Autor: Tessa Bouwman
Gronau
Bereits Ende des 14. Jahrhunderts lebten Juden in Gronau, sie wurden jedoch Mitte des 15. Jahrhunderts aus der Kleinstadt vertrieben. Erst Anfang des 18. Jahrhunderts sind Juden in Gronau wieder aktenkundig – in Form von wiederholten Bestrebungen des Magistrats, den weiteren Zuzug von Juden zu verhindern.
Um 1820 errichtete die jüdische Gemeinde, nunmehr über 50 Personen und mindestens acht Familien stark, eine Synagoge mit angeschlossenem Schulraum und Lehrerwohnung. Die Elementarschule bestand bis 1908. Ab 1819 unterhielt die Gemeinde am Hohen Escher einen Friedhof.
Ab den 1860er Jahren begann die Zahl der jüdischen Familien in Gronau zu sinken. 1933 lebten nur noch 12 Juden und Jüdinnen in dem Ort. In der Pogromnacht wurde die Synagoge, die sich in einem Fachwerkhaus befand, mit Rücksicht auf die unmittelbar benachbarten Häuser nicht abgebrannt. Allerdings zerstörte der Mob die Inneneinrichtung und verbrannte Kultgegenstände vor einer schaulustigen Menge auf dem Adolf-Hitler-Platz. Der einzige in Gronau anwesende Jude wurde von der Polizei in „Schutzhaft“ genommen, wie die Lokalzeitung meldete.
Nach 1938 verließen fast alle der noch in Gronau lebenden Juden die Stadt, die letzten beiden wurden 1942 nach Theresienstadt deportiert.
Die ehemalige Synagoge ist heute ein Wohnhaus. Der jüdische Friedhof am Hohen Escher steht mit etwa 50 erhaltenen Grabsteinen seit Mitte der 1990er Jahre unter Denkmalschutz.
Weiterführende Literatur und Links
Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum: Gronau (Leine)
Andrea Baumert, Gronau, in: Herbert Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Göttingen 2005, Band 1, S. 664-670.
Autor: Dr. Jens-Christian Wagner, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten
Gleidingen
In Gleidingen, heute ein Ortsteil von Laatzen, lebten seit Anfang des 18. Jahrhunderts jüdische Familien. Um 1835 errichtete die kleine jüdische Gemeinde in der Thorstraße eine Synagoge mit angeschlossenem Schulraum. Die Elementarschule wurde von Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1903 betrieben. Ein kleiner jüdischer Friedhof bestand seit Mitte des 18. Jahrhunderts am Dammacker.
Mitte des 19. Jahrhunderts umfasste die jüdische Gemeinde fast 100 Personen und damit etwa 10 Prozent der Gleidinger Bevölkerung. Danach sank die Zahl durch Abwanderung kontinuierlich. Mitte der 1930er Jahre lebten noch etwa 30 Jüdinnen und Juden in Gleidingen.
Nachdem es bereits vorher zu einer Grabschändung gekommen war, zerstörte die heimische SA im November 1938 die Synagoge. Auch die Fenster von Häusern und Geschäften jüdischer Eigentümer wurden demoliert. 1940 erfolgte der endgültige Abriss der Synagoge.
Einigen Gleidinger Juden gelang nach der Pogromnacht die Emigration ins Ausland. Fast alle anderen wurden deportiert, die letzten zwei in „Mischehe“ lebenden Gleidinger Juden im Januar 1945 nach Theresienstadt. Vermutlich acht Juden und Jüdinnen sind Opfer der Shoah geworden.
Am Standort der ehemaligen Synagoge erinnert ein Findling mit Schrifttafel an das Bethaus und die jüdische Gemeinde. 2009 wurde der Stein geschändet, die Täter wurden nicht ermittelt.
An der Hildesheimer Straße erinnern seit 2008 Stolpersteine an die Familien Schönfeld und Cohnheim. Auf dem jüdischen Friedhof an der Verlängerung des Dammackerweges werden seit 1997 durch die Jüdische Gemeinde Hannover wieder Bestattungen vorgenommen.
Weiterführende Literatur und Links
Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum: Gleidingen (Niedersachsen)
Laatzen: Jüdischer Gedenkstein geschändet. haGalil, 12. November 2009
Rüdiger Kröger, Gleidingen (heute Laatzen-Gleidingen), in: Herbert Obenaus (Hg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Bd. 1, Göttingen 2005, S. 612–617.
Autor: Dr. Jens-Christian Wagner, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten
Eldagsen
Ab der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wohnten jüdische Familien in Eldagsen (Region Hannover). Im 19. Jahrhundert wuchs ihre Zahl. 1868 errichtete die Gemeinde eine Synagoge samt angeschlossenem Schulraum und Lehrerwohnung in der Langen Straße. Zur Gemeinde gehörten auch jüdische Familien aus dem benachbarten Gestorf.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte die jüdische Gemeinde rund 60 Mitglieder, danach sank die Zahl nur leicht. Zu Beginn der NS-Herrschaft lebten in Eldagsen noch über 50 Gemeindemitglieder.
Während des Novemberpogroms verwüstete ein SS-Trupp aus dem nahen Springe den Innenraum der Synagoge. Auch die Schaufensterscheiben von drei Geschäften jüdischer Eigentümer schlugen die SS-Leute ein. Das Niederbrennen der Synagoge wurde angeblich durch den Bürgermeister verhindert. Der jüdische Friedhof wurde 1938 geschlossen, das Synagogengebäude 1940 verkauft. 36 Eldagser Juden konnten bis 1939 emigrieren. Andere wurden deportiert und ermordet.
Nach 1945 nutzte zunächst die Katholische Kirche die Synagoge. Später wurde das Gebäude zu einem Wohnhaus umgebaut. Ein 1995 zunächst an anderer Stelle gesetzter Gedenkstein zur Erinnerung an die jüdische Gemeinde steht seit 2013/14 vor dem Gebäude der ehemaligen Synagoge.
Der jüdische Friedhof zwischen Brücken- und Knickstraße wurde während des Zweiten Weltkrieges aufgelassen und in Gartenland umgewandelt. Nach dem Krieg ließ die Gemeinde Eldagsen auf Betreiben einer in Argentinien lebenden ehemaligen jüdischen Eldagserin einen Streifen des ehemaligen Friedhofes mit vier Grabsteinen wieder als Friedhof gestalten. Ein weiterer Friedhof, der auf das Jahr 1783 zurückgeht, befindet sich im benachbarten Gestorf. Dort sind 22 Grabsteine erhalten.
Weiterführende Literatur und Links
Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum: Eldagsen (Niedersachsen)
Tamar Avraham, Eldagsen, in: Herbert Obenaus (Hg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Bd. 1, Göttingen 2005, S. 524-533.
Autor: Dr. Jens-Christian Wagner, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten
Duingen
Vorgeschichte
Das jüdische Leben in Duingen begann spätestens 1820. In der Blütezeit der Gemeinde zwischen 1850 und 1914 lebten 15 jüdische Menschen im Ort. Sie machten etwa ein Prozent der Bevölkerung des Fleckens aus, die sich auf knapp 1.200 Personen belief. Die Duinger Juden verteilten sich auf zwei bis drei Familien. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert verließen viele von ihnen den Ort.
1933 lebte nur noch der „Kolonialwaren“-Händler Walter Bienheim (1903-1951) mit seiner Frau und ihrer Tochter sowie der Mutter Hulda in Duingen. Sein Haus war in der dritten Generation im Besitz der Familie. Das angegliederte kleine Bankgeschäft war in der Inflationszeit eingegangen.
Walter Bienheim war Mitglied in zwei örtlichen Vereinen, der freiwilligen Feuerwehr und des Gesangvereins, ein Beleg dafür, in welch hohem Maße die Familie im Ort integriert war. Außerdem besaß er – für einen Juden, der in einem Dorf wohnte durchaus ungewöhnlich – das Parteibuch der SPD. Es gibt Hinweise, dass er 1933 aus den Reihen der Feuerwehr und des Gesangvereins ausgeschlossen wurde.
Weil jüdische Ladengeschäfte in der NS-Zeit boykottiert wurden und auch Menschen, die den Juden wohlgesinnt waren, Angst haben mussten „beim Juden“ zu kaufen, verlegte sich Bienheim zunehmend auf „Haustürgeschäfte“ und fuhr mit seinem PKW in die umliegenden Dörfer. Der Alfelder Landrat reagierte darauf 1936 mit dem Entzug der „Wandergewerbeerlaubnis“. Walter Bienheim wandte sich daraufhin mit einer Beschwerde an das Bezirksverwaltungsgericht Hildesheim. Der Hildesheimer Regierungspräsident begründete den Entzug in einem drei Seiten langen Schriftsatz, in dem es u. a. hieß, Bienheim sei bei seinen Geschäften unzuverlässig, nicht vertrauenswürdig und aufdringlich.
Das Verwaltungsgericht Hildesheim gab am 3. Juli 1936 jedoch der Beschwerde Bienheims Recht. Es hätten sich „weder in politischer, noch in gewerblicher Hinsicht hinreichende Anhaltspunkte für Unzuverlässigkeit des Herrn Bienheim ergeben.“ Der Regierungspräsident ging in Berufung. Bereits im November 1936 kam es zu einer erneuten Gerichtsverhandlung. Ob sich das Gericht ein zweites Mal dem massiven politischen Druck widersetzte, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden.
Auch in den Dörfern wurde der Antisemitismus stärker. Die Reifen von Bienheims Auto wurden mehrfach zerstochen oder zerschossen. Im nahe gelegenen Marienhagen, einem Ort, in dem überhaupt keine Juden lebten, fanden judenfeindliche Kundgebungen statt und es wurden antijüdische Schilder aufgestellt.
Unter dem herrschenden Druck verließ Walter Bienheim Ende 1936 Duingen und ging nach Hannover. Das Geschäft verpachtete er zunächst an den Kaufmann Hinrichsmeyer und verkaufte es ihm 1940 schließlich. In Hannover versuchte er noch einmal ein Geschäft zu eröffnen. 1940 gelang ihm mit seiner Frau Else und Tochter Ruth gerade noch rechtzeitig die Flucht in die USA. Walter Bienheim starb am 6. Februar 1951 in New York.
Die letzte jüdische Einwohnerin Duingens war Walters Mutter Hulda Bienheim. Nach mündlichen Aussagen von Verwandten hatte sie sich früh mit dem Gedanken an eine Auswanderung vertraut gemacht, war zum Beispiel vor 1939 nach Palästina gereist, verfügte auch über ein Affidavit, das notwendige Bedingung für eine Einwanderung war. Sie zog am 4. Januar 1937 von Duingen nach Hannover zu ihrem Sohn Walter. Mehrmals wechselte sie in der Folge ihren Aufenthaltsort. Ende August 1939 ging sie zu Verwandten nach Petershagen bei Minden, später zeitweise nach Bremen, wo ihre Tochter Anna Grünberg lebte.
Im Mai 1940 war Hulda Bienheim zurück in Hannover, nun im jüdischen Altersheim in der Ellernstraße 16. Von dort wurde sie am 15. Dezember 1941 im Alter von 69 Jahren in das Ghetto Riga deportiert. Ein Teil der Menschen wurde gleich nach der Ankunft in den Wald geführt und erschossen.
Eine Duinger Firma mit jüdischem Besitzer war die Steinzeug- und Tonwarenfabrik, die seit 1913 dem Kaufmann Louis Steinberg gehörte. Er musste das Unternehmen am 1. Juni 1937 an den Betriebsleiter Werner abtreten.
Die Ereignisse im November 1938
Der Friedhof der Duinger Juden liegt weit außerhalb des Dorfes in süd-östlicher Richtung inmitten von Feldern auf einer kleinen Kuppe. Das Flurstück ist mit einer Fläche von 125 qm recht klein. Zeitzeugen erzählen von einer Beerdigung, die bald nach 1933 erfolgt sei. Ohne Sarg hätten die Hinterbliebenen den Leichnam in die wegen schweren Regens voll Wasser gelaufene Grube legen müssen, begleitet von Beschimpfungen und Beleidigungen durch Bewohner des Fleckens. Ein Grabstein ist für diese Beerdigung nicht mehr gesetzt worden. Steinmetze und Sargtischler weigerten sich nicht selten, für Juden zu arbeiten.
Der Friedhof soll um das Jahr 1938 am helllichten Tage durch Duinger SA-Männer zerstört worden sein. Sie warfen die Steine um und zerbrachen sie dabei teilweise. Offensichtlich blieben die zerstörten Steine an Ort und Stelle liegen.
Biographie – Erich Bienheim
Erich Bienheim (1898-1962), einem ältereren Bruder von Walter Bienheim, gelang eine bemerkenswerte theologische Laufbahn. Er studierte an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin bei Ismar Elbogen und Leo Baeck Rabbinistik, promovierte in Würzburg über „Die Gebärden im Alten Testament“ und war 1924 bis 1927 Rabbiner in Berlin, anschließend bis 1939 an der liberalen Synagoge in Darmstadt tätig. Weil die Nationalsozialisten jüdischen Kindern den Schulbesuch erschwert hatten, gründete er dort eine jüdische Grundschule.
Am frühen Morgen des 10. November 1938 – Erich Bienheim war auf dem Weg zu der von den Nationalsozialisten angezündeten Darmstädter Synagoge – verhaftete ihn die Gestapo und schaffte ihn in das KZ Buchenwald. Vier Wochen später wurde er unter der Bedingung entlassen, Deutschland so bald wie möglich zu verlassen. 1939 emigrierte Erich Bienheim nach England, war von 1946-1949 Rabbi an der West-End-Synagoge in London und von 1949 bis kurz vor seinem Tode im Jahre 1962 an der Reform-Synagoge in Bradford.
Biographie – Karl Ludwig Bienheim
Karl Ludwig Bienheim (1900-1967), Erichs jüngerer Bruder, besuchte das Gymnasium für Jungen in Hameln und legte dort 1918 das Abitur ab. Nach dem Militärdienst studierte er 1919 bis 1925 Architektur an der Technischen Hochschule Hannover und der Technischen Hochschule Stuttgart. 1927 bis 1932 war er bei der preußischen Regierung in Berlin als Experte für Landwirtschafts- und Gartenbausiedlungen angestellt. Aus dem Jahre 1927 existiert der Entwurf für einen rationalisierten Landwirtschaftsbetrieb.
1932 heiratete er Rosel Pinkus und emigrierte mit ihr 1934 nach Palästina. Dort arbeitete er zunächst als privater Architekt in Hadera bei Haifa. In den Jahren 1938 bis 1949 war er Chefarchitekt der Hever Hakwu 20th, einer Gruppe von 80 landwirtschaftlichen Siedlungen in Israel. 1950 erfolgte seine Ernennung zum Professor für Landwirtschafts- und Siedlungswesen am Technion in Haifa. 1961/62 hatte er eine Gastprofessur an der Technischen Hochschule Stuttgart inne.
Justizielle Ahndung
In der Nachkriegszeit soll es nach Auskunft von Zeitzeugen wegen der Zerstörung des Friedhofes zu einem Prozess gekommen sein, in dem die Täter zu Geldstrafen verurteilt wurden. Näheres war nicht in Erfahrung zu bringen.
Spuren und Gedenken
Der Friedhof wurde zu einem unbestimmten Zeitpunkt wieder hergestellt. Auf Reparaturarbeiten an den Grabsteinen verweisen deutliche Mörtelspuren. Aus der Zeit nach dem Kriege dürfte auch die niedrige Mauer stammen, die den Friedhof umgibt.
Kurze Zeit nach seiner Wiederherstellung wurde der Friedhof erneut zerstört. Die Beschädigung der Schriftfelder durch Beilhiebe soll nach Aussagen von Zeitzeugen bei dieser zweiten Zerstörung erfolgt sein. Bei einem Besuch des Friedhofes im Jahre 1985 bot dieser ein trauriges Bild der Vernachlässigung und Verwüstung.
Im Sommer 2006 war der Friedhof von Bäumen und Büschen fast ganz überwachsen. Die Steine wiesen immer noch die alten Beschädigungen auf. In dieser Situation entschloss sich der örtliche Heimat- und Kulturverein, den Friedhof in enger Zusammenarbeit mit Bernhard Gelderblom zu restaurieren.
Der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen gab bereitwillig sein Einverständnis und sagte eine begrenzte finanzielle Unterstützung zu. Alle Ausbesserungsarbeiten an den Grabsteinen waren Sache des Landesverbandes. Eine finanzielle Unterstützung des Fleckens Duingen wurde erbeten, aber abgeschlagen.
Die Arbeiten begannen mit der Beseitigung des dichten Buschwerks. Bruchstücke von Steinen, die bisher unter dem dichten Bewuchs versteckt gelegen hatten, traten ans Tageslicht. Nun wurden auch die erheblichen Schäden an der Umfassungsmauer deutlich. Über mehr als zwei Jahre erstreckte sich die von zahlreichen Händen ehrenamtlich ausgeführte Arbeit. Ein Vortrag von Bernhard Gelderblom zum jüdischen Leben in Duingen am 21. Februar 2008 gab die nötigen Hintergrundinformationen.
Nach Aufstellung der Steine, die von einer hannoverschen Firma restauriert worden waren, wurde der Boden mit einer Schicht Rindenmulch abgedeckt und mit Bodendeckern bepflanzt. Steinplatten führen den Besucher auf das Gelände. Ein neuer Zaun war nötig, schließlich ein Schild. Im September 2008 fand unter großer Beteiligung der örtlichen Bevölkerung die Einweihung statt.
- Zustand des Friedhofs vor der Restaurierung, 2006. Foto: Bernhard Gelderblom
- Der Zustand des Friedhofs nach Wiederaufstellung der restaurierten Grabsteine und Erneuerung der Umfassungsmauer, Januar 2008. Foto: Bernhard Gelderblom
- Der Zustand des Friedhofs bei der Einweihung, September 2008. Foto: Bernhard Gelderblom
- Das im Jahre 2009 am Friedhof installierte Informationsschild, 2018. Foto: Bernhard Gelderblom
Weiterführende Literatur und Links
Bernhard Gelderblom, Salzhemmendorf, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bände, Göttingen 2005, S. 1336-1344.
Bernhard Gelderblom, Jüdisches Leben in Duingen, Vortrag am 21. Februar 2008, Duinger Heimat- und Kulturverein e.V., Heft 13, 2009.
Bernhard Gelderblom, Die Juden in den Dörfern des Fleckens Salzhemmendorf, Holzminden 2013, 173-209.
Stephanie Link, Von Kollergang und Röhrenplatz. Tonindustrie in Duingen, Duingen 2009.
Die Dokumentation der Opfer der NS-Herrschaft in der Stadt Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont: Deportierte jüdische Bürger aus Duingen
http://www.geschichte-hameln.de/gedenkbuch/gedenkbuch.php
Der jüdische Friedhof Duingen
http://www.gelderblom-hameln.de/judenhameln/friedhoefe/judenfriedduingen.php?name=duingen
Autor: Bernhard Gelderblom, Hameln
Coppenbrügge
Vorgeschichte
Jüdisches Leben ist in Coppenbrügge erstmals 1630 und damit vergleichsweise früh belegt. Der Friedhof wird 1787 aktenkundig, eine (neue) Synagoge 1814. 1839 lebten 50 Juden in Coppenbrügge; fünf Häuser hatten über mehrere Generationen jüdische Eigentümer. Mit bis zu vier Prozent war der Anteil der Juden an den Einwohnern im 18. und 19. Jahrhundert sehr hoch. 1913 zählte die Gemeinde jedoch lediglich noch acht „Seelen“. Zur Feier des Sabbats fuhr man nach Hameln.
Bekannt im Ort waren Oskar und Elise Levy mit ihrer Tochter Ruth. Der 1909 geborene Oskar Levy verkaufte 1918 das reiche Erbe des Vaters, eine Textilmanufaktur im Haus Schlossstraße 15/16, um selbst ein kleineres Textilgeschäft zu etablieren. Er war Mitglied im Schützen- und Kriegerverein und hatte zur Errichtung des Kriegerdenkmals mit Spenden beigetragen. Nach 1933 hatte die Familie unter Schikanen zu leiden. So wurde mehrmals an das Haus seines Vermieters geschrieben: „Hier wohnt ein Judenfreund.“ Aus der Mitgliederliste des Schützenvereins wurde er bereits 1932 gestrichen.
Am 22. April 1933 wurde Oskar Levy auf Befehl des Landrats für zehn Tage im Gefängnis Hameln in „Schutzhaft“ genommen. NSDAP-Ortsgruppenleiter Walter Hasselwander soll Oskar Levy auf offener Straße niedergeschlagen haben: „Weil Levy sich bei dem Überfall gewehrt hat, wurde er auf Anweisung Hasselwanders von der Gestapo verhaftet, schwer mißhandelt und eingesperrt.“ Nach seiner Entlassung soll Oskar Levy sich still verhalten haben.
Obwohl Oskar Levy auf der Liste der Empfangsberechtigten stand, händigte ihm Bürgermeister Beckmann das Ehrenkreuz für Frontkämpfer nicht aus.
David Adler und seine Ehefrau Resi machten sich 1924 in Coppenbrügge mit einem Textilgeschäft selbstständig. Das Geschäft lief so gut, dass David Adler ein Auto anschaffen und die Dörfer bereisen konnte. Adlers hatten sich rasch im Ort integriert. Seit 1933 sank der Umsatz des Geschäfts um fast die Hälfte, stabilisierte sich aber auf diesem Niveau. Während das Ladengeschäft massiv unter Boykotten litt, machte Adler als reisender Kaufmann weiterhin relativ gute Umsätze.
Der NSDAP-Ortsgruppe war das beliebte Geschäft ein besonderer Dorn im Auge. Aus dem gegenüberliegenden Haus des Schmieds Wilhelm Spiegelberg wurden Kunden von Adler gemeldet. In Coppenbrügge hing ein sogenannter „Stürmer“-Kasten, in dem Personen, die in jüdischen Geschäften gekauft haben sollten, öffentlich angeprangert wurden. Als Kaufwillige das Geschäft daraufhin über einen rückwärtigen Zugang aufsuchten, beschlossen Bürgermeister Beckmann und der Gemeinderat auf Antrag des Ortsgruppenleiters Hasselwander, den rückwärtigen „Weg als nicht öffentlich zu erklären und das Betreten desselben unter Strafe zu stellen“.
Der einzige Sohn Martin, geb. 1922, musste 1935, obwohl noch schulpflichtig, die Schule in Coppenbrügge verlassen. Ein Zeitzeuge berichtet, „wie Hasselwander und seine Jungens bei jeder passenden Gelegenheit auf der Straße den Sohn vom Juden David Adler überfallen und verprügelt haben, daß das Blut aus Mund und Nase kam.“
Im März 1938 gelang der einvernehmliche Verkauf des Geschäfts an Karl Schlichtmann. Im Juli 1938 reiste die Familie nach Hamburg, um dort das Schiff nach New York zu betreten.
Obwohl noch Juden in Coppenbrügge lebten, setzte Bürgermeister Beckmann beim Regierungspräsidenten 1937 die Schließung des Friedhofs durch, „da derselbe inmitten der geschlossenen Ortschaft belegen ist“. Ein weiterer Grund dürfte gewesen sein, dass Hitler am Friedhof entlang fuhr, wenn er vom Reichserntedankfest am Bückeberg nach Goslar fuhr.
Im Mai 1938 ließ der Bürgermeister den Friedhof mit seinen ca. 60 Grabsteinen eigenmächtig einebnen. Nur vier Grabstellen, deren Ruhefrist noch nicht abgelaufen war, blieben bestehen. Die Steine wurden als Straßenschotter und als Kantsteine bei der Erweiterung des christlichen Friedhofes verwendet, die Eingangspfosten als Torpfosten des christlichen Friedhofes.
- Martin Adler mit seinen Eltern, um 1935. Sammlung Bernhard Gelderblom
- Widmung seines Religionslehrers Hans Weiß zur Bar Mizwah am 26. Oktober 1935. Sammlung Bernhard Gelderblom
Die Ereignisse im November 1938
Am 9. November 1938 wurde der mittlerweile vollständig verarmte Oskar Levy erneut verhaftet und in das KZ Buchenwald gebracht. In derselben Nacht zerstörte die Coppenbrügger SA die letzten Steine des jüdischen Friedhofes. Unter den Beteiligten waren ein Amtsgerichtssekretär, ein Beamter am Amtsgericht Hameln, ein Beamter am Finanzamt Hameln, ein Eisenbahnbeamter, zwei selbstständige Schmiedemeister, ein selbstständiger Friseur, ein Gemeindebeamter, ein Zimmereiarbeiter und ein Milchkontrolleur, also überwiegend Männer, die zur wohlsituierten, bürgerlich-konservativen Mitte des Ortes gehörten.
Folgen
Nach sechs Wochen wurde Oskar Levy aus dem KZ Buchenwald entlassen und am 27. Dezember 1938 mit seiner Frau Elise nach Hannover. Seit 1940 lebten die Eheleute zusammen mit ihrer Tochter Ruth, die am dortigen israelitischen Krankenhaus arbeitete. Oskar Levy musste Zwangsarbeit leisten. Anstrengungen für eine Auswanderung unternahmen Oskar und seine Frau Lieschen offenkundig nicht.
Seit September 1941 mussten sie im „Judenhaus“ Brabeckstraße 86 wohnen. Am 15. Dezember 1941 wurde Oskar Levy mit seiner Ehefrau Elise, der Tochter Ruth und seinem jüngeren Bruder Erich Levy über Ahlem in das Ghetto Riga deportiert. Der Tag ihres Todes ist nicht bekannt.
Seit 1938 führte Bürgermeister Beckmann zuerst mit Oskar Levy, dann mit der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland Gespräche mit dem Ziel, das Gelände des Friedhofes für die Gemeinde zu erwerben. Völlig überraschend kaufte er 1943 schließlich das Grundstück persönlich und verpachtete das Gelände als Wiese.
Biographie - Ruth Levy
Ruth Levy, geb. 1911, war das einzige Kind von Oskar und Elise, genannt Lieschen, Levy.
Seit 1933 arbeitete sie in Hannover als Operations-und Krankenschwester am israelitischen Krankenhaus. Ab 1940 wohnte sie zusammen mit ihren Eltern in einer kleinen Wohnung. Mit einem jungen Mann, der in der Pogromnacht in das KZ Buchenwald verschleppt worden war, war sie eine Verlobung eingegangen. Im Herbst 1941 bestand die Verlobung nicht mehr.
Spätestens seit Frühjahr 1940 betrieb Ruth Levy ihre Auswanderung. Ein Krankenhaus in Caracas, Venezuela, hatte sie angefordert. Sie plante, ohne ihre Eltern zu gehen. Um die Genehmigung zur Auswanderung zu erreichen, waren extrem hohe bürokratischen Hürden zu überwinden. Neben dem Finanzamt waren die Gestapo, die Zollfahndungsstelle, die Reichsbank, die Devisenstelle des Oberfinanzpräsidenten, der Vorstand der israelitischen Gemeinde und das Hauptzollamt eingeschaltet. Fast eineinhalb Jahre lang tat sich in Sachen Auswanderung nichts.
Im September 1941 musste Familie Levy ins „Judenhaus“ Brabeckstraße 86 ziehen. Am 7. Oktober 1941 genehmigte der Oberfinanzpräsident die „Verbringung der aufgeführten Sachen ins Ausland“, nicht ohne den Hinweis, dass die Bescheinigung nach sechs Monaten verfallen würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte die NS-Regierung die Ausreise von Juden bereits gestoppt, ohne dass dies den unteren Behörden und den betroffenen Juden mitgeteilt worden wäre.
Im November 1941 mussten die Levys nach Ahlem übersiedeln. Hier erhielten sie die Benachrichtigung zur „Wohnsitzverlegung“ in den Osten. Ruth Levy gab daraufhin zur Kenntnis: „Ich soll am 18.11.41 ab Barcelona nach Venezuela fahren. Mein Pass liegt schon am Hilfsverein Berlin. Visum u. sonstige Papiere sind in Ordnung. Meine Sachen sind zollamtlich gepackt.“
Diese Mitteilung rettete sie jedoch nicht vor der Deportation. Am 15. November 1941 wurde sie vom Bahnhof Hannover-Linden in einem Zug mit 1100 Juden in das „Reichsjudenghetto Riga“ gebracht. Dort arbeitete Ruth Levy zeitweise in einer Sanitätsstation. In einem Brief aus dem Ghetto muss sie nach Coppenbrügge geschrieben haben, dass es ganz furchtbar sei, was sie dort durchmachten; sie würden bald umgesiedelt.
Das Schicksal von Ruth Levy hat die Menschen in Coppenbrügge sehr beschäftigt. So wurde erzählt, sie hätte ein Verhältnis mit dem deutschen Lagerarzt gehabt; beide seien deswegen erschossen worden. Die Umstände und der Tag ihres Todes sind jedoch nicht bekannt.
Biographie - Walter Hasselwander
Walter Hasselwander kann als fanatischer Nationalsozialist bezeichnet werden.
Hasselwander kam um 1920 nach Coppenbrügge. Seinen Beruf als Viehkaufmann erlernte er hier bei dem jüdischen Viehhändler Sally Weinberg. 1930 trat er der NSDAP bei. Mitglied der SA war er seit 1932. In der NS-Zeit machte er Karriere. Als kommissarischer Ortsgruppenleiter (1934-1936) war es seine Aufgabe, „die Bevölkerung nationalsozialistisch auszurichten“ und den Bürgermeister zu kontrollieren.
Für seinen obsessiven Judenhass finden sich zahlreiche Belege. An den jüdischen Friseur Seligmann schrieb er: „Sie haben sich abfällig über den Malermeister Garlin geäußert. Unterlassen sie das, es könnte schlecht für Sie ausfallen. Sie haben als Jude kein Recht sich über einen Deutschen abfällig zu äußern, zumal derselbe sein Brot ehrlich verdient.“ An den Parteigenossen König, dessen Tochter wiederholt „beim Juden Adler“ gekauft hatte, ging die Warnung: „Die ganze Welt leidet unter der Schlechtigkeit der Juden und unser Führer mit seiner Regierung hat schwere Kämpfe zu bestehen wegen dieser Lumpen. Auch wir hier unten führen den Kampf gegen diese Ausbeuter, da ist es bestimmt nicht angebracht, wenn die Tochter eines Parteigenossen und die Braut eines Pg. [Parteigenossen] zum Juden geht.“
Auf seine Anweisung hin wurden in Coppenbrügge Schilder mit der Aufschrift: „Juden ist der Zutritt in diesem Ort verboten“ angebracht. 1937 bezog Hasselwander eines der neu errichteten Häuser der Adolf-Hitler-Straße (heute Friedrich Beckmann-Straße). Den Posten als Ortsgruppenleiter gab Hasselwander auf, als er 1936/37 „Viehkommissar“ am Schlachthof Hameln werden konnte. Über sein weiteres Leben ist nichts bekannt.
Justizielle Ahndung
Die Entnazifizierungskammer versuchte in zahlreichen Verfahren gegen Coppenbrügger Bürger, Licht in die Vorgänge um die Zerstörung des Friedhofes 1938 zu bringen. Sie stellte fest, dass sowohl Ortsgruppenleiter Hasselwander als auch Bürgermeister Beckmann den Befehl zur Einebnung erteilt hätten. Die Frage nach dem Ursprung der Befehlskette (der Landrat oder die Hamelner SA-Standarte) blieb jedoch ungeklärt. Am Ende wollte die Kammer offenkundig nichts zur Klärung der Verantwortlichkeiten beitragen und ließ vor allem Bürgermeister Beckmann ungeschoren davonkommen. Im Übrigen schenkte sie den Ausflüchten der Vorgeladenen Glauben.
Die Klage der Jewish Trust Corporation gegen Friedrich Beckmann auf Rückerstattung des Geländes des jüdischen Friedhofs wurde 1953 gerichtlich abgewiesen. Friedrich Beckmann, der nach dem Krieg erneut als Bürgermeister amtierte, konnte dem Gericht glaubhaft machen, es habe sich um ein völlig minderwertiges Grundstück gehandelt, das er selbst mühsam verbessert habe. Grundstücke im Verkaufswert von unter 1000 DM wurden damals nicht zurückerstattet.
Spuren und Gedenken
Nach dem Krieg blieb der Friedhof zunächst in Privatbesitz. In zwei Schritten wurde das Gelände weiter verkleinert, zunächst zugunsten der südlich anschließenden Schule. Um 1962 kam es erstmals – auf Kosten des Landes Niedersachsen und ohne jeden Grabstein – zur Neuanlage der leeren Fläche als Friedhof. Damals setzte der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen einen Gedenkstein.
Versuche des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden, das Gelände zu kaufen, blieben vergeblich. Friedrich Beckmann war immerhin dazu bereit, das weiter in seinem Besitz befindliche Grundstück an den Flecken zu verpachten, der wiederum das Teilstück, auf dem der Gedenkstein stand, an den Landesverband unterverpachtete. Bedingung war, dass der Landesverband den über den Friedhof führenden öffentlichen Weg dulden musste. 1977 kaufte der Flecken Coppenbrügge das Grundstück und trennte gleichzeitig den östlichen Teil des Geländes (ca. ein Viertel der Fläche) zur Errichtung einer Bushaltestelle ab.
Exkursionen, Vorträge und Seminare von Bernhard Gelderblom in den Jahren 1989, 1994 und 1998 stießen auf wachsendes Interesse der Einwohner. Im Anschluss an das Seminar 1998 kam es zu einer Petition Coppenbrügger Bürger, die eine Rückgabe der Fläche an den Landesverband der Jüdischen Gemeinden forderten sowie die Rückführung der alten Torpfosten und die Aufstellung einer Informationstafel. Alle drei Punkte konnten in der Folge umgesetzt werden. Die Informationstafel wurde am 9. November 1998 eingeweiht. Sie enthält auch die Namen der aus Coppenbrügge stammenden Deportierten.
In Vorbereitung auf eine Buchpublikation gab Bernhard Gelderblom am 10. September 2015 einen „Werkstattbericht“ insbesondere zu den Ereignissen in Coppenbrügge in der NS-Zeit. Die Publikation „Die Juden von Coppenbrügge“ wurde am 10. November 2016 im Ort vorgestellt. Sie will nicht nur an die Opfer erinnern, sondern beschreibt auch das Handeln derer, die als Täter oder Mitläufer zum Geschehen beigetragen haben. Der Flecken Coppenbrügge war bereit, die Druckkosten zu tragen.
- Die 1998 an ihren Ursprungsort zurückgekehrten Torpfosten des jüdischen Friedhofs Coppenbrügge, 2015. Foto: Bernhard Gelderblom)
- Die 1998 aufgestellte Erinnerungstafel des Fleckens Coppenbrügge am jüdischen Friedhof, 2005. Foto: Bernhard Gelderblom
Weiterführende Literatur und Links
Bernhard Gelderblom, Ortsartikel Coppenbrügge, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bände, Göttingen 2005, S. 429-435.
Bernhard Gelderblom, Die Juden von Coppenbrügge, Holzminden 2016.
Orte der Erinnerung für die Opfer des Nationalsozialismus im Kreis Hameln-Pyrmont und angrenzenden Orten: Coppenbrügge
http://www.geschichte-hameln.de/erinnerungsorte/coppenbruegge.php?ort=coppenbruegge
Die Dokumentation der Opfer der NS-Herrschaft in der Stadt Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont: Deportierte jüdische Bürger aus Coppenbrügge
http://www.geschichte-hameln.de/gedenkbuch/gedenkbuch.php
Der jüdische Friedhof Coppenbrügge
Autor: Bernhard Gelderblom, Hameln
Polle
Vorgeschichte
Die ersten Juden in Polle, einer kleinen hannoverschen Exklave inmitten braunschweigischer und lippischer Gebiete, sind für das Jahr 1671 nachweisbar. 1825 lebten fünf jüdische Familien im Ort. Hausbesitz war selten und sollte die Ausnahme bleiben.
Das Steueraufkommen der jüdischen Familien war gering. Von sechs jüdischen Familien, die 1856 in Polle wohnten, zahlten drei keine Steuern, waren also arm. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts blieb die Rechtsstellung der Poller Juden schlecht.
Die volle Gleichberechtigung brachte das Jahr 1867 mit dem Ende des Königreiches Hannover und der von Preußen beeinflussten großzügigen Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes. Mit diesem Datum beginnt der Aufstieg der Poller Juden.
1873 finden sich fünf Hausbesitzer, später vier. Es gab in Polle mindestens zwei offene Ladengeschäfte. Die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren die Blütezeit der jüdischen Gemeinde Polle.
Ein gemieteter Betsaal in einem Hinterhaus ist seit 1843 in Polle nachweisbar. 1872 wurde ein Jude Schützenkönig, ein Hinweis darauf, dass das Zusammenleben von Christen und Juden in Polle harmonisch verlief.
Die Landflucht setzte in Polle, das keinen Bahnanschluss bekam und verkehrstechnisch sehr ungünstig lag, sehr früh ein. Seit 1912 lebte nur noch eine Familie am Ort, die Familie Max Nachmann. Ohne eine formelle Auflösung war die jüdische Gemeinde erloschen.
Die Ereignisse im November 1938
Am 9. oder 10. November 1938 versammelten sich Poller Bürger vor dem Nachmannschen Wohn- und Geschäftshaus in der Burgstraße 27, zertrümmerten mit Steinen die Fensterscheiben der im ersten Stock liegenden Wohnung und verwüsteten diese. Unter den Steinewerfern sollen zahlreiche Kinder gewesen sein; wer am besten warf, bekam einen Bonbon.
Am 10. November 1938 gegen 9 Uhr morgens lieferten Poller SA-Männer die Eheleute Max und Minna Nachmann in das Gefängnis Bodenwerder ein. Als Grund war „Schutzhaft“ angegeben. Bei ihrer Einlieferung hatte man ihnen verschiedene Gegenstände abgenommen (u. a. Bargeld, eine Taschenuhr mit Kette, drei Schlüssel).
Die Anordnung kräftige und gesunde Männer zu verschleppen, hatte die Poller SA in ihrem Übereifer übersehen. Max Nachmann war damals 73 Jahre alt und schwer krank. Frauen sollten gar nicht festgenommen werden.
Am nächsten Tage wurden die beiden wieder frei gelassen und konnten nach Polle zurückkehren. Auch die beschlagnahmten Gegenstände wurden ihnen wieder ausgehändigt.

Protokoll über die Einlieferung von Max und Minna Nachmann in das Gefängnis Bodenwerder. Am Ende des Blattes befindet sich der handschriftliche Zusatz:
„Die aufgeführten Gegenstände sind mir heute wieder ausgehändigt. Bod. (= Bodenwerder), d. 11.11.38, gez. Max Nachmann.“ Sammlung Bernhard Gelderblom
Auf dem jüdischen Friedhof, der in extremer Lage auf dem Birkenberg hoch über dem Ort liegt, sollen 40 – 50 Grabsteine gestanden haben. Die Einfriedung des Grundstücks bestand aus aufrecht stehenden großen Sandsteinplatten. Einige Tage nach dem 10. November 1938 wurde der Friedhof von der örtlichen SA zerstört, die zahlreichen Steine abgefahren und weiterverwendet. Über ihren Verbleib ist nichts bekannt.
Folgen
Die Eheleute Nachmann sollen es in der Folge sehr schwer gehabt haben, ihre täglichen Einkäufe zu erledigen. Sie haben ärmlich und völlig zurückgezogen gelebt. Aber sie hatten auch zu dieser Zeit noch Freunde, die halfen.
Nach dem Tod von Max Nachmann 1940 zog Julius Rothenberg, der jüngere Bruder von Minna Nachmann, aus Dassel nach Polle zu seiner Schwester. Das Amtsgericht Bad Pyrmont hatte ihn zu ihrem Pfleger eingesetzt.
Minna Nachmann und ihr Bruder Julius Rothenberg wurden einige Tage vor dem 24. Juli 1942 auf Anordnung des Landrats von Hameln-Pyrmont aus Polle nach Hannover-Ahlem verschleppt. Laut Augenzeugen wurden mit einem PKW abgeholt.
Die neunundsiebzigjährige Minna starb wenige Tage nach ihrer Ankunft am 3. August 1942 in Theresienstadt, ihr sechs Jahre jüngerer Bruder wenige Monate später am 25. Dezember 1942.
Möbel, Bilder und Hausrat der letzten jüdischen Familie des Ortes wurden öffentlich versteigert, das Geld an das Finanzamt Hameln abgeführt.
Biografie - Max Nachmann
Die Familie Nachmann ist wahrscheinlich die älteste jüdische Familie Polles. Die „Manufaktur- und Modewarenhandlung Nachmann Meyer Nachmann“ übernahm der 1865 geborene Max Nachmann von seinem Vater. Um 1900 baute er das Haus in der Burgstraße 27 als Wohn- und Geschäftshaus.
Max Nachmann war mit Minna Rothenberg aus Dassel verheiratet. Zwei Töchter waren früh verstorben. Sohn Robert (geb. 1896) verließ Polle und etablierte sich in Oerlinghausen mit einem Produktengeschäft.
Die Familie lebte bescheiden. Minna Nachmann hat nicht koscher gekocht. Für ihren Mann war es selbstverständlich, das Geschäft am Sabbat zu öffnen. Weihnachten feierte die Familie zusammen mit befreundeten christlichen Familien des Ortes. Bis 1933 sollen Nachmanns im Bewusstsein des Ortes gar nicht als Juden präsent gewesen sein.
Das Kleidergeschäft ging gut und war wegen der Qualität seiner Waren bekannt. Max Nachmann pflegte mit seinem Musterkoffer auch über die Dörfer zu ziehen. „Schammel“ genannt, sprach er mit den Leuten auf den Dörfern „platt“ und betätigte sich auch als Heiratsvermittler.
Bereits 1922 nahm Max Nachmann seinen Angestellten Wilhelm Klages als Teilhaber auf. 1935 wurde Klages Alleininhaber. Dieser Wechsel sollte das Geschäft vor den üblichen Boykotten schützen.
Der 1935 bereits schwer kranke, 70 Jahre alte Max Nachmann wollte weiter verkaufen. Um nicht gesehen zu werden und um niemanden zu kompromittieren, kam er nach Einbruch der Dunkelheit in die Häuser. Als er denunziert und in Bodenwerder über Nacht eingesperrt wurde und am nächsten Tag die vierzehn Kilometer nach Polle zu Fuß laufen sollte, fanden sich Leute, die dem alten Manne halfen.
Das Geld aus dem Grundstücksverkauf an Max Klages unterlag der Devisenüberwachung durch das Finanzamt, musste auf ein Sperrkonto gehen, aus dem monatlich 300 RM zum Lebensunterhalt ausgezahlt wurden.
1940 erkrankte Max Nachmann so schwer, dass er für eine Operation in das israelitische Krankenhaus in Hannover gehen musste. Dort starb er am 21. April 1940. Max Nachmann wurde auf dem jüdischen Friedhof in Hannover-Bothfeld begraben. Sein Grab hat keinen Stein erhalten.
Justizielle Ahndung
Robert Nachmann, der Sohn der Eheleute Nachmann, ist nach dem Kriege nie nach Polle zurückgekommen. Er strengte jedoch gegen Wilhelm Klages einen Prozess auf Wiedergutmachung an, und Klages musste Geld nachzahlen.
Eine juristische Aufarbeitung hat es darüber hinaus nicht gegeben.
Spuren und Gedenken
An das jüdische Leben in Polle erinnert allein der kleine jüdische Friedhof. Das Gelände ist von einem Jägerzaun umfasst und von Birken sowie einer mächtigen Eiche bestanden. Es ist ohne Grabsteine, und auch Reste von Grabfeldern sind nicht erkennbar. Das Grundstück ist im Besitz der politischen Gemeinde Polle, die auch für die Pflege verantwortlich ist.
Auf dem Grundstück steht ein Gedenkstein, wie ihn der Landesverband der jüdischen Gemeinden in Hannover in den sechziger Jahren auch auf anderen „abgeräumten“ Friedhöfen der Umgebung gesetzt hat. Neben einer hebräischsprachigen Inschrift finden sich zwei deutschsprachige Inschriften.
Das 2003 erschienene Buch von Bernhard Gelderblom, Jüdisches Leben im mittleren Weserraum zwischen Hehlen und Polle, widmet Polle auf den Seiten 251-273 eine Darstellung.
Eine Wirkung auf die Erinnerungskultur des Ortes zeigte Bernhard Gelderbloms Vortrag zum Jüdischen Leben in Polle am 25. September 2018. Verabredet wurde u.a. Informationstafel am jüdischen Friedhof aufzustellen und fremdverwendete Grabplatten auf den Friedhof zurückzustellen.
- Der jüdische Friedhof mit dem in den 1960er Jahren gesetzten Gedenkstein. Foto: Bernhard Gelderblom
- Fragment eines Grabsteins, 2018. Foto: Bernhard Gelderblom
Weiterführende Literatur und Links
Bernhard Gelderblom, Jüdisches Leben im mittleren Weserraum zwischen Hehlen und Polle. Von den Anfängen im 14. Jahrhundert bis zu seiner Vernichtung in der nationalsozialistischen Zeit. Ein Gedenkbuch, Holzminden 2003, S. 251-273
Bernhard Gelderblom, Ortsartikel Polle, in Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bände, Göttingen 2005, S. 1288-1291
Autor: Bernhard Gelderblom, Hameln
Bad Münder
Die Vorgeschichte
Mitte des 16. Jahrhunderts sind in Münder drei Juden namentlich bekannt. Ab 1700 ist eine jüdische Gemeinde nachweisbar, deren Mitglieder Schutzbriefe vom Amt Springe erhielten. Ein Friedhof ist seit 1782 bezeugt.
1806 und 1814 erwarben Juden Bürgerhäuser, erhielten aber nicht die Bürgerrechte. 1821 gab es 55 Juden im Ort – bei gut 2.200 Einwohnern. Sie handelten mit Vieh, Lederwaren und Getreide, waren im Fleischereigewerbe, als Klempner und als Lotteriekollekteure tätig.
Gottesdienste sind in einem Privathaus seit 1785 belegt. 1835 genehmigte der Rat den Juden, das Bürgerhaus Deisterallee 3 für die Einrichtung einer Synagoge und Mikwe zu erwerben. Die Absicht, dort auch eine Schule einzurichten, konnte zunächst nicht realisiert werden.
Die meisten Juden der Stadt waren „dürftig bis arm“. Allein vier Familien, darunter zwei mit Hausbesitz, waren in der Lage, sich an den Gemeindeabgaben zu beteiligen und wurden als einigermaßen wohlhabend bezeichnet.
1906 lebten noch 28 jüdischer Einwohner in Münder. Bis 1930 sank die Zahl auf 19 Personen (Familien Windmüller, Friedheim, Herzberg und Hammerschlag).
Die Reichstagswahlen vom 5. März 1933 brachten der NSDAP mit 50,2 Prozent der Stimmen ein in der Region überdurchschnittliches Ergebnis.
1935 waren noch neun Juden in Münder sowie ein weiterer im benachbarten Hachmühlen ansässig. Hinzu kamen zwei so genannte Jüdische Mischlinge Ersten Grades in Eimbeckhausen. Obwohl im Zeitraum 1935-1939 drei Personen starben, stieg die Zahl der jüdischen Einwohner in Münder durch Zuzüge in diesem Zeitraum leicht an. 1939 gelang zwei Personen die Flucht ins Ausland.
Die Ereignisse im November 1938
Die Synagoge war ein hoher Raum mit Rundbogenfenstern und einem blauen Sternenhimmel unter der Decke. An der östlichen Wand befand sich der Schrein zur Aufbewahrung der Thorarolle, im Westen die Empore für die Frauen. Im Nachbargebäude war zeitweise die Schule der Gemeinde untergebracht.
Am 9. November 1938 zerstörten ortsansässige SA-Männer gemeinsam mit einem SA-Führer aus Springe die Fenster und demolierten das Innere der Synagoge. Wegen der Gefährdung der benachbarten Häuser konnten sie das Gebäude nicht in Brand setzen, und da im angrenzenden, ebenfalls der jüdischen Gemeinde gehörenden Wohnhaus eine nichtjüdische Familie lebte, blieb auch dieses verschont. Eine Zeitzeugin, damals Schülerin, berichtete, von der Schule aus seien die Kinder zum zerstörten „Judentempel“ geführt worden.
Die Polizei stellte die Personenstandsregister sicher und übergab sie der Staatspolizeileitstelle Hannover. Der Verbleib der Kultgegenstände, vor allem der Thorarolle lässt sich nicht mehr nachvollziehen.
Folgen
Gemäß Weisung wurden drei jüdische Männer nach Buchenwald verschleppt, aus Bad Münder Louis Windmüller und Hermann Friedheim, aus Hachmühlen Walter Kosterlitz. Nach seiner Rückkehr aus Buchenwald musste Louis Windmüller den jüdischen Besitz an Immobilien verkaufen. Das betraf das eigene Haus und den Besitz der Gemeinde an der Synagoge und dem Friedhof.
Für den Verkauf von Synagoge und Friedhof hatte Louis Windmüller Friedrich Wingerter als Käufer gewinnen können, der in dem der Synagoge benachbarten Wohnhaus im Erdgeschoss zur Miete wohnte. Das im Kaufvertrag vorgesehene lebenslange Wohnrecht für die beiden jüdischen Schwestern Frieda und Henny Hammerschlag wurde vom Regierungspräsidenten abgelehnt. Die Synagoge diente in der Folge als Lagerraum einer Spedition.
Die Bad Mündener Juden wurden 1942 in drei Transporten deportiert. Am örtlichen Feuerlöschteich mussten sie unter den Augen der Bevölkerung auf einen LKW steigen, der sie zunächst nach Hannover-Ahlem transportierte. Von dort wurden sie in den Osten deportiert und ohne Ausnahme ermordet.
Der Friedhof war ein ursprünglich sehr großes, weit vor der Stadt liegendes Grundstück (fast 2.500 qm). Nach der Pogromnacht ging die unbelegte Hälfte des Geländes in den Besitz von Friedrich Wingerter über. Mit der Begründung, dass er jedem Kurgast und Spaziergänger störend ins Auge falle, beantragte der Mündener Bürgermeister Kleineck 1939 die Einebnung des Friedhofs und die Errichtung eines Kleinkaliberschießstandes. „Judenleichen“ aus Bad Münder sollten künftig auf dem abgelegenen Friedhof in Lauenau bestattet werden.
Der Regierungspräsident ordnete daraufhin die Schließung des Friedhofs an. Eine „Umnutzung“ des Geländes für einen Schießstand lehnte er aber ab, weil die „vorgeschriebene Verwesungszeit“ noch nicht abgelaufen sei. 1941 kaufte Wingerter auch den restlichen Teil des Friedhofes. Entgegen der im Kaufvertrag eingegangenen Verpflichtung, „während der Liegezeit die angemessene Instandhaltung von Friedhof und Gräbern vorzunehmen“, wurde das Gelände eingeebnet und als Gemüsegarten genutzt.
Biographie – Familie Friedheim
Die Familie Friedheim war eine der ältesten jüdischen Familien der Stadt, die seit 1850 fast ununterbrochen die Gemeindevorsteher stellte. Arnold Friedheim besaß um 1909 das größte Konfektionsgeschäft der Stadt.
1933 lebten in Münder die Eheleute David und Emma Friedheim mit ihrem 25 Jahre alten Sohn Hermann in der Obertorstraße 10. Nachdem David 1935 verstorben war, wechselten seine Witwe und ihr Sohn mehrfach in Münder den Wohnort.
Im Anschluss an die Pogromnacht wurde Hermann Friedheim in das KZ Buchenwald verschleppt. Nach seiner Rückkehr musste er den Viehhandel aufgeben.
Im August 1939 heiratete er Sophie Culp aus Hameln. Diese war 1909 als Tochter von Benjamin und Rosa Culp geboren worden. Ihr Vater hatte sich evangelisch taufen lassen, während ihre Mutter Rosa am Judentum festhielt. Auch Sophie war evangelisch getauft. Die Volkszählung des Jahres 1939 hatte sie wegen der jüdischen Großeltern allerdings als Jüdin erfasst.
Sophie Culp blieb lange unverheiratet und lebte in der sehr ärmlichen Wohnung ihrer Mutter Rosa in Hameln. 1936 hatte sie die Tochter Ingrid zur Welt gebracht. Der Vater war ein Hamelner „Arier“. Dessen Familie soll auf der Trennung von der jüdischen Frau bestanden haben. Die Nürnberger Gesetze verboten Heiraten zwischen Juden und Ariern.
Nach der Heirat zog Sophie mit ihrer Tochter zum Ehemann nach Bad Münder. Am 1. Juli 1942 wurde die Familie in das „Judenhaus“ in Hannover-Ahlem eingeliefert. Dort mussten die Eltern Zwangsarbeit leisten. Acht Monate blieben Friedheims im völlig überfüllten Ahlem.
Am 2. März 1943 wurde die Familie nach Auschwitz deportiert. Hermanns Todesdatum wird im Gedenkbuch des Bundesarchivs mit dem 5. Juli 1943 angegeben. Auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau war er für „arbeitsfähig“ befunden und von seiner Frau und ihrer Tochter getrennt worden. Mütter mit kleinen Kindern wurden sofort in die Gaskammer geschickt.
Justizielle Ahndung
Eine juristische Aufarbeitung hat es nicht gegeben.
Spuren und Gedenken
1953 erhielt der Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen einen 937 qm großen Teil des Friedhofsgrundstücks zurück. Ohne Kenntnis der ursprünglichen Standorte der Grabsteine ließ dieser 1961 den Friedhof wiederherstellen. Von den 1939 vorhandenen 39 Steinen konnten 28 gesichert und wieder aufgestellt werden.
An das vernichtete jüdische Leben in Münder erinnerte allein eine Tafel, die 1988 versteckt im Hauseingang am Standort der ehemaligen Synagoge angebracht worden war. Eine reflektierte Erinnerungskultur begann am 9. November 2010 mit einem Vortrag von Bernhard Gelderblom über das jüdische Leben in Bad Münder. Eine Führung über den jüdischen Friedhof schloss sich 2011 an.
In der Folge konstituierte sich eine Arbeitsgruppe, der neben weiteren Personen der Bürgermeister, die örtliche Landtagsabgeordnete, der evangelische Pastor und Bernhard Gelderblom angehörten. Sie beschloss, am Ort der ehemaligen Synagoge, am Löschteich als dem Ort der Deportationen und am jüdischen Friedhof Informationstafeln aufzustellen. Diese wurden am 15. September 2014 unter großer Beteiligung der Bevölkerung eingeweiht.
Am 23. September 2015 legte Gunter Demnig in Bad Münder acht Stolpersteine und im benachbarten Hachmühlen einen Stolperstein.

Stolpersteine für Eugen und Hedwig Chana Herze sowie für Hermann und Sophie Friedheim und für Ingrid Friedheim, 2015. Foto: Bernhard Gelderblom
- Die im Jahre 2014 aufgestellten Tafeln am jüdischen Friedhof und an der ehemaligen Synagoge, 2014. Foto: Bernhard Gelderblom
- Die im Jahre 2014 aufgestellten Tafeln am jüdischen Friedhof und an der ehemaligen Synagoge, 2014. Foto: Bernhard Gelderblom
Weiterführende Literatur und Links
Anke Quast, Ortsartikel Münder, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bde., Göttingen 2005, S. 1082-1086.
Heiko Arndt, „Kampfzustände“. Alltag, Streit und Radikalisierung im nationalsozialistischen Bad Münder, Bielefeld 2014.
Dokumentation der Opfer der NS-Herrschaft in der Stadt Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont: Deportierte jüdische Bürger aus Bad Münder
http://www.geschichte-hameln.de/gedenkbuch
Orte der Erinnerung für die Opfer des Nationalsozialismus im Kreis Hameln-Pyrmont und angrenzenden Orten: Bad Münder
http://www.geschichte-hameln.de/erinnerungsorte/badmuender
Der jüdische Friedhof Bad Münder
http://www.gelderblom-hameln.de/judenhameln/friedhoefe/judenfriedmuender
Autor: Bernhard Gelderblom, Hameln
Salzhemmendorf
Vorgeschichte
Erste Nachrichten über Juden in Salzhemmendorf gehen auf das 17. Jahrhundert zurück. Im 19. Jahrhundert lebten durchschnittlich fünf bis sechs Familien am Ort, davon waren drei bis vier im Besitz eines Hauses. Die Gemeinde verfügte über ein Synagogengebäude, das zugleich als Schule und Lehrerwohnung diente.
Als wegen der starken Landflucht die Schule 1903 geschlossen wurde und die Lehrerwohnung leer stand, mietete die Familie des Schlachters Davidsohn – die letzte in Salzhemmendorf verbliebene jüdische Familie – das Synagogengebäude. Gottesdienst wurde weiter gehalten; aber nebenan wurde unter der Woche Fleisch verkauft.
Robert Davidsohn übernahm nach seiner Entlassung aus dem Heer 1919 die Schlachterei und den Viehhandel des Vaters. Zeitzeugen beschreiben ihn als typischen „Landjuden“: Er schlachtete vor allem Ziegen und Schweine, zog über Land in die benachbarten Dörfer, das Zugseil der Ziegen um den Bauch gebunden, kaufte und verkaufte. Alles sei recht bescheiden zugegangen. Robert wird als klein, gesetzt und von breiter Figur beschrieben. Er sei beliebt, ein „feiner Kerl“ und im Dorf integriert gewesen. 1930 baute er auf dem Hof des Grundstücks ein modernes Schlachthaus.
Erich, das einzige Kind der Eheleute, wurde 1922 in Hannover geboren. Außerdem lebte seit 1927 die Tochter von Elfriede Davidsohns Schwester, Juliane Guttmann, im Haushalt, die zwei Jahre jünger als Erich war.
Seit 1935 bemühten sich Davidsohns um die Auswanderung. Robert plante eine Ansiedlung als Landwirt in Argentinien. Um dafür eine Zulassung zu bekommen, musste die Familie spezielle Kenntnisse nachweisen. Ihren Sohn schickten die Eltern deswegen für drei Monate auf ein Hachschara-Lager in Schlesien.
1913 zog die Familie Heilbronn aus dem nahen Wallensen zu. Die Familie war wohlhabend und gesellschaftlich integriert („Sie hatten guten Verkehr, alles nur mit der Obrigkeit“). Sohn Moritz war Mitglied im Salzhemmendorfer Männergesangsverein „Harmonia“.
1922 kauften Vater Carl und Sohn Moritz Heilbronn ein fast 2000 qm großes Grundstück und errichteten darauf ein stattliches Wohn- und Geschäftshaus. Wegen der beginnenden Industrialisierung in Salzhemmendorf konnte sich das Manufakturwarengeschäft gut entwickeln.
Moritz fuhr auch mit dem Auto über Land, um Kunden in ihren Häusern aufzusuchen. Umsatzeinbußen durch die Boykotte versuchte er durch vermehrte Direktverkäufe zu kompensieren.
1935 starb Moritz im Stadtkrankenhaus in Hannover an akutem Herztod. Laut Aussage seiner Witwe Gertrud „… überstand (er) nicht die Verfolgung der damaligen Regierung mit den damit verbundenen Nöten und Sorgen“. Auch Zeitzeugen betonen, er sei aus Gram wegen der Vernichtung seines Geschäftes gestorben.
Gertrud Heilbronn versuchte nach dem Tod ihres Mannes vergeblich, das Geschäft weiter zu führen. 1937 ordnete das Amtsgericht Lauenstein die Zwangsversteigerung an. Die Kreissparkasse ersteigerte das Grundstück für 24.000 RM. Gertrud Heilbronn zog anschließend zu ihrer Mutter nach Clausthal-Zellerfeld.
- Erich, Elfriede und Robert Davidsohn sowie Juliane Guttmann in Hannover, 1939. Mel Davidsohn, Großbritannien
- Haus Heilbronn, Luftbild, undatiert. Archiv des Fleckens Salzhemmendorf
Die Ereignisse im November 1938
Am 12. Oktober 1938 schlossen die Behörden das Geschäft von Robert Davidsohn. Am 10. November 1938 um 5 oder 6 Uhr morgens zerschlug SA die Fensterscheiben des Synagogenraumes und zertrümmerte die Inneneinrichtung. Nach Aussagen von Zeitzeugen waren örtliche SA-Männer die Täter; andere nennen die SS aus Lauenstein.
Robert Davidsohn wurde am folgenden Tage zusammen mit dem 16-jährigen Erich zuerst in das Zuchthaus Hameln und dann in das KZ Buchenwald verschleppt. Robert erhielt im KZ zahlreiche Schläge auf den Kopf und Tritte in die Leisten und beklagte später einen doppelten Leistenbruch und Hörschäden.
Weil sie sich im Ort „stark angefeindet“ fühlte, ging Elfriede Davidsohn mit der 14-jährigen Adoptivtochter Juliane nach Hannover zu ihrer Schwester. Eine befreundete Familie brachte die beiden zum Bahnhof nach Voldagsen.
Der Friedhof, ein langgezogener, von einer Hecke umgebener Geländestreifen am südöstlichen Ortsrande, wurde ebenfalls am 9. November 1938 zerstört.
Folgen
Wegen eines Zahlungsbefehls des Landwirts Heinrich Schäfer, dem Robert 1.000 RM schuldete, verschaffte sich Bürgermeister Heinrich Eickhoff in der Zeit der Abwesenheit der Familie Davidsohn Zugang zum Haus. Teile der Fleischerei ließ er pfänden und anschließend versteigern. Nach Aussagen von Elfriede Davidson wurden aber auch Teile ihrer Aussteuer gepfändet. Ob es darüber hinaus – wie Davidsohns glaubten – einen Einbruch und eine Plünderung der Einrichtung gegeben hat, wird sich nicht mehr klären lassen.
Das Haus verkaufte Elfriede Davidsohn als Bevollmächtigte der israelitischen Gemeinde an den Landwirt Konrad Mäkeler. Der Synagogenraum soll ihm als Schweinestall gedient haben. Aus dem Holz der zerschlagenen Synagogenbänke hätten Mäkelers eine neue Bank gebaut, die sie „Judenbank“ nannten.
Robert Davidsohn wurde am 12. oder 13. Dezember 1938 – eine Woche nach seinem Sohn – aus dem KZ Buchenwald entlassen. Die Familie zog nach Hannover zur Schwester von Elfriede Davidsohn. Einige Möbel und Kleidung hatte sie aus Salzhemmendorf mitnehmen können.
Beide Männer mussten Zwangsarbeit leisten. Robert intensivierte nun seine Bemühungen um Auswanderung. Am 16. Juni 1939 – wenige Wochen vor Hitlers Überfall auf Polen – schifften sich Robert und Elfriede Davidsohn sowie Juliane Guttmann in Hamburg zur Fahrt nach Buenos Aires ein. Im Gepäck führten sie die wertvolle Thorarolle der Salzhemmendorfer Synagoge mit. In Argentinien erhielten Davidsohns ein Stück unbestelltes Land mit einem Wohnhaus sowie ein Pferd und eine Kuh. Die Anfänge waren hart.
Gertrud Heilbronn gelang sehr spät die Ausreise. Anfang Mai 1941 fuhr sie per Bahn von Berlin nach Lissabon. Dort musste sie zwei Wochen warten. Da das Schiff wegen des Krieges eine andere Route einschlagen musste, dauerte die Fahrt mit der portugiesischen „Guinèe“ von Lissabon nach New York drei Wochen. Am 21. April 1941 erreichte sie schließlich New York.
Biografie - Erich Davidsohn
Dass Erich Davidsohn als Jude in Deutschland unerwünscht war, bekam er zu spüren, als er Ostern 1935 eine Lehrstelle suchte. Er schreibt:
„Ich war auf einige Wochen bei einem Baumeister in Salzhemmendorf, aber es wurde Druck auf ihn ausgeübt, mich zu entlassen.Da ich keine Auswahl hatte, ging ich in die Lehre bei meinem Vater […] . Diese Ausbildung dauerte aber nicht lange, denn im Jahr 1938 wurde das Geschäft geschlossen.“
Die Kreisberufsschule schloss Erich 1936 vom Besuch aus. Dafür war eigens die Satzung der Schule geändert worden. Der § 1 Ziffer 1 der Kreisberufsschulsatzung erhielt 1936 den Wortlaut:
„Zum Besuche der für den Bezirk des Kreises Hameln-Pyrmont errichteten Berufsschulen sind verpflichtet: Alle […] reichsangehörigen Jugendlichen deutschen oder artverwandten Blutes […] unter 18 Jahren. Hameln, den 11. September 1936, Lambert. Landrat.“
In Erichs Erinnerungen liest sich der Ablauf der Ereignisse des 9. November folgendermaßen:
„On the morning […] at approx. 6 am about 4 men in brown SA-uniforms and the local policeman came into the synagogue and the 4 men smashed the benches and threw the books about – but didn’t touch the Ark or the curtain in front of it [= den Thoraschrein]. The policeman stood by, but did not touch anything. The big fellows didn’t have much trouble breaking the benches which were old and fragile.
[…] Nothing else in the house was touched and my parents thought that this was because of the policeman’s influence, who told us to stay indoors.“
Über den Aufenthalt im KZ Buchenwald schreibt er:
„We were separated in our own compound which consisted of 5 huge huts each accommodating 2000 men. In the huts was a shelving system for use as beds, into which we crawled – about 8 shelves [= Regal] each about 27 inches high and we could not sit up in them. […]
The first food was brought the next morning. It consisted of one army loaf [= Laib Brot] between 6 to 8 of us and one cup of liquid which was called coffee. Lunchtime we got some sort of broth [= Brühe] which was made from either fish or meat. Those who were very frum were told by the Rabbi’s to eat whatever was given – some did and some only ate the breads. […]
During the day we had to leave the huts and either stand in line and not move or sit all day cross-legged and not move – a very subtle living torture. There were daily beatings whenever guards felt like it. Bloody heads were common. Lots of men, in particular the older ones, died under those conditions. There were quite a few doctors and they did what they could. In fact, they did an appendix operation and the man survived! There were too many incidents to recall. Of course, we saw lots of men dying. There were gruesome incidents which I don’t want to recall here.“
Möglicherweise wegen seines jugendlichen Alters konnte Erich das KZ Buchenwald verhältnismäßig früh verlassen. Seine Entlassung schildert Erich folgendermaßen:
„After the first week names were called and releases started. On the morning of 6 December my name was called. You had to rush to the gate or miss being released. A quick farewell with my father and I was away. We had to stand in line near the offices all day and not move. No food was given and, worst of all, we couldn’t go to the toilet. We were then given money for the rail fare and were bussed to the station. Several of us got on the train direct to Hanover and we arrived in the middle of the night. The other people on the train kept well away from us, possibly because they knew who we were and where we had been. And, of course, we were very dirty and literally stank. […]
My mother had gone to the local Gestapo every day asking for my father’s and my release. After the welcoming was over I had a little food and drink. The dirty clothes came off and into a bath and some sleep. Next day we had to report to the Gestapo and my mother and I had to sign that I was hale [= gesund] and hearty.“
Überraschend gelang Erich am 6. Februar 1939 die Auswanderung nach England. Seine Mutter hatte ihn, während er im KZ Buchenwald einsaß, dafür angemeldet.
Nach der Landung in Harwich kam Erich in das Kitchener Camp. Das Arbeitsamt vermittelte ihn als Landarbeiter und er musste gegen Kost und Logis arbeiten. Nur unregelmäßig erreichten ihn Briefe seiner Eltern aus Argentinien. Er hat sie nie wieder gesehen.
Justizielle Ahndung
Vor dem Wiedergutmachungsgericht beim Landgericht Hannover kam es 1950 bis 1953 zu einem gerichtlichen Verfahren „Heilbronn gegen Kreissparkasse Hameln“. Die Jewish Trust Corporation hatte einen Rückerstattungsanspruch angemeldet. Der Ausgang des Verfahrens war nicht in Erfahrung zu bringen. Die Kreissparkasse durfte das Haus behalten.
Auch Davidsohns versuchten, Entschädigungsleistungen zu bekommen. In den mehrere Jahre dauernden Auseinandersetzungen betonte die Gemeinde Salzhemmendorf, die als Zeugin gehört wurde, beharrlich, Roberts Laden sei klein und „primitiv“ gewesen. Bis 1930 habe er nur mit Schrott, Ziegen und Ziegenlämmern gehandelt. Danach habe er höchstens ein Schwein pro Woche und ein Großtier alle sechs Wochen geschlachtet. Die Schäden des 9. November 1938 hätten sich auf den Synagogenraum beschränkt, und bei der Zwangsvollstreckung seien nur Fleischereigegenstände, nicht aber Privateigentum versteigert worden.
Es will aus heutiger Sicht nicht einleuchten, warum es Davidsohns von der Gemeinde Salzhemmendorf so schwer gemacht wurde, wenigstens die materiellen Schäden, die sie erlitten hatten, erstattet zu bekommen.
Die Wiedergutmachungskammer erkannte schließlich auf eine einmalige Zahlung an Robert in Höhe von 4.222,80 DM für „Schäden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen“. Seit 1956 erhielt Robert außerdem eine Rente in Höhe von monatlich 270 DM.
Spuren und Gedenken
Nach 1945 wurden 17 Steine des Friedhofs, die sich erhalten hatten, wieder aufgestellt. 1955 wurden sie erneut umgekippt. Seitdem sind sie in Beton eingegossen, was in mehreren Fällen dazu geführt hat, dass Teile der Inschriften nicht mehr lesbar sind. Leere Grabfelder, aber auch sonstige Lücken weisen darauf hin, dass nicht wenige Steine vom ursprünglichen Bestand fehlen.
Heute ist der Friedhof im Besitz des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen. Mit seinem vergleichsweise reichen Bestand an Steinen ist er einer der wertvollsten Zeugnisse der jüdischen Friedhofskultur im Landkreis Hameln-Pyrmont.
Im Jahre 2009 verabredete die Gemeinde Salzhemmendorf mit Bernhard Gelderblom Recherchen zum jüdischen Leben in den Gemeinden des Fleckens Salzhemmendorf. In jedem Ort des Fleckens, in dem es jüdisches Leben gegeben hatte, also in Duingen, Wallensen, Lauenstein und in Salzhemmendorf, sollte Gelderblom einen Vortrag halten. Die Gemeinde wollte ihrerseits die Einwohnermeldelisten und die Standesamtsunterlagen durchsehen und eine Publikation bezuschussen.
Über seine Ergebnisse für Salzhemmendorf berichtete Bernhard Gelderblom am 9. April 2010 in einem Vortrag. Das war der Start für eine reflektierte Erinnerungskultur im Ort.
Als erstes wurde eine Tafel am Rathaus angebracht, die daran erinnert, dass die jüdische Familie Heilbronn das Haus erbaut und als Kaufhaus genutzt hat. Im Wege eines Grundstückstausches war das Haus 1966 von Kreissparkasse an den Landkreis Hameln-Pyrmont gekommen und anschließend an den Flecken verkauft worden. Seitdem wurde es als Rathaus genutzt.
Eine Informationstafel am jüdischen Friedhof wurde am 15. Juni 2012 unter reger Beteiligung der örtlichen Schule eingeweiht. Die Gemeinde Salzhemmendorf erklärte sich zur Pflege des Friedhofs bereit.
- Einweihung der Informationstafel am jüdischen Friedhof, 2012. Foto: Bernhard Gelderblom
- Einweihung der Informationstafel am jüdischen Friedhof, 2012. Foto: Bernhard Gelderblom
Im Jahre 2013 wurde die Publikation von Bernhard Gelderblom „Die Juden in den Dörfern des Fleckens Salzhemmendorf“ in Salzhemmendorf vorgestellt.
Die Gedenktafel für die ehemalige Synagoge wurde am 23. Januar 2015 vor dem Haus in der Kampstraße eingeweiht.
- Gedenktafel für die ehemalige Synagoge in der Kampstraße, 2015. Foto: Bernhard Gelderblom
- Gedenktafel für die ehemalige Synagoge in der Kampstraße, 2015. Foto: Bernhard Gelderblom
Am 19. April 2016 legte Gunter Demnig in Erinnerung an die Familien Heilbronn und Davidsohn Stolpersteine. Zer Verlegung waren Angehörige der Familie Davidsohn aus Großbritannien nach Salzhemmendorf gekommen.
- Stolpersteine für die Familie Davidsohn vor dem Haus Kampstraße 9. Foto: Bernhard Gelderblom
- Nachkommen der Familie Davidsohn aus Großbritannien bei der Einweihung, 2016. Fotos: Bernhard Gelderblom
Weiterführende Literatur und Links
Gelderblom, Bernhard, Salzhemmendorf, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bde., Göttingen 2005, S. 1336-1344.
Ders., Die Juden in den Dörfern des Fleckens Salzhemmendorf, Holzminden 2013, 78-115.
Autor: Bernhard Gelderblom, Hameln
Hemmendorf
Vorgeschichte
In dem verkehrsgünstig liegenden Ort war die Zahl der jüdischen Einwohner mit etwa vier Prozent stets recht hoch. Hausbesitz war selten und wurde von der Regierung für Juden erschwert. Ihre eigene Synagoge musste die Gemeinde aufgeben, als die Regierung 1844 Salzhemmendorf als Ort einer zentralen Synagoge und Schule bestimmte. Ein Friedhof befindet sich außerhalb des Ortes in Richtung Salzhemmendorf.
Um 1900 lebten drei jüdische Familien in Hemmendorf, alle in eigenen Häusern an der Hauptstraße, alle Kaufleute.
Max Catzenstein betrieb einen Handel mit Textilien. Nach seinem Tod 1931 verpachtete seine Frau Emilie den Laden. Die Familie war recht wohlhabend. Der gesellschaftliche Kontakt zu den Bewohnern war wenig ausgeprägt. Die inzwischen erwachsenen Kinder hatten den Ort verlassen.
Die Familie Zeckendorf lebte seit vier Generation im Ort. Karl (geb. 1884) übernahm als ältester von fünf Geschwistern das Haus und den Laden mit „Kolonialwaren“ und Textilien. Er war ein kleiner, stämmiger Mann, der mit Fahrrad samt Anhänger über Land fuhr. Mit seiner Frau Frieda (geb. 1889) hatte er eine Tochter, die 1925 geborene Hannelore, auffallend dunkelhaarig wie die Mutter.
Dazu lebten in Hemmendorf zwei unverheiratete Schwestern von Karl, Margarete (geb. 1886) und Thekla (geb. 1890). Thekla war bis 1938 Kontoristin bei der Wesermühle gewesen. Eine weitere Schwester wohnte in Köln. Das fünfte der Geschwister Zeckendorf, Julius Zeckendorf, war im Ersten Weltkrieg gefallen.
Die Familie Adolf Plaut kam 1889 nach Hemmendorf und kaufte damals das Haus 38. Nach dem Tod von Adolf Plaut führte seine Witwe Karoline (geb. 1859) mit der unverheirateten Tochter Klara (geb. 1890) das Textilgeschäft weiter. Die jüngere Tochter Frieda heiratete nach Hannover.
Bereits in der Weimarer Zeit war in Hemmendorf der rechtsstehende antisemitische Tannenbergbund stark vertreten. Mit dem Bauern Karl Voges, geb. 1880 in Sarstedt, wurde im Februar 1934 ein überzeugter Nationalsozialist Gemeindevorsteher.
In den Jahren 1933 bis 1938 machten die Hemmendorfer Juden keine erkennbaren Anstrengungen, auszuwandern. Eine Auswanderung war mit erheblichen Problemen verbunden, die nur in Hannover mit Hilfe von Reisebüros und Rechtsanwälten zu lösen waren.
- Das ehemalige Haus Zeckendorf in einer Nachkriegsaufnahme, undatiert. Sammlung Heise, Hemmendorf
- Gedenkstein für Julius Zeckendorf auf dem Hemmendorfer Kriegerdenkmal an der Kirche, 1989. Foto: Bernhard Gelderblom
- Das ehemalige Haus Plaut, 2009. Foto: Bernhard Gelderblom
Die Ereignisse im November 1938
Laut Zeitzeugen wurden in der Nacht des 9. November 1938 sowohl bei der Familie Plaut wie bei der Familie Zeckendorf die Fensterscheiben eingeworfen; bei Zeckendorf lagen die Stoffproben auf der Straße. Zwei Mitglieder der Familie Voges sollen maßgeblich beteiligt gewesen sein. Eine Zeitzeugin:
„Andere Beteiligte, die man später fragte, ob sie das nötig hätten, so etwas mitzumachen, sollen gesagt haben, sie wären in der Nacht plötzlich rausgeholt, ohne zu wissen, was los war und überhaupt hinterher erst hätten sie begriffen, was da geschehen ist.“
Der 54-jährige Karl Zeckendorf wurde festgenommen und in das KZ Buchenwald deportiert. Karl starb wenige Tage nach seiner Einlieferung am 21. November 1938, laut Totenschein an „Herzschwäche bei allgemeiner Sepsis“, eine Folge der entsetzlichen Zustände, die dort herrschten. Die Ehefrau soll die Urne aus Buchenwald abgeholt haben.
Bürgermeister Voges nutzte die Nacht dazu, sich persönlich zu bereichern. Er nahm den Hemmendorfer Juden ihre Wertsachen ab, einschließlich der Eheringe. Irgendwie war das den Behörden bekannt geworden. Die Zollfahndungsstelle Hannover wies Voges an, die „sichergestellten“ Gold- und Silbersachen ihren Besitzern wieder auszuhändigen.
Auch der Friedhof wurde am 9. November 1938 zerstört. Wesentlich beteiligt waren die beiden führenden Nationalsozialisten des Dorfes, darunter Heinz Voges, Sohn des Bürgermeisters Karl Voges. Die Steine sollen anschließend bei der Kirche gelegen haben.

Der jüdische Friedhof Hemmendorf auf einer Zeichnung von Wilhelm Hauschteck, 1926. Zeitschrift Der Klüt, Jg. 1926
Folgen
Nun lebten nur noch jüdische Frauen im Ort. Am 29. Dezember 1938 wurde Caroline Plaut unter Begleitung ihrer Tochter Klara in das jüdische Krankenhaus in Hannover eingeliefert. Bürgermeister Voges nutzte den Umstand, dass das Haus leer stand, zu einem neuerlichen Raub. Schuldverschreibungen des Deutschen Reiches, Zertifikate der Berliner Hypothekenbank sowie Gold- und Silbersachen wanderten in seinen Besitz. Auch diese Gegenstände musste Voges ein halbes Jahr später auf Weisung der Zollfahndung Hannover zurück erstatten.
Binnen kurzem wurde der jüdische Haus- und Grundbesitz „arisiert“. Das Haus Katzenstein wurde noch 1938 von Bürgermeister Voges gekauft. Er soll damals gleich eingezogen sein. Das Plautsche Haus fand ebenso wie das Zeckendorfsche Haus 1939 einen neuen Besitzer. Der ursprünglich vereinbarte Preis war vom Regierungspräsidenten „als hoch zu beanstandet“ und auf 10.000 RM gesenkt worden. Ein notariell zugesichertes Wohnrecht wurde nicht genehmigt.
Der Kaufpreis ging grundsätzlich auf ein Sperrkonto. Ausgezahlt wurden nur kleine monatliche Beträge, die kaum ermöglichten, das Leben zu fristen. Es ist auch nicht klar, wo die jüdischen Menschen gewohnt haben, nachdem sie ihre Häuser hatten verlassen müssen. Im Frühjahr 1939 – noch lebten Juden in Hemmendorf – gab Bürgermeister Voges den jüdischen Friedhof zur Nutzung als Garten frei.
Am 2. August 1939 – wenige Wochen vor Ausbruch des 2. Weltkrieges – gelang der 78 Jahre alten Emilie Catzenstein die Flucht zu ihrer Tochter Aenny nach Brüssel.
Ende März 1942 wurden die Hemmendorfer Juden deportiert: Klara Plaut, 52 Jahre alt (ihre 83-jährige Mutter war im Januar 1942 im israelitischen Krankenhaus in Hannover gestorben), Margarete Zeckendorf, 65 Jahre alt, und ihre Schwester Thekla Zeckendorf, 61 Jahre alt.
In einem Bollerwagen brachten die Drei ihr Gepäck zum befohlenen Sammelplatz am Rathaus. Dort mussten sie einen LKW besteigen, der auf seiner Runde durch die Dörfer weitere Juden einlud und sie nach Hameln brachte. Der Weg führte sie über Hannover-Ahlem in das völlig überfüllte Ghetto Warschau. Dort verlieren sich ihre Spuren. Das Vermögen der Deportierten galt als „beim Grenzübertritt dem Deutschen Reich verfallen“.
Voges trug unter dem 28. März 1942 drei Namen in das Einwohnermeldebuch ein mit dem Zusatz „zum Osten abgemeldet“. Anschließend wurde der Hausrat der Deportierten öffentlich versteigert. Es gibt Anlass zu vermuten, dass der überwiegende Teil vorher verschwunden war.
Biografie - Hannelore Zeckendorf
Eine Schulfreundin von Hannelore Zeckendorf (geb. 1925) beschreibt sie als „ein hübsches, liebes Mädchen mit einer freundlichen Persönlichkeit, immer fröhlich. Niemals habe sie Dinge für sich allein haben wollen, und immer haben wir uns vertragen und verstanden.“
Das Schicksal des Mädchens hat die Menschen in Hemmendorf noch lange nach dem Krieg beschäftigt. Die Schulfreundin glaubte, dass Hannelore nach England auswandern konnte und dort leben würde. Sie habe immer gehofft, etwas von ihr zu hören und die Hoffnung auch noch nicht aufgegeben. Auch andere in Hemmendorf glaubten dies.
Eine andere Zeitzeugin meint, dass Hannelore zu ihrer Tante nach Köln gegangen sei, weil sie dort zur Schule gehen konnte, ohne belästigt zu werden. Ein Ereignis erschüttert sie bis heute: Ein Puppenspieler führte den Kindern im Dorf ein Märchen vor. Punkt 20 Uhr habe der Dorfpolizist Hannelore nach Hause geschickt. Für Juden galt eine Ausgangssperre. Hannelore soll sehr geweint haben.
Tatsächlich war Hannelore 1937 zu ihrer Tante nach Köln gegangen, hauptsächlich wohl, um den Peinigungen zu entgehen, denen sie in der Schule ausgesetzt war.
Nachdem sie das Haus verkauft hatte, versuchte Hannelores Mutter, Hemmendorf zu verlassen. Auf den Dörfern traf der Judenhass die Menschen viel direkter als in den Städten. 1940 war sie für einen Monat in Hannover gemeldet, kam aber unverrichteter Dinge zurück. Vier Monate hielt sie sich in Peine auf, kam aber wieder zurück. Im April 1941 gelang der Umzug nach Göttingen. Dort wurde sie in der Theaterstraße 26 mit dem Beruf „Hausgehilfin“ gemeldet.
Wenig später gibt es wieder eine Spur von Hannelore. Das inzwischen 16 Jahre alte Mädchen war – von Köln – nach Göttingen gezogen. Seit Mai 1941 wohnte Hannelore als „Hausangestellte“ in der Weender Landstraße 26, einem jüdischen Altersheim, das die Göttinger Stadtverwaltung nun als „Judenhaus“ eingerichtet hatte. Dorthin musste auch ihre Mutter ziehen.
Köln hatte Hannelore verlassen müssen, weil ihre Tante, Selma Grüneberg, bereits im Oktober 1941 ins Ghetto Łódź deportiert worden war. Dort ist ihr Tod für den 4. Mai 1942 bezeugt.
Am 26. März 1942 wurden Mutter und Tochter aus Göttingen deportiert, mit demselben Transport, wie die übrigen Hemmendorfer Juden auch. Sie müssen sich in Ahlem oder spätestens im Ghetto Warschau wieder gesehen haben.
Justizielle Ahndung
Die Hausverkäufe wurden gerichtlich überprüft. In zwei Fällen kam es zu Nachzahlungen. Arthur Catzenstein kam persönlich nach Hemmendorf und setzte die Rückgabe des Hauses durch. Der ehemaligen Bürgermeister Voges soll ein lebenslanges Wohnrecht erhalten haben, das er auch genutzt hat.
Die Wiedergutmachungsverfahren zogen sich jahrelang hin. Wie sollten Deportation und Mord „entschädigt“ werden? Ein Beispiel: Für den Tod von Hannelore zahlte die Bundesrepublik Deutschland den Hinterbliebenen 1543 DM. Maßgeblich waren ihr Alter und ihre letzte berufliche Tätigkeit. Als jugendliche ungelernte Hausangestellte hatte sie nur ein Taschengeld verdient.
Spuren und Gedenken
Der Friedhof wurde etliche Jahre nach Kriegsende an den Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen zurückerstattet. Grabsteine fanden sich nicht mehr an, aber die Einfassung durch aufrecht stehende Sandsteinplatten konnte wieder aufgerichtet werden.
In den 1960er Jahren hat der Landesverband einen Gedenkstein mit Davidstern und Inschrift aufstellen lassen. Der Friedhof ist nun das letzte Zeugnis des 250 Jahre langen jüdischen Lebens im Ort Hemmendorf.
Ein Vortrag von Bernhard Gelderblom am 10. November 2009 gab den ersten Anstoß zu einer Beschäftigung mit dem Thema „Jüdisches Leben in Hemmendorf“. Es folgte 2011 die Aufstellung einer Erinnerungstafel auf dem Friedhof. Am 19. April 2016 legte Gunter Demnig Stolpersteine.
- Die vom Ortsrat auf dem Friedhof aufgestellte Erinnerungstafel, 2011. Foto: Bernhard Gelderblom
- Sechs Stolpersteine für die Familie Zeckendorf, 2019. Foto: Bernhard Gelderblom
Weiterführende Literatur und Links
Gelderblom, Bernhard, Salzhemmendorf, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bde., Göttingen 2005, S. 1336-1344.
Ders., Die Juden in den Dörfern des Fleckens Salzhemmendorf, Holzminden 2013, S. 117-161.
Der jüdische Friedhof Hemmendorf
Autor: Bernhard Gelderblom, Hameln
Hehlen
Vorgeschichte
Der Anteil der jüdischen Bevölkerung war in Hehlen relativ hoch. Im Jahre 1774 gab es in Hehlen bei einer Einwohnerzahl von 536 Personen drei jüdische Familien, 1829 zählte man bei 899 Einwohnern 44 Juden.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Hehlener Juden in einem raschen wirtschaftlichen Aufstieg begriffen. Fast alle besaßen Häuser und unterhielten darin ein Ladengeschäft. Um 1875 hatte die Gemeinde einen Lehrer angestellt und verfügte über ein angemietetes Bethaus und ein Schullokal.
Wie in vielen ländlichen Gemeinden sank die Zahl der Gemeindemitglieder nach der Jahrhundertwende stark ab. Die Synagoge wurde geschlossen.
Ab 1900 lebten nur noch Mitglieder der Familie Bach in Hehlen. Mit den Brüdern David (geb. 1857) und Alex (geb. 1868) Bach nahm das jüdische Leben in Hehlen jedoch noch einmal einen ungeahnten Aufschwung.
Die Brüder David Bach und Alex Bach beschäftigten in ihren Textilgeschäften neben ihren Söhnen zahlreiche (bis zu elf) in der Regel jüdische Angestellte. Beide Geschäfte verfolgten ein ähnliches Konzept. Neben dem Ladenverkauf stand als zweite Säule der Verkauf durch Reisende in den umliegenden Dörfern. Die Brüder hatten die Dörfer unter sich aufgeteilt.
Sie hatten auch die Fahne des SPD-Ortsvereins gestiftet. Offenkundig stammte die Käuferschaft der Bachs eher aus dem in Hehlen starken Arbeitermilieu.
Seit den dreißiger Jahren war nicht mehr die SPD, sondern die NSDAP stärkste Partei im Ort und stellte mit dem Sattlermeister Kreibaum den Ortsgruppenleiter und Gemeindevorsteher. In einem „Stürmer“-Kasten veröffentlichte die NSDAP Denunziationen. Im Dezember 1938 war dort beispielsweise zu lesen:
„Frau Bertelsmeier, Nr. 154 und Frau Ebeling, Haus Nr. 98, beide in Hehlen a. Weser, hielten gute Freundschaften mit Juden.“
Nach 1933 liefen die Geschäfte trotz aller Behinderungen weiter. Hehlener gingen zu Bach, wenn es dunkel war, Auswärtige kamen auch tagsüber. Anders als das Ladengeschäft war der Direktverkauf in den Dörfern nur schwer zu unterbinden.
Im Oktober 1938 verkaufte David Bach sein Geschäft an den aus Fallingbostel kommenden Kaufmann Hans Seemann. Wenige Tage später verließ er mit seiner Familie den Ort. Die Prüfung des Kaufvertrags zog sich über ein Jahr hin. Am Ende wurde der verabredete Kaufpreis von 25.000 RM um 5.200 RM gedrückt. Das Geld war auf ein Sicherungskonto einzuzahlen und der Devisenüberwachung anzuzeigen.
- Bauzeichnung des von Alex Bach errichteten Wohn- und Geschäftshauses, 1907. Sammlung Bernhard Gelderblom
- Geschäftshaus von Hans Seemann, vormals David Bach, undatiert. Verein für Heimatpflege und Regionalgeschichte Hehlen
Die Ereignisse im November 1938
Um 3 Uhr am Morgen des 10. November 1938 rief der NS-Kreispropagandaleiter und spätere Landrat August Laue aus Holzminden Bürgermeister Theodor Kreibaum an, er solle die Juden des Ortes festnehmen und binnen einer Stunde Vollzug melden.
Friedrich Helmer, dem stellvertretenden Bürgermeister und Stellmachermeister Karl Reese, dem Hauptlehrer H. Stapel, dem Forstaufseher sowie dem Eisenbahnassistenten, verschaffte er sich bei Alex Bach gewaltsam Einlass.
Vater, Mutter, die beiden Söhne Kurt und Arthur, das Hausmädchen Lieselotte Eichengrün und der Angestellte Kurt Buchheim wurden aus den Betten gerissen und in das Feuerwehrspritzenhaus getrieben. Das Spritzenhaus war ein kleines Kabuff mit etwas Stroh, aber ohne Toilette. Dort mussten sie – nur notdürftig bekleidet – ein oder zwei Nächte verbringen. Nachbarn halfen heimlich mit Decken und Essen.
Das Geschäft wurde von der Einwohnerschaft geplündert, die drei großen Schaufenster gingen zu Bruch. SS-Leute schafften Kurt und Arthur Bach sowie Kurt Buchheim auf einem offenen Lastwagen nach Holzminden; von dort wurden sie in das KZ Buchenwald transportiert.
Das Geschäft wurde geschlossen, das Warenlager, soweit nicht geplündert, beschlagnahmt und bei der NSV in Holzminden sichergestellt.
Übrigens ist auch das Geschäft von David Bach, der sich mit seiner Familie in diesen Tagen nicht in Hehlen aufhielt, in dieser Nacht geplündert worden, nachdem mit Zuckerrüben die Schaufenster eingeworfen worden waren.

Wohn- und Geschäftshaus von Alex Bach, Hauptstraße 50, 1998. Das stattliche Haus von Alex Bach wurde um das Jahr 2000 abgerissen. David Bachs Geschäftshaus verschwand im Zuge des Ausbaues der Ortsdurchfahrt im Jahre 1972. Foto: Bernhard Gelderblom
Folgen
Die beiden Söhne von Alex Bach kehrten erst im März 1939 aus Buchenwald zurück und wanderten einen Monat später über Holland nach Bolivien aus. Dabei gelang es ihnen, die kostbare Thorarolle aus der ehemaligen Hehlener Synagoge, die Alex Bach am 10. November 1938 hatte verstecken können, bei ihrer Auswanderung mitzunehmen.
Die Eltern blieben allein zurück. Um die Auswanderung finanzieren zu können, musste Alex Bach Haus und Grundstück verkaufen. Als er Ende April 1939 mit dem Hehlener Fabrikanten Asmus einen Käufer gefunden hatte, verhinderte das Braunschweigische Innenministerium auf Intervention von Bürgermeister Kreibaum den Verkauf. Wegen seiner „Judenfreundlichkeit“ war Asmus angeblich kein „politisch und aktiv zuverlässiger Volksgenosse“. Bach musste letztlich einem niedrigeren Kaufangebot des Sattlermeisters Theodor Kreibaum bzw. der Gemeinde Hehlen zustimmen.
Trotz weiterer Schikanen gelang dem 72-Jährigen und seiner Frau im März 1940 die Ausreise nach Bolivien. Mit ihm, so meldete der Bürgermeister, „ist der letzte Jude ausgewandert“. Die jüdische Gemeinde Hehlen wurde aus dem Vereinsregister gestrichen.
David Bach war bereits im Februar oder März 1939 zusammen mit seiner Ehefrau Ida, Sohn Alfred mit Ehefrau Betty und dessen Kind Günther über Bremerhaven die Auswanderung nach New York gelungen. David war damals 82 Jahre alt.
Der jüdische Friedhof, der im November 1938 von Zerstörung verschont blieb, wurde wenig später vermutlich von Mitgliedern der Hehlener SA verwüstet.
- Arthur Bach, undatiert. Sammlung Bernhard Gelderblom
- Kurt Bach, undatiert. Sammlung Bernhard Gelderblom
Justizielle Ahndung
Nach dem Kriege kämpften die Söhne von Alex Bach in einem 13 Jahre dauernden Rechtsstreit um Wiedergutmachung für die erlittenen Schäden während der Pogromnacht. Schon im Juni 1946 stellte Kurt Bach eine Anklageschrift zusammen; zwei Jahre später erhob die Staatsanwaltschaft gegen zehn Hehlener Einwohner Anklage. Das erste Urteil des Hildesheimer Schwurgerichts vom 30. November 1948 wurde vom Obersten Gerichtshof für die britische Zone wegen zu milder Strafen aufgehoben. 1950 stellte das Landgericht Hildesheim das Verfahren jedoch ein.
1955 klagten die Opfer selbst. Im Prozess schoben alle beteiligten früheren SA-Leute die Plünderungen auf die SS. Solange sie zuständig gewesen seien, sei alles ordnungsgemäß verlaufen. Die vor dem Laden aufgestellten Wachen hätten nichts bemerkt. Kreibaum hätte ja durch das Wacheaufstellen Plünderungen gerade verhindern wollen. Die Klage wurde abgewiesen, da die Kläger nach Meinung des Gerichts die Plünderungen nicht nachzuweisen vermochten.
Erst Ende 1959 stellte das Oberlandesgericht Celle eindeutig die Schuld des ehemaligen Bürgermeisters Kreibaum fest.
Spuren und Gedenken
Das 198 qm große Gelände des Friedhofs wurde nach 1945 wieder hergerichtet; von den noch vorhandenen 21 Steinen sind mehrere stark beschädigt, teilweise beim Umstürzen zerbrochen und fehlerhaft wieder aufgestellt worden. Der Friedhof gehörte ab 1953 der Jewish Trust Corporation, seit 1960 dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen.
Die Erinnerung an das Geschehen spaltete das Dorf in zwei Parteien und verhinderte lange eine Befassung mit dem Thema. Am 16. März 1999 fand eine von den Landfrauen Hehlen organisierte Vortragsveranstaltung mit Bernhard Gelderblom statt. Seitdem bemühte sich auch der Verein für Heimatpflege und Regionalgeschichte Hehlen darum, die Erinnerung an die ehemaligen Hehlener Juden wach zu halten.
1986 übergaben Kurt und Arthur Bach die Hehlener Thorarolle der Synagoge der Militärakademie West Point (New York), wo sie zusammen mit einer Plakette „Saved from the Holocaust by their father, Alex Bach“ ausgestellt ist.
Eine zweite Thorarolle, die Alex Bach vor seiner Flucht aus Deutschland einem Hehlener Lederfabrikanten zur Aufbewahrung anvertraut hatte, wurde am 25. Juni 2011 vom Verfasser dem Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen übergeben.
Weiterführende Literatur und Links
Gelderblom, Bernhard, Jüdisches Leben im mittleren Weserraum zwischen Hehlen und Polle. Von den Anfängen im 14. Jahrhundert bis zu seiner Vernichtung in der nationalsozialistischen Zeit. Ein Gedenkbuch, Holzminden 2003, S. 105-177.
Ders., Hehlen, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bde., Göttingen 2005, S. 816-820.
Kuessner, Dietrich, Die Pogromnacht im Land Braunschweig, in: „Kristallnacht“ und Antisemitismus im Braunschweiger Land. Drei Vorträge im November 1988. Büddenstedt-Offleben 1988 (Arbeiten zur Geschichte der Braunschweigischen ev.-luth. Landeskirche im 19. und 20. Jahrhundert 6), S. 7-35.
Zur Geschichte der Juden in Hameln und in der Umgebung: Der jüdische Friedhof in Hehlen