November­pogrome
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1938 in Niedersachsen

Wunstorf

Bereits im Jahre 1300 legt eine Urkunde des Bischofs Ludolf zu Minden und des Grafen Johannes von Wunstorf die Ansässigkeit jüdisch gläubiger Menschen in Wunstorf nahe. Auch Quellen aus dem 16. und im 17. Jahrhundert belegen dies. Allerdings waren sie über die Jahrhunderte immer wieder auch Diskriminierungen ausgesetzt.

Ab 1842 bestimmte das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Juden im Königreich Hannover, dass jüdische Bürger einer Synagogengemeinde angehören mussten. Dies markiert auch den Anfang der jüdischen Gemeinde in Wunstorf. Schon um 1810 gab es in der Nordstraße eine kleinere Synagoge, auf die die heutige Synagogengasse verweist. Ebenfalls etablierte sich seit den 1850er Jahren eine jüdische Schule mit einem qualitativ hochwertigen Unterricht. Sie erhielt eine jährliche Unterstützung der Stadt Wunstorf. Ab 1830 wurden die Verstorbenen der Gemeinde auf dem jüdischen Friedhof am Nordrehr bestattet. 1885 lebten 80 jüdische Bürger in Wunstorf. 1912 beschloss die Synagogengemeinde, statt der inzwischen baufällig gewordenen alten Synagoge das Haus Küsterstraße 9 als neue Synagoge zu nutzen.

In der Weimarer Republik war das industriell geprägte Wunstorf eine Arbeiterhochburg mit der SPD als stärkste Kraft. Erst 1930 wurde eine NS-Ortsgruppe gegründet. Bei der Reichspräsidentenwahl im März 1932 wurde allerdings in Wunstorf die NSDAP stärkste Kraft. Ab 1933 fanden sich die politisch, wirtschaftlich und kulturell in der Weimarer Republik bestens integrierten Wunstorfer Juden in einer Situation der Diskriminierung. Damit einher gingen öffentliche Demütigungen, Geschäftsboykotte, ein Verbot von jüdischen Annoncen in der Wunstorfer Zeitung durch den Inhaber Theo Oppermann und antijüdische Kundgebungen. Zwölf Wunstorfer Juden flüchteten daraufhin bis 1938 ins Ausland. Die Gemeinde schrumpfte auf 27 Mitglieder. Im März 1938 beging der Viehhändler Gottschall de Jonge Suizid aufgrund seines wirtschaftlichen Ruins.

 

Hundestaffel der SA in Wunstorf, ca. 1937. Armin Mandel

Wunstorfer Marktplatz mit dem Geschäft der jüdischen Familie Mendel, undatiert. Stadtarchiv Wunstorf

Die Wunstorfer SA begann nach einem Anruf aus der Stapo-Leitstelle in Hannover am 10. November 1938 zwischen drei und vier Uhr morgens mit gewalttätigen Aktionen. Sie markierte jüdische Geschäfte und Häuser mit roter Farbe für die nachrückenden auswärtigen Bordenauer SA-Leute. Diese drangen durch eine Hintertür auch in die Synagoge ein, zerstörten ihren Innenraum und zündeten sie schließlich an. Nach Hinweis auf die darüber wohnende nicht jüdische Familie wurde der Brand jedoch von der Feuerwehr schnell wieder gelöscht. Die Geschäfte und einige Wohnungen wurden verwüstet und deren mit Farbe markierte Fenster eingeschlagen. Die Torarollen und andere Gegenstände aus der Synagoge wurden vor der Stadtkirche verbrannt. Bis acht Uhr morgens waren alle erwachsenen Wunstorfer Juden im Rathauskeller zusammengetrieben und eingesperrt worden. Damit einher gingen Beleidigungen, Schläge und andere Quälereien gegenüber den Opfern.

Schulkinder wurden von der SA aufgefordert, die jüdischen Bürger bei deren Abführung anzuspucken. Der Friedhof am Nordrehr wurde von der SA ebenfalls mit Farbe beschmiert und verwüstet.

Der Großteil der Wunstorfer Juden wurde gegen zehn Uhr wieder freigelassen. Die vermögenderen unter ihnen wurden noch am 10. November nach Hannover und schließlich in das KZ Buchenwald deportiert. Insgesamt waren dies acht Personen. Unter ihnen befand sich auch der ehemalige Senator und Holzhändler Emil Kraft. Während die Inhaftierten dort Misshandlungen und Folter ausgesetzt waren, wurden ihre Häuser in Wunstorf teilweise geplündert. In Buchenwald starb bei einem Spießrutenlauf durch die SS der 68-jährige Wunstorfer Ferdinand Blank an den ihm zugefügten Misshandlungen.

Bei dem Pogrom in Wunstorf sollen keine Wunstorfer Zivilisten an den Gewaltakten beteiligt gewesen sein. Auch kam es direkt in Wunstorf nicht zu Todesfällen. Allerdings gab es etliche Schaulustige, welche unter anderem die auswärtigen SA-Männer darauf hinwiesen, dass die festgenommene dunkelhaarige Ehefrau des Hausmeisters der Synagoge nicht jüdisch sei. Diese wurde fälschlicherweise verhaftet. Zwar wurden rechtliche Schritte hinsichtlich der Plünderungen der jüdischen Wohnungen und Geschäfte eingeleitet, belangt wurde jedoch keiner, da die Fälle nie weiter bearbeitet wurden.

SA-Männer vor einem demolierten Wunstorfer Geschäft, 1938. Heiner Wittrock

 

Nach dem 10. November verschlechterte sich die Lage für die jüdische Gemeinde aufgrund der aufgetragenen Bußgeldzahlung und dem Ausschluss aus dem wirtschaftlichen Leben. Unter Druck verkauft so etwa Albert Mendel sein Warenlager deutlich unter Wert. Zwischen Dezember 1938 und Februar 1939 wurden die sieben Überlebenden aus dem KZ Buchenwald entlassen und kehrten nach Wunstorf zurück. Ein Großteil der jüdischen Familien versuchte noch vor der Ausreisesperre im Oktober 1941 zu emigrieren. So übersiedelte auch Emil Kraft mit seiner Frau in die Niederlande. Im Frühjahr 1939 gab es nur noch zwölf Gemeindemitglieder in Wunstorf. Aufgrund von behördlich angeordnetem Zuzug stieg die Zahl allerdings bis 1940 noch einmal auf 22 an.

Gegen Ende 1941 fand schließlich die Deportation der Wunstorfer Juden über Hannover in das Ghetto Riga statt. Im Sommer 1942 wurden die letzten fünf jüdischen Bürger Wunstorfs nach Hannover-Ahlem in ein Sammellager gebracht. Noch bis zur Deportation behandelte der Arzt Dr. Timmermann gemeinsam mit seinem Sohn Patienten jüdischen Glaubens und führte auch Hausbesuche durch. An Weihnachten 1942 verkündete Bürgermeister Krawehl, dass es in Wunstorf keine jüdischen Bürger mehr gebe. Ab 1942 wurden die Deportierten in unterschiedliche Arbeits- oder Vernichtungslager wie Buchenwald, Theresienstadt, Stutthof, Auschwitz-Birkenau oder Treblinka gebracht. Wenige Wunstorfer Juden kamen außerdem nach Warschau. Der Großteil der Deportierten gilt als an den genannten Orten verschollen. Nur für wenige gibt es einen bestätigten Todesort, wie etwa für Emil Kraft, der  in Auschwitz ermordet wurde. Insgesamt kamen bis Kriegsende 35 jüdische Bürger der Stadt Wunstorf ums Leben.

Emil Kraft wurde als Sohn einer jüdischen Familie am 23. Oktober 1871 in Landeck, Westpreußen geboren. Durch seine Ausbildungsjahre im Holzhandel kam er zwischen 1890 und 1895 nach Wunstorf. Bis zum Ersten Weltkrieg schaffte er es, einen überregionalen Holzhandel aufzubauen. Trotz des Verlustes seiner Forstflächen bei Kriegsende gelang es Emil Kraft, mit seiner Firma zu expandieren. Zudem wurde er politisch aktiv als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, ab 1915 zunächst als Bürgervorsteher, ab 1924 als Senator der Stadt Wunstorf. Kulturell, wirtschaftlich und politisch war Kraft somit bestens in Wunstorf integriert und genoss in der Stadt hohes Ansehen. Nach der NS-Machtübernahme war ihm weitere politische Tätigkeit verwehrt. Bald machte sich die antisemitische Propaganda des Nationalsozialismus auch für Krafts Holzhandlung bemerkbar. Mit der Kundschaft schrumpften auch die Gewinne. Ab 1933 sah sich Emil Kraft das erste Mal in seinem Leben in Wunstorf Diskriminierung, Hetze und Gewalt ausgesetzt. 1938 wurde er im Kontext des Novemberpogroms nach Buchenwald deportiert und dort gefoltert. Aufgrund der „Arisierung“ kam sein Geschäft gänzlich zum Erliegen, sodass er Anfang März 1939 mit seiner Frau Frieda Kraft zu seinem Sohn Julius in die Niederlande emigrierte. Doch der nationalsozialistische Terror erreichte auch die Niederlande. Emil Kraft wurde 1942 in Amsterdam verhaftet. Seine Frau Frieda beging darauf hin Suizid. Emil Kraft wurde am 24. September 1943 in Auschwitz ermordet.

Emil Kraft an seinem Schreibtisch, 1920. Stadtarchiv Wunstorf

Theo Oppermann wurde am 15. Januar 1893 als Sohn eines Zeitungsverlegers in Wunstorf geboren. Er genoss eine gute Bildung und übernahm 1924 den väterlichen Betrieb als Schriftleiter, Inhaber und Druckereibesitzer. Er war bis zu seinem Lebensende beruflich aktiv und publizierte viel. Theo Oppermann sympathisierte schon früh mit dem Nationalsozialismus und zeigte dies auch öffentlich. Von ihm stammen eine Anzahl von antisemitischen Hetz- und Schmähartikeln, die in der Wunstorfer Zeitung abgedruckt und veröffentlicht wurden. Oppermann spielte eine entscheidende Rolle beim Ausschluss der Wunstorfer Juden aus dem öffentlichen Leben wie etwa beim Verbot von Annoncen jüdischer Geschäftsleute. Nach dem Krieg internierten ihn die Alliierten von September 1945 bis Juni 1946 aufgrund seiner Beteiligung am Nationalsozialismus. 1968 sollte Oppermann mit einer Auszeichnung des Landes Niedersachsen geehrt werden. Aufgrund seiner NS-Vergangenheit entbrannte allerdings eine Debatte darüber, die auch in der überregionalen Presse geführt wurde. Die Ehrung blieb aus. Theo Oppermann starb schließlich am 21. April 1974 in Wunstorf.

Seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es bis heute keine jüdische Gemeinde mehr in Wunstorf. In den 1990er Jahren lud die Stadtverwaltung erstmalig ehemalige, in den 1930er Jahren nach Israel emigrierte Wunstorfer Bürger zu einem Besuch in ihre Heimatstadt ein. Zum Programm gehörte eine Gedenkveranstaltung der Stadt Wunstorf für die Opfer der NS-Judenverfolgung. Zudem wurde eine Sandsteintreppe am Eingang zum Hölty-Gymnasium mit einer Inschrift zu Ehren der beiden ehemaligen Schüler Ernst und Ludwig Lazarus versehen.

Nach Emil Kraft benannte die Stadt in der Nachkriegszeit eine Straße in „Senator Kraft-Straße“, die erste von mehreren Straßen, die heute früheren Wunstorfer Juden gewidmet ist.

2002 wurde bei der Abtei ein Mahnmal zur Erinnerung an die Wunstorfer Juden errichtet, das der Wunstorfer Bildhauer Ostap Rebmann gestaltet hatte; seit 2005 wird hier jährlich zum 15. Dezember (dem Jahrestag der ersten Deportationen im Jahr 1941) der Wunstorfer Juden mit einer Kranzniederlegung gedacht.

Die ehemalige Synagoge in der Küsterstraße 9 wurde in der Nachkriegszeit während der britischen Besatzung restauriert. Heute ist sie ein Wohnhaus. An diesem ist eine kleine, schwer erkennbare Gedenktafel angebracht. Der jüdische Friedhof wurde auf Kosten der Stadt Wunstorf restauriert. Er wird heute nicht mehr aktiv genutzt. Stolpersteine als Zeichen der Erinnerung wurden in Wunstorf bisher nicht verlegt.

Die ehemalige Synagoge in der Küsterstraße, 2015. Stadtarchiv Wunstorf

Klaus Fesche, Geschichte Wunstorfs. Die Stadt, der Flecken und die Dörfer, Springe 2010.

Christoph Oppermann, Der Pokal. Und andere Geschichten aus Wunstorf, Wunstorf 1998.

Felix Pütter, Emil Kraft, Eine biographische Skizze, in: Wunstorfer Stadtspiegel. Mitteilungsblatt des Heimatvereins Wünsdorf E.V., Juli 2010/Nr. 80.

Heiner Wittrock, Das Schicksal der Juden in Wunstorf, Wunstorf 2007.

Stadt Wunstorf