nach letzten Berichten vom Januar 1945 noch 42 Juden im Regierungsbezirk Hildesheim befanden, von denen 27 (einschließlich der fünf Städter) am 20. Februar deportiert wurden, kann man davon ausgehen, dass 15 Juden aus dem Regierungsbezirk nicht deportiert wurden. Ob sie das Kriegsende überlebt haben oder was mit ihnen geschehen ist, lässt sich nicht feststellen.
Eine weitere Erkenntnis bezüglich des Schicksals der Hildesheimer Juden nach dem Novemberpogrom 1938 lässt sich aus den Deportationslisten ableiten, in denen nur noch wenige Wohnadressen in Hildesheim genannt werden. So kann man davon ausgehen, dass ab 1939 auch in Hildesheim „Judenhäuser“ geschaffen wurden, in den die Menschen äußerst beengt hausten. Die Judenhäuser befanden sich an folgenden Adressen: Lappenberg 21 (Jüdisches Schulgebäude), Teichstraße 27, Hornemannstraße 11, Langer Hagen 65, Friesenstraße 3/4 sowie 16, Adolf-Hitler-Straße 14 und Bernwardstraße 3. Ab wann man die jüdischen Einwohner in den „Judenhäusern“ zusammenfasste, lässt sich nicht genau belegen, weil die Aktenbestände durch den Luftangriff am 22. März 1945 zerstört wurden.
Biografie – Hermann Spier
Hermann Spier wurde am 20. Januar 1899 im hessischen Merzhausen als Sohn des Kaufmanns Salomon und dessen Frau Gitta Spier geboren. Sein Studium begann er am 1. April 1916 am Israelitischen Seminar in Kassel. Dies wurde jedoch durch den Kriegsdienst, den Spier von Juni 1917 bis zu seiner Entlassung im März 1919 leistete, wobei er 1918 an der Aisne einen Oberschenkeldurchschuss erlitt, unterbrochen. Am 12. Februar 1920 bestand er erfolgreich die erste Lehrerprüfung und trat eine Lehrerstelle an einer jüdischen Schule an.
Ab 1924 war er mit Karoline Nußbaum verheiratet und blieb es bis zu ihrem Tod an Multipler Sklerose im Oktober 1938. Die beiden hatten zwei Töchter: Henriette (*1925) und Berna (*1928). Spier gelang es, seine beiden Töchter im Januar 1939 mit einem Kindertransport nach England zu schicken, wo sie in einem Kinderheim untergebracht waren und dadurch den Krieg und die Shoah überlebten. Die schwere Krankheit verhinderte, dass Karoline ihn an seine wechselnde Dienstorte begleitete. Spier war zwischen seiner ersten Lehrerprüfung und der zweiten im Jahr 1928 in vier jüdischen Schulen tätig: Grebenstein, Kassel, Northeim und Abterode im Kreis Eschwege. Nach der zweiten Prüfung wurde er in Eschwege zum Beamten auf Lebenszeit ernannt.
Im August 1933 sollte die jüdische Schule in Abterode geschlossen und Hermann Spier mit nur 34 Jahren in den Ruhestand versetzt werden, was dann auch geschah. Nach eineinhalb Jahren, in denen sich Spier permanent gegen diesen Ruhestand und die damit verbundenen finanziellen Schwierigkeiten wehrte, bekam er im April 1935 eine Stelle in Leer, wo er bis zum 31. März 1938 blieb. Nur vier Tage später trat er die Stelle des Lehrers an der jüdischen Schule und Kantors der Gemeinde in Hildesheim an.
Als es Karoline Spier krankheitsbedingt immer schlechter ging, lernte Hermann Spier Henriette Rosenboom kennen, die ihm im Juli 1938 nach Hildesheim folgte. Die beiden heirateten am 28. November 1941.
Zunächst nur Lehrer und Kantor der Gemeinde, entwickelte sich Hermann Spier in den kommenden Jahren nach dem Weggang des letzten Rabbiners Joseph Schwarz im September 1938 und spätestens mit der Auswanderung des letzten Gemeindevorstehers Alex Rehfeld im Juli 1940 zur geistigen und religiösen Führungspersönlichkeit der Gemeinde. Er organisierte zusätzlich zu seinen beruflichen Pflichten die Feiern zu den wichtigen jüdischen Festen und übernahm auch die Leitung der Gottesdienste. Im Nachgang des Chanukka-Festes 1941 wurde ihm im Jüdischen Nachrichtenblatt explizit gedankt.
Im Zuge der Zusammenfassung der Hildesheimer Juden in Judenhäusern zogen auch Spier und seine zweite Frau Henriette um, wahrscheinlich in das Haus Hornemannstraße 11. Um der Schließung der Schule aufgrund geringer Schülerzahlen vorzubeugen, wurden Kinder aus Ostfriesland aufgenommen, die mit ihren Familien ihrerseits aus der Heimat vertrieben wurden. Dadurch entstand das Kinder- und Jugendheim Lappenberg, dass von einem Ehepaar Bloch geleitet wurde und in dem Hermann Spier als Lehrer und Erzieher fungierte.
Hermann Spier hatte die Möglichkeit, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, doch er zog es vor, bei seiner Gemeinde und seinen Schützlingen zu bleiben. Er wurde mit dem ersten Transport am 31. März 1942 zusammen mit 61 anderen Hildesheimer Juden, einschließlich seiner Frau Henriette, nach Warschau deportiert. Für Hermann Spier ging es danach weiter in das Vernichtungslager Treblinka, von wo seine Tochter im Juni 1943 eine mit Bleistift beschriebene Postkarte ihres Vaters bekam. Etwa um diese Zeit starb Hermann Spier in Treblinka. Ein genaues Datum ist nicht festzustellen. Seine Tochter Henriette, inzwischen wohnhaft in Birmingham, ließ ihn am 25. Januar 1951 vom Amtsgericht Hildesheim für tot erklären.
Als die Regierungshauptkasse in Hildesheim wenige Tage nach Spiers Deportation seinen Gehaltsscheck von der Reichspost mit dem Hinweis „Jude, unbekannt verzogen“ zurückbekam, bat man beim Regierungspräsidenten um weitere Anweisungen. Die knappe Antwort lautete: „Der jüdische Lehrer a. D. Hermann Israel Spier in Hildesheim ist am 31. März 1942 nach dem Osten abgewandert. Er kehrt nach Deutschland nicht zurück. Sein Aufenthaltsort ist unbekannt.“ Aufgrund der damit verbundenen Aberkennung der Staatangehörigkeit seien alle Zahlungen einzustellen.
Justizielle Ahndung
Im Dezember 1948 wurde dem Führer des SS-Sturms II/12, SS-Sturmbannführer Emil Frels als Anführer des Pogroms und neun weiteren Angeklagten der Prozess gemacht. Dabei wurde Frels wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Brandstiftung zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Major der Schutzpolizei Ballauf, der für die Behandlung der am 10. November 1938 verhafteten Juden verantwortlich war, wurde zunächst zu 10 Monaten verurteilt, später stellte man das Verfahren jedoch ein, da Ballauf auf Befehl von Frels‘ Adjutanten SS-Oberscharführer Zander gehandelt haben soll. Die übrigen acht Angeklagten erhielten kurze Freiheitsstrafen oder wurden freigesprochen.
Spuren und Gedenken
Ein Ratsbeschluss der Stadt Hildesheim im Jahr 1947 führte dazu, dass nicht einmal zehn Jahre nach der Pogromnacht und drei Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft am 22. Februar 1948 auf dem unbebauten Grundstück der Synagoge am Lappenberg ein Gedenkstein unter Teilnahme von Regierungspräsident Backhaus, Würdenträgern der christlichen sowie neu gegründeter jüdischer Gemeinden und anderen Persönlichkeiten eingeweiht wurde. Er trägt in hebräischer, deutscher und englischer Sprache folgende Inschrift: „An dieser Stelle stand die Synagoge, die am 9. November 1938 von frevelhaften Händen vernichtet wurde.“
Augenscheinlich blieb der Gedenkstein jedoch jahrzehntelang eher unbeachtet. Erst 1977 wurde wieder der Pogrome und ihrer Opfer gedacht, als Oberbürgermeister Heiko Klinge am Volkstrauertag am 13. November einen Kranz niederlegten. Am 9. November 1978 waren alle Ratsmitglieder und Mitarbeiter der Verwaltung sowie etwa 100 Menschen anwesend, als Klinge erneut einen Kranz niederlegte. Es folgten zehn Jahre des unorganisierten Gedenkens – mal am 9. November, mal am Volkstrauertag.
Ein alljährliches zentrales Gedenken findet statt, seit am 9. November 1988, 50 Jahre nach den Ereignissen, das große Synagogenmahnmal am Lappenberg enthüllt wurde. Dabei handelt es sich um einen Quader, der an der Stelle steht, die bis 1938 den Mittelpunkt des achteckigen Hauptraumes der Synagoge darstellte. Auf dem Quader steht eine Miniatur Jerusalems und die Seiten zeigen verschiedene Motive, die sich mit der jüdischen Kultur und der Verfolgung des jüdischen Volkes auseinandersetzen. Begrenzt wird das Gelände des Mahnmals von einer achteckigen Umfassungsmauer, die den Grundriss der ehemaligen Synagoge nachzeichnet. Ein weiteres Schild auf dieser Mauer trägt die Aufschrift: „Diese Mauer steht auf den Fundamenten der am 8.IX.1849 eingeweihten und in der Nacht vom 9. auf den 10.XI.1938 zerstörten Synagoge. Das Mahnmal wurde am 9.XI.1988 errichtet.“ Am 10. November 2005 wurde das Mahnmal geschändet, indem Unbekannte es mit roter Farbe begossen. Die Täter konnten nicht ermittelt werden.
Darüber hinaus begann man in der Innenstadt im November 2008 mit der Verlegung von Stolpersteinen, um Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu gedenken. Im Jahr 2017 wurden die bislang letzten der mittlerweile 91 Stolpersteine verlegt.
An entsprechenden Orten der Stadt stehen Gedenk- und Informationsstelen, beispielsweise in der Friesenstraße. Dort wird über die „Judenhäuser“ informiert.
Das ehemalige Schul- und Gemeindehaus am Lappenberg 21 hat den Krieg überstanden und dient der katholischen St. Godehard-Gemeinde als Pfarrhaus, allerdings ohne Zwiebeltürmchen.
Seit 1997 gibt es wieder eine jüdische Gemeinde in Hildesheim, die von der katholischen Kirche im Jahr 2009 ein ehemaliges Gemeindehaus der Johanniskirche in der Hildesheimer Nordstadt zur Verfügung gestellt bekam.
- Synagogenmahnmal am Lappenberg von 1988, im Hintergrund links das ehemalige Schulhaus, 2018. Foto: Dennis Steinemann
- Schild auf der Umfassungsmauer des Mahnmals, 2018. Foto: Dennis Steinemann
- Stolpersteine in Hildesheim. Foto: Klaus Schäfer; Vernetztes Erinnern Hildesheim
Weiterführende Literatur und Links
Sabine Brand (Hg.), Hildesheim – Im Marschschritt durch die Dreißiger, Hildesheim 2013.
Dies. (Hg.), Hildesheim – Sturzflug durch die Vierziger, Hildesheim 2010.
Hans-Dieter Schmid (Hg.), Hildesheim in der Zeit des Nationalsozialismus. Eine Stadt zwischen Angst und Anpassung, Hildesheim 2015.
Jörg Schneider, Die jüdische Gemeinde in Hildesheim 1871-1942, Hildesheim 2003.
Vernetztes Erinnern. Nationalsozialistische Gewaltherrschaftin Stadt und Landkreis Hildesheim
Lernwerkstatt Geschichte – Hildesheim im Nationalsozialismus – Aspekte der Stadtgeschichte
Stadtarchiv Hildesheim – Stolpersteine
Autor: Dennis Steinemann, Student der Leibniz Universität Hannover
Stolzenau
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts siedelten sich die ersten jüdischen Familien in Stolzenau an. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt mit dem Viehhandel und dem Verkauf landwirtschaftlicher Produkte.
1834 errichtete die Jüdische Gemeinde, zu der auch die Juden aus Nendorf und Leese gehörten, in der Thalstraße (heute „Hinterm Dahle“) eine Synagoge mit angeschlossener Schule und Lehrerwohnung. Bis dahin hatten die Gottesdienste in Betstuben von Privathäusern stattgefunden, unter anderem im Haus der Familie Hildesheimer, heute „Am Markt 7“.
Vor dem Ersten Weltkrieg kam täglich ein Minjan zusammen, und an den Feiertagen soll die Synagoge bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen sein. Der jüdische Friedhof befand sich an der Schinnaer Landstraße. Religiös waren die Stolzenauer Juden orthodox ausgerichtet.
Schon vor dem Ersten Weltkrieg begann mit der Abwanderung in die Großstädte der Niedergang der jüdischen Gemeinde. 1933 lebten nur noch etwa 25 Juden in Stolzenau, 1940 waren es noch 13.
1935 zwang eine Verordnung des Gemeinderates die noch in Stolzenau lebenden Juden zur Aufgabe ihrer Geschäfte.
In der Pogromnacht wurden sie Opfer von Übergriffen durch NSDAP-Mitglieder, die in ihre Wohnungen eindrangen. Die über 100 Jahre alte Synagoge war noch in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten, als sie am 9. November 1938 ausgeplündert und in Brand gesetzt wurde. Die Kultgegenstände wurden öffentlich auf dem Markplatz verbrannt. Einige Tage später sprengte man die Umfassungsmauern und beseitigte die Reste des Gebäudes. Das „Stolzenauer Wochenblatt“ schrieb darüber am 12. November 1938: „Mit dem Abbruch der Synagoge ist ein Schandfleck aus unserer Gemeinde verschwunden und es gibt keinen Volksgenossen, der nicht froh darüber wäre, dass dieser hässliche und artfremde Bau dem Erdboden gleich gemacht worden ist.“
Ein Eck- oder Grundstein des Synagogengebäudes muss aber wohl bei einem der Beteiligten solch großes Interesse geweckt haben, dass der massive Stein mit hebräischer Inschrift („Zur Ehre unseres Schöpfers und zum Wohl unserer Kinder errichtet im Jahr 5595“) über 40 Jahre lang aufbewahrt wurde. Erst als der frühere Stolzenauer Eric Lipman 1979 Stolzenau besuchte, wurde ihm der Stein vom damaligen Bürgermeister quasi „zurückgegeben“. Eric Lipman ließ ihn nach Richmond/Virginia transportieren, wo er inzwischen lebte, und widmete ihn seiner Gemeinde „Congregation Beth Ahabah“. Im dortigen Museum kann der Grundstein der Stolzenauer Synagoge seitdem besichtigt werden.

Eck- oder Grundstein der 1938 abgerissenen Synagoge in Stolzenau. Beth Ahabah Museum & Archives, Foto: Ute Müller
Von den 15 bei Kriegsbeginn 1939 noch in Stolzenau lebenden Juden wurden zwölf 1942 über Nienburg in das besetzte Polen deportiert und ermordet.
Erst 2013 wurde an dem Grundstück „Hinterm Dahle“, auf dem die Synagoge gestanden hatte, eine Gedenktafel angebracht. Im selben Jahr wurden erste Stolpersteine verlegt. Der jüdische Friedhof an der Schinnaer Landstraße ist samt einer kleinen Trauerhalle und mehr als 120 Grabsteinen erhalten geblieben.
Weiterführende Literatur und Links
Ulrich Knufinke: Verschleppte Steine – Spolien zerstörter Synagogen aus Niedersachsen. In: Keßler, Katrin; Brämer, Andreas; Knufinke, Ulrich; Rürup, Miriam: Wandernde Objekte des Jüdischen (= Jüdisches Kulturerbe Bd. 3, hrsg. vom Netzwerk jüdisches Kulturerbe), Braunschweig 2022, S. 93 – 107.
Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum: Stolzenau (Niedersachsen)
Autoren: Ute Müller, Jens-Christian Wagner
Göttingen
Vorgeschichte
In Göttingen gab es bereits im Jahr 1289 die erste Erwähnung einer jüdischen Gemeinde mit einem urkundlichen Verweis, in welchem die Göttinger Herzöge Wilhelm und Albrecht dem Stadtrat gestatten, „die Juden der Familie Moyse“ mit den geltenden Bürgerrechten auszustatten.
Die erste Synagoge, aus dem 14. Jahrhundert stammend, welche in der Jüdenstraße stand, wurde im Zuge des ersten Abbruchs jüdischen Lebens und der ersten Verfolgungswelle in Göttingen im Jahr 1350 zerstört. Anlass war der Vorwurf, jüdische „Brunnenvergifter“ seien für den Ausbruch der Pest verantwortlich. In der Mitte des 15. Jahrhunderts fand der zweite große Abbruch des jüdischen Lebens in Göttingen statt. Diesem fiel unter anderem die jüdische Schule in der Speckstraße zum Opfer. Jüdisches Leben in Göttingen begann nach diesem zweiten Abbruch, wohl auch durch den starken Antijudaismus des folgenden Jahrhunderts, erst wieder im 17. Jahrhundert zu erstarken, als einzelne Familien jüdischen Glaubens wieder nach Göttingen zogen.
Als im 18. Jahrhundert die Anzahl der Bürger*innen jüdischen Glaubens wieder anstieg (zwischenzeitlich war es nur noch einigen „Schutzjuden“ gestattet, in Göttingen zu wohnen), wurde eine Synagoge in einem Hinterhaus der Prinzenstraße eingerichtet. Nachdem diese Synagoge bereits 1867 als baufällig beschrieben wurde und zugleich durch die Gleichstellung der Bürger*innen jüdischen Glaubens im Königreich Hannover (1848) die Zahl an jüdischen Bürger*innen stetig wuchs, wurde 1869 eine neue Synagoge in der Maschstraße errichtet, die 1872 eingeweiht werden konnte. Da die jüdische Gemeinde im Jahr 1890 bereits 450 Gemeindemitglieder zählte, wurde bald eine Erweiterung der Synagoge veranlasst. Diese erweiterte Synagoge blieb bis zu den Novemberpogromen in ihrer Form erhalten.
Bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren antisemitisch geprägte Denkmuster in den Köpfen der Göttinger Bürgerschaft fest verankert. Vor dem Ersten Weltkrieg stellte der Antisemitismus jedoch noch keine akute Bedrohung für die soziale und geschäftliche Stellung der jüdischen Bürger*innen dar. Das änderte sich 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkrieges.
Die Anfeindungen fanden nun öffentlich statt, der „Verband zur Befreiung des Judenjochs“ gründete 1919 eine eigene Ortsgruppe in Göttingen und publizierte Aufrufe zum Boykott von Geschäften mit Besitzern jüdischen Glaubens. Zu dieser Zeit umfasste die jüdische Gemeinde fast 500 Personen. Gleichzeitig druckte das noch heute existierende Göttinger Tageblatt bereits zum Ende der Kaiserzeit antisemitische Artikel gegen Mitbürger*innen jüdischen Glaubens und rief zum Kampf gegen Juden auf.
Die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung Göttingens erfuhr bereits in den 1920er Jahren einen weiteren tiefen Einschnitt, als Mitglieder der NSDAP sowie die Schülerinnen einer Mädchenschule mit Flugblättern gezielt zum Boykott jüdischer Geschäfte aufriefen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten verstärkten sich diese Boykotte. Zudem verweigerte die Göttinger Universität Dozent*innen und Student*innen den Zutritt zur Bibliothek, sofern sie als „Juden“ bekannt waren. Jüdische Professoren wurden aus dem Amt gedrängt. Promotionen wurden aberkannt, sobald bekannt wurde, dass der oder die Betreffende eine Emigration plante.
Bereits 1933 fand eine Welle von Geschäftsaufgaben in der Göttinger Innenstadt statt, nachdem die NSDAP die jüdischen Besitzer der Geschäfte bedroht und an ihren Läden Hetzplakate angebracht hatte. 1935 hielt der fränkische Gauleiter und Herausgeber des „Stürmers“ Julius Streicher auf einer Kundgebung in Göttingen eine Rede über „Die Judenfrage im Allgemeinen (…)“. „Streicher war schlimm, schlimmer war das Volk…“, hielt der jüngere Bruder der bekannten Göttinger Autorin Hannah Vogt, die 1933 als Kommunistin verfolgt worden war, in seinem Tagebuch fest.
Bedingt durch den wachsenden Antisemitismus in Göttingen verließen ab 1933 die meisten Göttinger Juden ihre Heimat. Ein Teil flüchtete ins europäische Ausland, emigrierte in die Vereinigten Staaten oder floh in größere deutsche Städte, während nur wenige Bürger jüdischen Glaubens in Göttingen wohnhaft blieben. Bereits im Oktober 1938 löste der letzte Vorsteher der Gemeinde, Herrman Ostfeldt, die jüdische Gemeinde Göttingen auf und floh nach Palästina.
Bis 1938/39 verließen über 200 der 450 Göttinger Gemeindemitglieder die Stadt. Die verbliebenen 250 wurden von den Nationalsozialisten im Zuge der Shoa schließlich in Ghettos und Konzentrationslager deportiert. Die meisten von ihnen wurden ermordet.
Die Ereignisse im November 1938
Am späten Abend des 9. November 1938, gegen 23.00 Uhr, trafen sich im Sitzungssaal des Göttinger Rathauses der SS-Standartenführer Friedrich Steinbrink, der amtierende Oberbürgermeister Albert Gnade, der Leiter der Feuerwehr Wilhelm Rodenwald und die Leitung der Kriminalpolizei Göttingen, um zu beraten, wie die Göttinger Synagoge am besten anzuzünden sei.
Rodenwald eilte zwischenzeitlich zu seinem Haus, um seine privaten Benzinvorräte zur Synagoge zu bringen. Die Freiwillige Feuerwehr stand unter der Leitung von Hermann Grote bereit, um angrenzende Häuser vor dem Flammen zu schützen, als Mitglieder der SS die Synagoge an der Unteren Maschstraße am 10. November 1938 um ein Uhr nachts in Brand setzten.
Am Vormittag des 10. November 1938 wurden die Fassaden der Synagoge kontrolliert gesprengt, auch wenn die gesamte Synagoge und deren Inneneinrichtung bereits über Nacht ausgebrannt waren. Zahlreiche Schaulustige aus der Göttinger Bevölkerung begleiteten schließlich die endgültige Zerstörung und Sprengung der Synagoge.
Noch am 10. und am 11. November 1938 stürmten Mitglieder der SA und SS Geschäfte und Wohnungen jüdischer Familien, zerstörten deren Eigentum, misshandelten und verhafteten jüdische Familien und brachten sie in das örtliche Polizeigefängnis.
Angesichts der vielen Verhafteten war das Polizeigefängnis schnell überfüllt. Aus diesem Grund wurden einige Inhaftierte teilweise bereits nach kurzer Zeit wieder entlassen, um Platz zu schaffen. Manche Juden blieben jedoch noch bis ins Jahr 1939 dort inhaftiert.
Folgen
Die meisten Göttinger Juden wurden bereits im Zeitraum von Dezember 1938 bis spätestens Anfang Januar 1939 wieder aus dem Gefängnis entlassen. Eine Ausnahme bildeten die Brüder Max Raphael und Nathanel Hahn.
Deportationen in die Konzentrationslager, wie in vielen anderen Teilen Deutschlands, blieben allerdings aus. Die Historikerin Cordula Tollmien begründet diese Ausnahme mit der Abwesenheit des Göttinger Gestapo-Leiters Hans Eysels, welcher in der Pogromnacht außerhalb Göttingens war.
Von den circa 250 in Göttingen nach der Pogromnacht verbliebenen Juden konnten bis 1939 einige wenige ins Ausland fliehen. Einige weitere jüdische Frauen und Männer waren durch „Mischehen“ geschützt.
Die meisten Göttinger Juden wurden allerdings im Zuge von zwei Deportationen im Jahr 1942 verschleppt und ermordet. 79 Personen wurden am 1. April 1942 zuerst nach Hannover überführt, um von dort aus in Viehwaggons nach Warschau deportiert zu werden. Die zweite Deportation fand am 21. Juli 1942 statt und umfasste auch die 27 Bewohner des „Judenhauses“ an der Weender Landstraße.
Biografie - Familie Hahn
Max Raphael Hahn, geboren am 22. April 1880 als Sohn des Kaufmanns Raphael Hahn, verheiratet mit Gertrud Hahn, war zusammen mit seinem Bruder Nathanel Eigentümer der Göttinger „Fabrik Rohhäute- und Fellgroßhandlung Raphael Hahn Söhne OHG“ sowie der Schuhfabrik Gallus. Beide Eheleute waren in der jüdischen Gemeinde sehr angesehen, Hahns Frau engagierte sich in karikativer Form. Das Ehepaar hatte zwei Kinder, Rudolf (*1910) und Hanni (*1922).
Der prägende Antisemitismus, der in Göttingen vorherrschte, traf die Hahns bereits vor 1938 hart.
1935 verkaufte Raphael Hahn unter Druck der Nationalsozialisten Teile seiner privaten Besitztümer an das Museum Göttingen, seine Firmen wurden boykottiert und Kredite wurden von der Bank verweigert. Die Übergriffe gegen die Familie Hahn erreichten einen weiteren Höhepunkt, als die Fenster ihres Wohnhauses eingeworfen wurden und Mitglieder der SA vor der Villa Schmähungen wie „Max Hahn verrecke!“ riefen.
Im Zuge der Novemberpogrome 1938 drang die SS auch in die Villa der Hahns in der Merkelstraße 3 ein und nahm Max Hahn, seine Frau Gertrud und die Kinder in „Schutzhaft“. Der Familie des Brudes Nathanel Hahns geschah dasselbe.
Die Frauen und Kinder der Gebrüder Hahn werden noch 1938 aus der „Schutzhaft“ entlassen, während die Brüder bis zum 4. Juli 1939 in Haft verbleiben mussten. Schließlich zwangen Mitglieder der SA Max Hahn zum Verkauf seines Eigentums.
Die Kinder der Hahns emigrierten nach England. Die Eheleute Max und Gertrud Hahn flohen nach der Entlassung der Gebrüder Hahn nach Hamburg, beide wurden jedoch 1941 nach Riga deportiert und dort 1942 ermordet. Nathanel und Betty Hahn wurden 1942 über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und dort 1943 ermordet.
Biografie: Albert Gnade - Oberbürgermeister
Oberbürgermeister Albert Gnade (1886-1966) war einer der führenden NS-Funktionäre in Göttingen. Bereits seit 1922 Mitglied in der NSDAP, war er vor seiner politischen Karriere im Nationalsozialismus Betreiber eines Gasthauses in der Nähe von Göttingen. 1933 wurde er Polizeichef in Göttingen.
Bereits seit 1931 war Gnade Mitglied der SS. 1934 erhielt er den Rang des Standartenführers und wurde 1934 von Heinrich Himmler mit dem Totenkopfring ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde Gnade zum Bürgermeister und 1938 schließlich zum Oberbürgermeister der Stadt Göttingen ernannt.
Gnade, der als bekennender Nationalsozialist aktiv an den Pogromen und anderen Gräueltaten gegen die jüdische Bevölkerung teilnahm, wurde 1945 des Amtes enthoben und in den Entnazifizierungsverfahren zuerst als minderbelasteter Mitläufer, später als Begünstigter eingestuft, jedoch ohne für seine Vergehen oder seine privaten Bereicherungen jemals eine Strafe erhalten zu haben. Gnade beteiligte sich nach diesen Verfahren wieder aktiv in der rechtsextremen Szene Göttingens und war ab 1952 als Mitglied der rechtsextremen Deutschen Reichspartei Abgeordneter im Stadtrat Göttingen. Nach deren Verbot kandidierte er – wenn auch erfolglos – für andere rechtsextreme Parteien auch für den Bundestag.
Spuren und Gedenken
Einige jüdische Familien kehrten bereits nach 1945 wieder nach Göttingen zurück, so auch Gerda Buergenthal, die Tochter der Silbergleits, die ein Schuhgeschäft an der Groner Straße besessen hatten und enteignet, deportiert und ermordet worden waren. Sie lebte nach 1945 einige Jahre zusammen mit ihrem Sohn Thomas Buergenthal in Göttingen.
Die baulichen Reste der Göttinger Synagoge waren bereits in den späten 1930er Jahren gänzlich abgetragen worden. 1973 wurde an ihrem Standort zum Gedenken an die Opfer und die Geschehnisse der Pogromnacht eine Plastik als Mahnmal errichtet. Aufeinanderliegende Davidsterne bilden bis in sechs Meter Höhe eine symbolische Flamme. Unterhalb dieser Plastik ist ein offener Raum, an dessen Wänden die Namen der Opfer angebracht wurden, welche als Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Göttingen Opfer des nationalsozialistischen Terrors geworden sind und deportiert und ermordet wurden. Eine Gedenkstunde erinnert jedes Jahr am 9. November an diesem Ort an die Geschehnisse der Pogromnacht 1938.
Am Standort des ehemaligen „Judenhauses“ an der Weender Landstraße befindet sich heute ein Parkplatz der Universität Göttingen. Eine Informationstafel bietet Interessierten Auskunft über die frühere Nutzung des Grundstücks. Die Georg-August-Universität zu Göttingen gedenkt zusätzlich der Taten der Nationalsozialisten mithilfe einer Website, auf welcher die Taten und Entscheidungen, wie etwa der Ausschluss von Dozierenden jüdischer Herkunft in der NS-Zeit, kritisch beleuchtet und aufgearbeitet werden.
Seit 1994 existiert in Göttingen die wieder gegründete „Jüdische Gemeinde Göttingen e.V.“, die seit 2008 ihre Gottesdienste in der original erhaltenen Synagoge aus dem nahegelegen Bodenfelde abhält, die abgebaut und in Göttingen wiederaufgebaut wurde.
Die 2005 gegründete „Jüdische Kultusgemeinde für Göttingen und Südniedersachsen e.V.“ nutzte seit 2008 eine Wohnungssynagoge, die 2014 durch eine Kellersynagoge in einem arisierten jüdischen Gebäude in der Rote Straße 28 ersetzt wurde. Hier befindet sich auch die einzige Göttinger Mikwe.
Auf dem jüdischen Friedhof im heutigen Göttinger Stadtteil Geismar, der 1937 von den Nationalsozialisten aufgeschüttet und seiner Grabsteine beraubt wurde, steht seit den 1960er Jahren eine Gedenkstele. Eine weitere Form des Gedenkens bilden darüber hinaus die in Göttingen verlegten Stolpersteine.
Weiterführende Literatur und Links
Buergenthal, Thomas: Ein Glückskind. Wie ein kleiner Junge zwei Ghettos, Auschwitz und den Todesmarsch überlebte und ein neues Leben fand, Frankfurt/Main 2007.
Heinzel, Matthias: 1945 – Kriegsende in Göttingen. Zeitzeugen berichten, Göttingen 2005.
Kruppe, Michael: Häuserchronik der Stadt Göttingen, Göttingen 2012.
Obenaus, Sybille: Göttingen, in: Obenaus, Herbert u.a. (Hg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen., Band 1 und 2, Göttingen 2005.
Schaller, Berndt: Synagogen in Göttingen – Aufbrüche und Abbrüche jüdischen Lebens, Göttingen 2006.
Schwarz, Angelika: Von den Wohnstiften zu den „Judenhäusern“; in: Ebbinghaus, Angelika/Linne, Karsten (Hg.), Kein abgeschlossenes Kapitel: Hamburg im „Dritten Reich“; Hamburg 1997, S. 246.
Tollmien, Cordula: Nationalsozialismus in Göttingen 1933–1945, in: von Tadden, Rudolf/Trittel, Jürgen (Hg.): Göttingen – Die Geschichte einer Universitätsstadt. Bd.3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866 bis 1989, Göttingen 1999, S.127-273.
goest – Göttinger Stadtinfo: 9. November
Georg-August-Universität Göttingen: Die Universität im Nationalsozialismus
Autor_innen: Hendrik Torno und Tabea Gudd, Studierende der Leibniz Universität Hannover
Helmstedt
Nach der Vertreibung der Juden Ende des 15. Jahrhunderts durften sich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder Juden in Helmstedt ansiedeln. Eine erste Synagoge wurde bereits 1850 wieder aufgegeben. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zur Neugründung einer jüdischen Gemeinde; sie hatte bis 1933 Bestand.
Zwischen 1933 und 1939 sank die Zahl der in Helmstedt gemeldeten Juden von 24 auf sechs. Hintergrund war der starke wirtschaftliche Druck auf jüdische Geschäftseigentümer, ihre Betriebe zu „arisieren“.
In der Pogromnacht wurden die Schaufenster der wenigen noch verbliebenen jüdischen Geschäfte eingeschlagen, das Inventar wurde geplündert. Mit Josef Mindus wurde mindestens ein jüdischer Mann körperlich misshandelt; er wurde mit zwei weiteren Männern in das KZ Buchenwald deportiert. Nach dem Pogrom mussten alle noch in Helmstedt lebenden Juden ihre Geschäfte aufgeben. 1942 lebten noch drei Juden in Helmstedt; vermutlich wurden sie später ermordet.
Seit 1998 erinnert eine Gedenktafel im Helmstedter Rathaus an die örtlichen Opfer der Shoah. Seit 2011 wurden an verschiedenen Standorten 15 Stolpersteine verlegt.
Weiterführende Literatur und Links
Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum: Helmstedt (Niedersachsen)
Autor: Dr. Jens-Christian Wagner, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten
Braunschweig
Vorgeschichte
Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts (1282 erstmals urkundlich erwähnt) leben Juden in der Stadt Braunschweig. Rechtlich standen sie unter dem Schutz des Herzogs von Braunschweig und mussten dafür Schutzgeld entrichten. Die Juden lebten größtenteils in der Neustädter „Joddenstraße“ und wurden wirtschaftlich als Konkurrenz zu den in Braunschweig stark vertretenen handwerklichen Gilden wahrgenommen. Spätestens mit der Pest von 1350 griff der Antijudaismus um sich, die Juden wurden als „Brunnenvergifter“ verfolgt, Pogrome wurden verübt und ab 1435 die Kennzeichnung der Kleidung vorgeschrieben.
1546 kam es zur Vertreibung der Juden aus Braunschweig in Folge eines Ratsbeschlusses. Diese Vertreibung kann im Kontext der sich auch in Braunschweig vollziehenden Reformation gesehen werden, da sich bei diesen Entscheidungen auch auf die judenfeindlichen Schriften Martin Luthers bezogen wurde.
Die Neugründung der Gemeinde erfolgte 1707 um den sogenannten Hofjuden Alexander David aus Halberstadt. Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, gewährte den Juden zum Ende des 18. Jahrhunderts mehr Rechte, sodass die jüdische Gemeinde eine Synagoge im Hof des Hauses Kohlmarkt 12 einrichten konnte. 1797 wurde der Rat der Stadt vom Herzog zur Genehmigung eines jüdischen Friedhofs in der Stadt gedrängt. Am 23. September 1875 wurde die Synagoge in der Braunschweiger Altstadt eröffnet. Diese ersetzte die Synagoge am Kohlmarkt 12 und bestand bis zu ihrem Abriss 1940 als Folge der schweren Schäden vom November 1938.
- Synagoge Braunschweig, 1899. Quelle unbekannt
- Innenansicht der Synagoge, 1887. Quelle unbekannt
In Braunschweig bestand schon seit September 1930 eine Koalitionsregierung unter Beteiligung der NSDAP. Unter Innenminister Dietrich Klagges (NSDAP), der ab 1933 Ministerpräsident des Landes Braunschweig wurde, nahm die Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung zu. Schon am 11. März 1933 kam es in Braunschweig zum von der NS-Propaganda so genannten „Warenhaussturm“ – ähnlich dem reichsweiten „Judenboykott“ vom 1. April 1933. Bei den Übergriffen am 11. März wurden die Kaufhäuser Adolf Frank, Hamburger&Littauer und Karstadt stark beschädigt. Diese wurden in den Folgejahren „arisiert“. Bemerkenswert ist, dass es der Inhaberfamilie Forstenzer/Frank gelang, das Kaufhaus Adolf Frank bis August 1938 zu betreiben.
Die jüdische Gemeinde umfasste bei der Volkszählung im März 1933 noch 682 Juden. Für die Nationalsozialisten galten jedoch 1150 Personen als „Glaubens-“ und „Rassejuden“. Dies schloss unter Anderem zum Christentum konvertierte Juden mit ein. Bis zum Mai 1939 nahm die Zahl der von den Nazis als Juden gezählten Menschen durch Ab- und Auswanderung, Vertreibung und Deportation auf 226 Personen ab.
Die Ereignisse im November 1938
Vom 12. bis 20. März 1938 erschien eine Artikelserie in der Braunschweiger Tageszeitung, dem NSDAP-Parteiblatt im Braunschweiger Land, mit dem Titel „700 Jahre Juden in Braunschweig“. Dies war nicht die erste antijüdische Kampagne. Sie war Ausdruck der antisemitischen Grundstimmung und Propaganda und heizte die Stimmung gegen die Juden weiter auf. Die erste Massenverhaftung von Juden im Braunschweiger Land fand am 28. Oktober im Rahmen der „Polenaktion“ statt: insgesamt 74 Bürger, davon 69 aus der Stadt Braunschweig und 11 Kinder unter 15 Jahren wurden verhaftet und mit einem Transport nach Neu-Bentschen an die polnische Grenze verbracht.
Am 8. November erschien in der Braunschweiger Lokalpresse ein Bericht über das Pariser Grynszpan-Attentat, der die nationalsozialistische Erzählung wiedergab. Am 9. November 1938 versammelten sich die Nationalsozialisten, vor allem SS und SA, auf dem „Franzschen Feld“ (auch SA-Feld genannt), einer NS-Weihestätte unterhalb des Nussberges, um dem Hitlerputsch von 1923 zu gedenken. Danach ging man zum Feiern in die Kneipen und Wirtshäuser der Stadt.
Friedrich Jeckeln, Polizei- und SS-Führer im SS-Oberabschnitt Mitte, der auch das Braunschweiger Land umfasste, befand sich auf dem Weg nach Hannover, um dort die Zerstörung der Synagoge zu überwachen. In Braunschweig tat Dr. jur. Otto Diederichs, Oberregierungsrat im Innenministerium, seinen Dienst und veranlasste in Absprache mit dem Ministerpräsidenten Dietrich Klagges die Postierung von Schutzpolizisten vor jüdischen Geschäften, sodass SS und SA erkennen konnten, wo diese waren. Für Jeckeln kamen die Schreiben aus der Gestapo-Zentrale in Berlin zu spät. Er hatte schon vorher in vorauseilendem Gehorsam die Zerstörung der Synagogen angeordnet.
Im weiteren Verlauf der Nacht wurden die wenigen noch nicht „arisierten“ jüdischen Geschäfte sowie zahlreiche Privatwohnungen (beispielsweise die der Familie Forstenzer) verwüstet. Zusätzlich wurden in der Nacht und am Folgetag im Land Braunschweig 149 Juden verhaftet, davon 71 aus der Stadt Braunschweig. Diese wurden in das KZ Buchenwald gebracht und dort bis mindestens Dezember 1938, teils auch noch länger, festgehalten.
Auch die Synagoge in der Alten Knochenhauerstraße wurde zerstört, die Inneneinrichtung zertrümmert und das Gebäude teilweise gesprengt. Eine marmorne Erinnerungstafel, die der im Ersten Weltkrieg für das Deutsche Kaiserreich gefallenen Braunschweiger Juden gedachte, wurde ebenfalls zerschmettert. Es gibt nicht viele Zeugenaussagen zur Zerstörung der Synagoge, doch diesen wenigen zufolge wurden auch die Thorarollen und das hölzerne Gestühl auf dem nicht weit entfernten Eiermarkt verbrannt. Die in den umgebenden Fachwerkhäusern wohnende Bevölkerung sorgte sich um ein Ausbreiten des Feuers und verhinderte so, ganz auf den Eigenschutz bedacht, die weitere Inbrandsetzung der Trümmer durch SA und SS. Es liegt nahe, dass sich unter den Angreifern auch Teilnehmer der SS-Lehrgänge der SS-Junkerschule befanden. Diese befand sich seit 1935 im Braunschweiger Residenzschloss mitten in der Innenstadt.
- NS-Gautreffen mit Adolf Hitler vor dem Residenzschloss, 1931 (ab 1935 SS-Junkerschule). Bundesarchiv Berlin
Folgen
Die zerstörte Synagoge wurde 1940 zusammen mit dem angrenzenden unzerstörten Gemeindehaus und dem Gesamtgrundstück der jüdischen Gemeinde von der Stadt Braunschweig für 1200 RM abgekauft und dann abgetragen (das unzerstörte Gemeindehaus steht noch heute). Ein Teilgrundstück wurde 1943 für 13.200 RM an das Reich verkauft. Auf dem Gelände der zerstörten Synagoge wurde ein Luftschutzbunker errichtet, der bis heute an dieser Stelle steht (in den 1980ern wurde der Bunker nach einer Instandsetzung wieder als Zivilschutzbunker genutzt).
Im Dezember 1938 wurden die meisten der in das KZ Buchenwald gebrachten Juden, soweit sie nicht gestorben waren, unter der Auflage freigelassen, umgehend zu emigrieren und ihre Geschäfte aufzugeben. Nicht wenige blieben jedoch weiterhin in Buchenwald. In einem Bericht des Innenministeriums an Ministerpräsident Dietrich Klagges vom 15. Dezember 1938 heißt es:
„Anlässlich der Judenaktion vom 9. und 10. November d.Js. sind von der Staatspolizeistelle Braunschweig 149 Juden festgenommen, die fast sämtlich einem Konzentrationslager zugeführt worden sind. Gestorben bzw. zur Entlassung gekommen sind 106 Juden, so dass z. Zt. sich noch 43 Juden im Konzentrationslager befinden; (…) Von den anlässlich der Judenaktion festgenommenen Juden beabsichtigen 29 Juden auszuwandern (…). Ich habe wiederholt feststellen können, dass der Wille zur Geschäftsaufgabe oder auch zur Auswanderung bei den hiesigen Juden verhältnismäßig groß ist.“ (Niedersächsisches Landesarchiv-Standort Wolfenbüttel 12 A Neu 13, Nr. 16059).
Justizielle Ahndung
Nach 1945 gab es im Rahmen diverser Entnazifizierungsprozesse einige Spruchkammerverfahren und Gerichtsprozesse gegen bekannte Täter im Braunschweiger Raum, die auch an den Novemberpogromen 1938 beteiligt waren. So standen beispielsweise Dietrich Klagges und Dr. jur. Otto Diederichs als NS-Verbrecher vor Gericht. In keinem der Verfahren spielten jedoch die Ereignisse im November 1938 eine Rolle. So gibt es keine Aktenüberlieferung aus der Stadt Braunschweig über Ermittlungen oder Gerichtsverfahren, die explizit im Zusammenhang mit den Novemberpogromen 1938 stehen. In angrenzenden Landkreisen und Gemeinden wie beispielsweise in Peine oder Bad Harzburg ist dies mitunter anders.
Biografien - Familie Baron
Friederike Baron, geborene Eisner (1866 in Wielun/Polen geboren) war mit dem Kaufmann Isidor Baron (1859 ebenfalls in Polen geboren) seit 1881 verheiratet. Sie hatten vier Töchter, Amalie (geboren 1882 in Wielun/Polen), Luise (geboren 1883 in Wielun/Polen), Bertha (Geburtsdaten unbekannt), verheiratete Weglein, und Gertrud (geboren 1897 in Braunschweig), verheiratete Gruenberg. 1892 zogen Friederike und Isidor nach Braunschweig. Während des ersten Weltkrieges unterlagen sie der Meldepflicht als „feindliche Ausländer“. Erst 1928 erfolgte die Einbürgerung der Familie Baron. Doch die Nationalsozialisten widerriefen im Juli 1933 alle erst nach 1918 erfolgten Einbürgerungen, was die Familie Baron staatenlos werden ließ (somit waren sie von der sogenannten „Polenaktion“ im Oktober 1938 nicht betroffen, denn Staatenlose waren von der Ausweisung polnischer Juden ausgenommen).
Friederike war gelernte Schneiderin, führte jedoch seit 1900 das einzige jüdische Restaurant Braunschweigs, zuletzt in der Steinstraße 2, gleichzeitig Wohnhaus der Familie Baron und in Nachbarschaft zur Braunschweiger Synagoge. Amalie und Luise halfen ihr beim Betrieb des Lokals, das Treffpunkt der jüdischen Leopold-Zunz-Loge war. Nach dem Tod der Mutter 1936 führten die Töchter das Restaurant weiter. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde das Restaurant von der SS zerstört und die Einrichtung sowie das Porzellan zerschlagen. Amalie Baron wurde, als sie sich Berichten zufolge den 25 bis 30 SS-Männern in den Weg stellte, so stark verletzt, dass ihr im Krankenhaus der rechte Arm amputiert werden musste.
Amalie und Luise wurden am 31. März 1942 ins Warschauer Ghetto deportiert und kamen dort oder in einem Konzentrationslager um. Sie wurden mit Datum des 8. Mai 1945 (Kriegsende) für tot erklärt. Die vierte Tochter, Gertrud, war in Braunschweig als Einkäuferin tätig. Ihr gelang im Mai 1939 die Emigration über Antwerpen in die USA.
Isidor Baron verstarb 1941 noch in Braunschweig. Zu dieser Zeit wohnte die Familie Baron bereits nicht mehr in der Steinstraße, sondern in einem „Judenhaus“ in der Ferdinandstraße 9, da sie nach der Geschäftsaufgabe nach den Novemberpogromen kein Einkommen mehr hatten und die Miete nicht mehr zahlen konnten. Wie aus einem Brief der Eigentümer, der Lagerhausgesellschaft Gerloff, hervorgeht, nutzte die Gestapo das Haus in der Steinstraße 2 als Büroräume, nachdem die Barons gezwungen waren, in das Judenhaus umzuziehen.
Das Haus Steinstraße 2 brannte im Zweiten Weltkrieg aus und wurde 1958 abgerissen. Heute steht dort ein Parkhaus. Seit einigen Jahren erinnern Stolpersteine an die Familie Baron. Das Ehepaar Friederike und Isidor Baron ist auf dem jüdischen Friedhof in Braunschweig begraben.
Biografien - Ehepaar Forstenzer
Gustav-Elias Forstenzer (geboren 1888 in Berlin) war mit Lucie-Sara Forstenzer, geborene Frank, Tochter des Braunschweiger Kaufhausbesitzers Adolf Frank, verheiratet. Forstenzer war Kaufmann, Handelsrichter und Präsident der jüdischen Leoplold-Zunz-Loge sowie im Vorstand der jüdischen Gemeinde Braunschweig. Der erste Sohn Claus Forstenzer kam 1919 zur Welt, die Zwillingsbrüder Martin und Peter folgten 1921. Die Familie Forstenzer wohnte in der Lützowstraße 6. Auch Gustav-Elias Forstenzer wurde 1933 aufgrund der Reichsverordnung die Staatsbürgerschaft wieder entzogen, da seine Eltern aus Galizien kamen und er erst 1921 die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatte, trotz Geburt in Berlin.
Nachdem der Schwiegervater und Kaufmann Adolf Frank verstorben war, übernahm Gustav zusammen mit seinem Schwager Herbert Frank das Kaufhaus Adolf Frank in der Schuhstraße 24-28. Dieses konnten sie erstaunlich lange führen, bis es im August 1938 an den Kaufmann Karl Stöber verkauft und damit „arisiert“ wurde.
In der Pogromnacht wurden Gustav-Elias Forstenzer und die beiden Zwillingssöhne Martin und Peter von zwei SS-Männern verhaftet und in das KZ Buchenwald eingewiesen. Dort wurden sie bis Anfang Dezember 1938 festgehalten. Die Wohnung in der Lützowstraße 6 wurde von SA-Männern nach der Verhaftung zerstört. Am 9. Dezember 1938 gelang der Familie Forstenzer die Emigration in die USA. Diese war Auflage für die Entlassung aus dem KZ Buchenwald gewesen.

Stolperstein für Gustav-Elias Forstenzer. Foto: Wikipedia-Nutzer Brunswyk https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Brunswyk
Dietrich Klagges, Ministerpräsident des Landes Braunschweig von 1933 bis 1945
Als nationalsozialistischer Ministerpräsident des Landes Braunschweig von 1933 bis 1945 und als Lehrer und völkischer Ideologe war Klagges eine Schlüsselfigur für die NS-Herrschaft im Braunschweiger Land. Klagges nahm als Kriegsfreiwilliger am 1. Weltkrieg teil und wurde 1915 schwer verwundet. Nach langem Krankenhausaufenthalt, den er zur politischen Lektüre nutzte, wurde Klagges 1916 aus dem Militärdienst entlassen.1918 trat er in Schleswig-Holstein (wo Klagges zu der Zeit als Lehrer tätig war) in die DNVP ein und wechselte nach einer Reichstagskandidatur auf Platz drei für die DFP (Deutschvölkische Freiheitspartei) 1925 in die NSDAP. Schon vor seinem Wechsel publizierte er völkisch-rassistische und antimarxistische Texte.
Nach erfolgreicher Bewerbung auf eine Konrektorenstelle in Benneckenstein (Harz) war er von 1928 bis 1930 Ortsgruppenleiter der NSDAP. Nachdem er am 15. September 1931 zum Volksbildungs- und Innenminister in Braunschweig ernannt worden war, half er, die NS-Herrschaft im Braunschweiger Land, die zweite (nach der thüringischen Baum-Frick-Regierung) Landesregierung unter Beteiligung der NSDAP, aufzubauen. Er war einer der wenigen NS-Funktionäre, die schon vor 1933 ihre Ideen praktisch umsetzen konnten. Unter anderem verschaffte er dem damals staatenlosen Adolf Hitler die deutsche Staatsbürgerschaft, indem er ihn als Referenten anstellte.
Braunschweig wurde so schon früh zur „NS-Musterstadt“. In den 1930er Jahren machte sich Klagges einen Namen mit seinem Werk „Geschichtsunterricht als nationalpolitische Erziehung“ und wurde führender Geschichtsdidaktiker des Nationalsozialismus. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 wurde er Ministerpräsident des Landes Braunschweig. Zeitweise war er auch als Gauleiter für den NS-Gau Südhannover-Braunschweig im Gespräch. Er blieb jedoch bis 1945 Ministerpräsident und tat sich vor allem in den Bereichen Gewinnung kriegswichtiger Rohstoffe sowie nationalsozialistischer Bildungspolitik auch reichsweit hervor. Klagges selbst sah sich als Sozial- und Wirtschaftspolitiker in der NSDAP.
Schon vor 1933 beantragte er beim Reichsinnenministerium die Einrichtung einer braunschweigischen „Hilfspolizei“, die jedoch erst nach der Machtübergabe von Göring zugelassen und aus SS- und SA-Einheiten zusammengestellt wurde. Klagges berief 1933 weiterhin Friedrich Jeckeln, der für seine Brutalität bekannt war, als Chef der Landespolizei und schuf so die Voraussetzungen für die Ereignisse im November 1938. Bei den Novemberpogromen war es auch Klagges als oberster Dienstherr der Braunschweiger Behörden, der als nationalsozialistischer Entscheider im Hintergrund zu den Verfolgungsaktionen gegen Juden maßgeblich beitrug.
Am 12. April 1945 wurde Klagges von amerikanischen Truppen verhaftet. Aufgrund seiner Zugehörigkeit zur SS wurde er von einem amerikanischen Militär-Spruchgericht zu sechs Jahren Haft verurteilt. 1950 verurteilte ihn das Braunschweiger Landgericht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslangen Haftstrafe. In einem Revisionsverfahren wurde dieses Urteil jedoch in 15 Jahre Zuchthaus umgewandelt. Schon 1957 wurde Klagges jedoch aus der Haft entlassen und lebte bis zu seinem Tod 1971 in Bad Harzburg. Er blieb der NS-Ideologie bis zu seinem Tode treu und war einer der wenigen, die entsprechende Schriften auch noch zu bundesrepublikanischen Zeiten erfolgreich publizierten.
Otto Diederichs, Oberregierungsrat
Otto Diederichs kam als „Buchhalter und Administrator“ der politischen Verfolgung im Land Braunschweig ebenfalls eine wichtige Bedeutung zu. Er wurde am 17. April 1904 in Danndorf, Kreis Helmstedt geboren und machte Abitur. Nach dem Jurastudium promovierte Diederichs 1930 in Jena und legte die große juristische Staatsprüfung am Oberlandesgericht Braunschweig ein Jahr später ab. Der spätere braunschweigische Justizminister Friedrich Alpers riet Diederichs, in die NSDAP einzutreten, da dies der Karriere förderlich sein könne. Dieser Empfehlung folgte Diederichs 1932 und trat auch der SA bei. Er wurde sodann am 1. Februar 1932 als Regierungsassessor bei der Kreisdirektion Braunschweig-Land eingestellt und war schon dort mit Polizeiangelegenheiten befasst.
Nachdem Dietrich Klagges 1933 das Landespolizeiamt eingerichtet hatte, dessen Chef Friedrich Jeckeln wurde, wurde Diederichs im September von Jeckeln zum Hilfsreferenten berufen. Daraufhin trat Diederichs auf Anraten Jeckelns auch der SS bei. 1934 wurde Diederichs von Klagges zum Regierungsrat befördert und in der neu eingerichteten politischen Polizei, dessen Leiter Jeckeln wurde, zu dessen Stellvertreter ernannt. In den ersten beiden Jahren des Bestehens des Landespolizeiamtes war Diederichs der einzige Jurist in der Behörde. Ihm kam damit eine gewichtige Funktion zwischen Politik und Behörden zu. Beispielsweise entwarf er das „Gesetz über die braunschweigische Politische Polizei“ sowie weitere Erlasse, Anordnungen und Verfügungen.
1937 wurde er zum Oberregierungsrat befördert und war bis zu seinem Eintritt in die Wehrmacht als Polizeiverwaltungsjurist beschäftigt. In diesen Funktionen ordnete Diederichs schon seit seinem Wechsel ins Innenministerium 1933 „Schutzhaftmaßnahmen“ an. Er war, als stellvertretender Chef der politischen Polizei und als Oberregierungsrat, die für das Land Braunschweig zuständige zentrale Stelle in „Schutzhaftangelegenheiten“ und setzte Anordnungen der Reichsbehörden um. Ab dem Frühjahr 1935 wurden hier außerdem die Transporte in Konzentrationslager koordiniert. Diederichs selbst verhandelte mit dem preußischen Innenministerium über die Unterbringung braunschweigischer „Schutzhäftlinge“ in preußischen Konzentrationslagern.
Am 9. November 1938 war Diederich im Dienstgebäude des Oberabschnitts der SS, dem ehemaligen braunschweigischen Landtagsgebäude. Er veranlasste in Absprache mit Klagges die Postierung von Schutzpolizisten vor jüdischen Geschäften, sodass SS und SA erkennen konnten, wo die Geschäfte waren. Außerdem instruierte er die Polizei im Braunschweiger Land zur Zurückhaltung, um SS und SA nicht im Wege zu stehen. Bei Diederichs liefen in dieser Nacht die Fäden zusammen. Er koordinierte die Einsätze der Polizei im Land Braunschweig und ordnete Verhaftungen an.
1940 meldete er sich zur Wehrmacht, doch nach nur einem Jahr schied er dort aus, da er vom Reichsinnenminister als „unabkömmlich“ bezeichnet wurde. Noch 1941 wurde er zum Regierungsdirektor befördert. Danach wurde er ab 1942 Chef und Befehlshaber der Ordnungspolizei „Ostland“ in Riga und folgte somit seinem früheren Chef Jeckeln, der schon seit 1941 dort Chef der Polizei und SS war. Bis 1943 tat er unter Jeckeln in Riga seinen Dienst und wirkte so vermutlich an der Liquidierung des Rigaer Ghettos mit. 1943 wurde er zum Ministerialrat befördert und im Dezember in das Hauptamt Ordnungspolizei im Reichsinnenministerium beordert. Dort blieb er bis zum Kriegsende und wurde, im Rang eines SS-Oberführers (vergleichbar mit einem Oberst der Wehrmacht), von amerikanischen Truppen verhaftet.
Besonders interessant am Beispiel Otto Diederichs ist der unterschiedliche Umgang mit Schreibtischtätern in der Nachkriegszeit: So bezeichnete ihn 1949 das Spruchgericht Bielefeld als „Funktionsträger des Unrechtsregimes“ und verurteilte ihn aufgrund seiner Mitgliedschaft in der SS. Vor dem Spruchgericht stritt er jede Beteiligung an NS-Verbrechen, auch an den Novemberpogromen ab und versuchte sich als einfacher Verwaltungsjurist darzustellen. Diesen Darstellungen folgte das Spruchgericht jedoch nicht.
Ein halbes Jahr später wurde er jedoch in einem Braunschweiger Entnazifizierungsverfahren als „korrekter Verwaltungsbeamter“ bezeichnet. Diese unterschiedlichen Ausgänge der beiden Verfahren sind damit zu begründen, dass im Verfahren vor dem Entnazifizierungshauptausschuss Braunschweig in der gut zweistündigen Anhörung vor allem Entlastungszeugen gehört wurden. So gelang es Diederichs beispielsweise, seine SS-Mitgliedschaft als „lose“ und unbedeutend darzustellen.
Die erste Hauptverhandlung vor dem Landgericht Braunschweig gegen Diederichs wurde 1951 abgelehnt. Nachdem die Staatsanwaltschaft Widerspruch eingelegt hatte, fand 1953 die Hauptverhandlung gegen Diederichs vor dem Landgericht Braunschweig statt. Er wurde wegen „Beihilfe zur erschwerten Freiheitsberaubung im Amt“ in acht Fällen (die Staatsanwaltschaft ging im Schlussplädoyer von 24 Fällen aus) zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Auf Grundlage des Straffreiheitsgesetzes von 1949 sowie nach gescheiterter Revision Diederichs und der Staatsanwaltschaft vor dem Bundesgerichtshof wurde das Verfahren beendet. Es ist anzunehmen, jedoch nicht belegbar, dass Diederichs beim Bundesinnenministerium (BMI) wieder Anstellung fand, da es Korrespondenz zwischen dem BMI und dem Landgericht Braunschweig bezüglich eines Disziplinarverfahrens gibt.
Spuren und Gedenken
Am 16. November 1958 wurde auf dem jüdischen Friedhof an der Helmstedter Straße ein Gedenkstein für die Opfer der Jüdischen Gemeinde unter der nationalsozialistischen Herrschaft enthüllt. 1966 wurde der Band „Brunsvicensia Judaica“ herausgegeben. Dieser war als Gedenkbuch an die Braunschweiger Jüdinnen und Juden von 1933 bis 1945 gedacht und von der Stadt in Auftrag gegeben worden. 1976 erfolgte die Anbringung einer Gedenktafel am Luftschutzbunker, dem Standort der ehemaligen „Neuen Synagoge“, die bei den Novemberpogromen zerstört wurde.
- Gedenktafel am Luftschutzbunker am ehemaligen Standort der Synagoge in Braunschweig, 2018. Foto: Liam Harrold
- Infotafeln am ehemaligen jüdischen Gemeindehaus in der Steinstraße/Alte Knochenhauerstraße, 2018. Foto: Liam Harrold
- Das alte jüdische Gemeindehaus in der Steinstraße/Alte Knochenhauerstraße, das nach den Novemberpogromen nicht abgebrochen wurde, 2018. Foto: Liam Harrold
1985 gründete sich der „Arbeitskreis Andere Geschichte e.V.“ als „Die Braunschweiger Geschichtswerkstatt“, die seit Mai 2000 auch im städtischen Auftrag die Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße betreut und Veranstaltungen zur Braunschweiger Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts organisiert. Seit 2001 hat die Stadt ein „Konzept zur Planung, Errichtung und Gestaltung städtischer Erinnerungsstätten zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“, welches seit 1998 erarbeitet wurde.
2005 gründete sich der Verein „Stolpersteine für Braunschweig Förderverein e.V.“. Am 9. März 2006 wurden die ersten elf „Stolpersteine“ in Braunschweig verlegt. Inzwischen sind es weit über 300 Stolpersteine im Stadtgebiet Braunschweig.
Schon 1945 wurde sich um die Neugründung der jüdischen Gemeinde in Braunschweig bemüht. Seit 1983 besitzt die Gemeinde rechtliche Eigenständigkeit. Am 6. Dezember 2006 wurde die neue Braunschweiger Synagoge eingeweiht. Jährlich wird der Yom HaShoah, der Tag des Gedenkens an die Shoah begangen.
Weiterführende Literatur und Links
Ebeling, Hans-Heinrich, Die Juden in Braunschweig. Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von den Anfängen der Jüdischen Gemeinde bis zur Emanzipation (1282-1848), Braunschweig 1987.
Bein, Reinhard, Ewiges Haus, Braunschweig 2004.
Ders., Sie lebten in Braunschweig. Biografische Notizen zu den in Braunschweig bestatteten Juden (1797 bis 1983), Braunschweig 2009.
Ders., Zeitzeichen. Stadt und Land Braunschweig 1930–1945, Braunschweig 2006.
Bilzer, Bert / Moderhack, Richard, Brunsvicensia Judaica – Gedenkbuch für die jüdischen Mitbürger der Stadt Braunschweig 1933–1945 (Braunschweiger Werkstücke 35), Braunschweig 1966.
Erhardt, Frank, Täter, Opfer, Nutznießer. Beiträge zur Geschichte Braunschweigs im Nationalsozialismus, Band II, Braunschweig 2016.
Kuessner, Dietrich, Pogromnacht im Braunschweiger Land, in: Volkshochschule Salzgitter u.a. (Hrsg.): Vom Antisemitismus zur Reichspogromnacht, Salzgitter, ohne Jahr (vermutl. 1980er).
Sohn, Werner, Im Spiegel der Nachkriegsprozesse: Die Errichtung der NS-Herrschaft im Freistaat Braunschweig, Braunschweig 2003.
Stadt Braunschweig, Kulturinstitut, Konzept zur Planung, Errichtung und Gestaltung städtischer Erinnerungsstätten zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, Braunschweig 2001.
Arbeitskreis Andere Geschichte e.V. Die Braunschweiger Geschichtswerkstatt
Förderverein Stolpersteine für Braunschweig
Parr, Thomas, Vor 75 Jahren brannten im Land Braunschweig die Synagogen, Braunschweiger Zeitung vom 8.11.2013
Autor: Liam Harrold, Student an der Leibniz Universität Hannover
Sögel
In Sögel sind seit Ende des 18. Jahrhunderts Juden nachweisbar. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts handelte es sich um etwa 50 Personen, die vor allem als Vieh- und Pferdehändler sowie Schlachter ihren Lebensunterhalt verdienten. Als 1840 der Bau einer Synagoge abgeschlossen werden konnte, wurden der Synagogengemeinde die Orte Lathen und Werlte angeschlossen. In Lathen wurde 1931 eine eigene Synagoge eingeweiht.
Am Morgen des 10.November 1938 kam es auch in Sögel und Lathen zu Ausschreitungen. Die jüdischen Bürger in Lathen hatten sich gerade zu einem Sterbegottesdienst in der Synagoge versammelt, als ein SA-Trupp das Gebäude stürmte, die Menschen hinausdrängte und den Bau in Brand setzte. Die Ruine wurde später abgerissen. Der SA-Trupp fuhr nach der Brandstiftung in Lathen weiter nach Sögel, um hier ebenfalls die Synagoge in Brand zu stecken. Auch dieses Gebäude brannte völlig nieder. Anschließend wurde der Betraum in Werlte demoliert, das Inventar herausgeschleppt und öffentlich verbrannt. Die jüdischen Männer wurden verhaftet und nach Meppen gebracht. Einige von ihnen wurden über Osnabrück in das KZ Sachsenhausen überstellt.
Bei den Deportationen ab Mitte Dezember 1941 wurden auch 65 Angehörige der Synagogengemeinde Sögel erfasst, die über Bielefeld in das Ghetto Riga gebracht wurden. Nur zwei von ihnen überlebten. In einem weiteren Transport Ende Juli 1942 wurden 25 Juden aus Sögel nach Theresienstadt deportiert.
Weitere Informationen
Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum: Sögel – Lathen (Niedersachsen)
Dr. Jens Binner, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten
Quakenbrück
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts lebten in Quakenbrück jüdische Familien. Überwiegend verdienten sie ihren Lebensunterhalt mit dem Viehhandel. Die kleine Gemeinde gehörte zunächst zur Synagogengemeinde im benachbarten Badbergen, die jedoch in den 1890er Jahren nach Quakenbrück verlegt wurde. Seit 1897 gab es in der Kreuzstraße eine kleine Synagoge samt Schulraum und Kantorswohnung. Mitte der 1920er Jahre wurde am Steimelager Weg ein Friedhof angelegt.
1932 zählte die Synagogengemeinde über 70, 1939 nur noch 15 Mitglieder. Mit dem zunehmenden wirtschaftlichen Druck auf die jüdische Bevölkerung begann Mitte der 1930er Jahre deren Abwanderung in größere Städte oder ins Ausland.
In der Pogromnacht schleppten SA-Angehörige Ritualgegenstände und die Thora-Rolle aus der Synagoge und verbrannten sie vor den Augen einer aufgeputschten Menschenmenge. Anschließend brannten sie das Synagogengebäude nieder. Die jüdischen Männer wurden durch die Stadt getrieben und zunächst ins Rathaus, dann ins Amtsgefängnis gebracht. Von dort wurden vier Männer in das KZ Buchenwald deportiert, einer von ihnen kam dort um.
Bis zum Frühjahr 1939 waren alle Geschäfte jüdischer Eigentümer „arisiert“. Die noch in der Stadt verbliebenen Juden mussten in ein „Judenhaus“ in der Hasestraße ziehen. Am 12. März 1941 meldete die Stadt an die Gestapo: „Hier sind keine Juden mehr.”
Nach 1945 wurden fünf am Novemberpogrom in Quakenbrück beteiligte Personen zu geringen Freiheitsstrafen verurteilt, eine Person wurde freigesprochen.
Seit 1983 erinnert an der Ecke Kreuzstraße/Friedrich-Ebert-Straße eine Gedenktafel an die frühere jüdische Gemeinde. Am 9. November 2016 wurde am Standort der ehemaligen Synagoge ein Gedenkplatz eingeweiht, in dessen Pflasterung ein Davidstern eingelassen ist. Zudem wurden seit 2011 insgesamt 40 Stolpersteine verlegt.
Weiterführende Literatur und Links
Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum: Quakenbrück (Niedersachsen)
Autor: Dr. Jens-Christian Wagner, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten
Rotenburg (Wümme)
In Rotenburg bestand von Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1933 eine kleine jüdische Gemeinde. Nur eine Familie (die Cohns) lebte danach noch in Rotenburg. Das Textilwarengeschäft von Hermann Cohn musste bereits 1934 Konkurs anmelden. Gertrud und Hermann Cohn wurden in der Pogromnacht verhaftet und gingen nach ihrer Freilassung nach Berlin. 1939 emigrierten die Töchter ins Ausland. Die Eltern wurden 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Seit 2010 erinnert die nahe dem ehemaligen Standort wiederaufgebaute Cohn-Scheune an die ehemalige jüdische Gemeinde. 2005 wurden erste Stolpersteine verlegt.
Weiterführende Literatur und Links
Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum: Rotenburg (Wümme)
Cohn-Scheune Rotenburg/Wümme: Jüdisches Museum und Kulturwerkstatt
Autor: Dr. Jens-Christian Wagner, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten
Seesen
Seit spätestens Ende des 17. Jahrhunderts lebten in Seesen jüdische Familien. 1801 wurde in Seesen die „Jacobsonschule“ gegründet, in der jüdische Jungen handwerklich und in der Landwirtschaft ausgebildet wurden. Später entwickelte sich daraus ein staatlich anerkanntes Gymnasium mit zweitweise 300 Schülerinnen und Schülern. Seit 1810 stand auf dem Schulhof mit dem „Jacobstempel“ eine Synagoge. Etwa zur selben Zeit wurde in der Dehnestraße ein jüdischer Friedhof angelegt.
1933 zählte die jüdische Gemeinde 40 Mitglieder, 1939 waren es nur noch zwei. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Synagoge niedergebrannt. Die nationalsozialistischen Behörden bezichtigten den Synagogendiener Siegfried Nußbaum, das Feuer gelegt zu haben. Bei seiner Festnahme wurde er angeschossen; er starb wenige Tage später an seinen Verletzungen. Auch das Kaufhaus „Bloch & Bremer“ wurde niedergebrannt. Zudem drangen SS-Angehörige in die Wohnungen jüdischer Familien ein. Drei Männer wurden verhaftet.
Im Sommer 1939 hielten sich in Seesen keine Juden mehr auf. Insgesamt fielen der Soah mindestens 22 Seesener Jüdinnen und Juden sowie ca. 250 ehemalige Schülerinnen und Schüler der „Jacobsonschule“ zum Opfer.
In der Jacobsonstraße erinnert seit 1946 ein (gestalterisch an das jüdische Mahnmal in der Gedenkstätte Bergen-Belsen angelehnter) Gedenkstein an die ehemalige Synagoge; er trägt die Inschrift:
Hier stand die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Seesen,
welche am 9.11.1938 frevelhaft zerstört wurde.
Haben wir nicht alle einen Vater – Hat nicht ein Gott uns geschaffen?
Der jüdische Friedhof an der Dehnestraße ist mit rund 100 Grabsteinen erhalten geblieben. 2006 wurden erste Stolpersteine in der Langen Straße verlegt. Am Jacobsonplatz erinnert eine „Stolperschwelle“ vor dem Bürgerhaus an die ehemaligen Schüler der Jacobsonschule, die Opfer der Shoah wurden.
Weiterführende Literatur und Links
Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum: Seesen (Harz)
Jacobson-Haus Seesen: Schulgeschichte